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Steht Sachsen vor der De-Industrialisierung?

Mehrere große Firmen haben in Sachsen im vorigen Jahr Personal entlassen, ihr Geschäft eingeschränkt oder sind insolvent. Ist das Strukturwandel? Oder schon De-Industrialisierung?

Von Ulrich Wolf & Luisa Zenker
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Allein das Aus für das Maja-Möbelwerk in Wittichenau bedeutete den Wegfall von 450 Jobs.
Allein das Aus für das Maja-Möbelwerk in Wittichenau bedeutete den Wegfall von 450 Jobs. © Foto: SZ-Archiv

Dresden. In Sachsen sind 14 größere Unternehmen im vorigen Jahr in eine schwere Krise geraten. Die meisten gingen pleite oder schlossen ihre sächsischen Standorte. Fünf von ihnen wurden durch Übernahmen oder Stellenabbau saniert. Das geht aus einer Analyse der Denkfabrik Grantiro mit Sitz in Wien und Niederlassung in Görlitz sowie einer Auswertung von Sächsische.de hervor.

In Sachsen gab es nach Angaben des Statistischen Landesamtes Ende September vorigen Jahres 1.258 Betriebe im Verarbeitenden Gewerbe mit mehr als 100 Beschäftigten. 582 davon haben ihren Firmensitz in Sachsen, die anderen sind "rechtlich unselbstständige" Niederlassungen.

Wie viele Jobs durch die Krisen verloren gehen

Durch die Krisen der sächsischen Industriebetriebe seien 1.040 Jobs verloren gegangen, heißt es in der Grantiro-Analyse. Allein 450 Arbeitsplätze kostete die Schließung des Maja-Möbelwerks in Wittichenau. Jeweils zwischen 100 und 200 Stellen fielen weg durch Produktionsstilllegungen beim Waggonbau Niesky, beim Windkraftspezialisten Eickhoff in Klipphausen und beim Getriebehersteller Zimm Germany GmbH in Ohorn.

In Zwickau läuft noch bis 2026 die Abwicklung des Gelenkwellenproduzenten GKN Driveline mit mehr als 800 Jobs. Jüngstes Sorgenkind ist der erzgebirgische Leiterpleitenhersteller KSG Gornsdorf. Dessen 680 Beschäftigten sind einem Bericht der Freien Presse zufolge bereits seit September in Kurzarbeit.

Was auf eine schleichende De-Industrialisierung hindeutet

Für den Autor der Studie, den Ökonomen und Leiter der Görlitzer Niederlassung Johannes Sauerwein, ist das eine beginnende De-Industrialisierung. "Ich verstehe darunter Standortverkleinerungen, Massenentlassungen, Patentverluste, Industrieverlagerungen ins Ausland und Standortschließungen", sagte er. Gründe seien unter anderen die Corona-Folgen, die Entwicklung in China, die US-Subventionspolitik, hohe Energiekosten, der Krieg in der Ukraine. Der Einsatz künstlicher Intelligenz mache vermehrt Arbeitsplätze überflüssig. Zudem hätten sich die Werte der jüngeren Generation geändert. Die fordere nicht nur flexiblere und kürzere Arbeitszeiten sowie mehr Sinnhaftigkeit ein, sondern sei auch skeptisch gegenüber klimaschädigenden Industriebetrieben.

Zuvor hatte bereits die Industriegewerkschaft Metall vor einer "schleichenden De-Industrialisierung" gewarnt. Der Bund der Deutschen Industrie (BDI) spricht von einem „Bröckeln des deutschen Wirtschaftsfundaments“. Einer Auftragsstudie des BDI zufolge verlagerten bereits zwei Drittel von mehr als 100 befragten Mitgliedsunternehmen Teile ihrer Wertschöpfung ins Ausland, vor allem wegen der Energiekosten.

Welche Kriterien für einen Strukturwandel sprechen

Der Politikberater und Wirtschaftswissenschaftler Joachim Ragnitz vom Ifo-Institut in Dresden ordnet die jüngsten Tendenzen anders ein. Er spricht von einem „Strukturwandel“. Unternehmen mit nicht mehr funktionierendem Geschäftsmodellen wie energiekostenintensive Industrien schrumpften derzeit "schlagartig". Das sei nicht weiter problematisch, solange neue Stellen entstünden. Tatsächlich sollen allein durch die Chipindustrie allein in der Region Dresden 20.000 neue Jobs bis 2030 entstehen.

Eine auffällige Zunahme von Insolvenzen seit dem vorigen Herbst ist zudem bei kleineren sächsischen Maschinen- und Anlagebauern festzustellen. Der Verband der ostdeutschen Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) interpretiert das zwar nicht als Pleitewelle, sieht seine Betriebe aber „in rauer See“. Die Ursachen seien "vielfältige geopolitische Risiken, schwache Auftragslage und wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen".

Woher die ausländischen Investoren kommen

Unter diesen Unternehmen findet sich der Automobilzulieferer Aluchrom Oberflächentechnik mit 35 Beschäftigen in Wolkenstein im Erzgebirge. Es ist insolvent, Grund soll die einseitige Ausrichtung der Firma auf Volkswagen gewesen sein. Nachdem VW die Verträge gekündigt hatte, brach der Umsatz ein. Dennoch wagt ein bisheriger Aluchrom-Manager einen Reset, seine neue Firma hat allerdings nur noch 14 Mitarbeiter.

Vorerst gerettet sind die Firmen S-Tec Anlagenbau GmbH und H+E Pharma GmbH in Klipphausen im Landkreis Meißen. Sie gehören nach ihrer im November bekanntgewordenen Insolvenz inzwischen zur Holding BW Group mit Sitz auf Bermuda. Details, die zum Eigentümerwechsel geführt haben, wollte das Unternehmen auf Anfrage nicht nennen.

Neue Gesellschafter fernab von Sachsen sind inzwischen keine Seltenheit mehr beim Versuch, durch eine Insolvenz einen Neuanfang zu wagen. So ging die Fluorchemie Dohna GmbH in der Sächsischen Schweiz an einen Investor aus Kasachstan. Das kriselnde Colditzer Chemikalienwerk Ferro GmbH gehört einer US-Investmentholding. Im wohl ältesten Unternehmen Sachsens, dem Eisenwerk Erla mit 300 Jobs, haben nach dreimonatiger Insolvenzphase weiterhin Inder das Sagen. Den seit März 2023 zahlungsunfähigen Textilmaschinenhersteller Terrot in Chemnitz übernahmen Chinesen.

Warum die Alstom-Werke in Bautzen und Görlitz wackeln

Nicht mit neuen Investoren, sondern mit Stellenkürzungen versucht etwa die Volkswagen Sachsen GmbH, Schwierigkeiten zu überwinden. Dort laufen nun 270 befristete Jobs aus. Beim Bahnfahrzeugbauer Alstom mit den erst 2021 übernommenen Werken in Bautzen und Görlitz verhinderte ein neuer Tarifvertrag den Abbau von 550 Jobs.

Grantiro-Ökonom Sauerwein sieht deshalb aber die beiden Standorte in der Lausitz keineswegs als gesichert an. Die Alstom-Zentrale überlege weiterhin, die Werke dort zu veräußern, behauptet er in seiner Studie. "Wir kennen die Keywords, die darauf hindeuten, dass eine Schließung intern diskutiert wird", sagt er. Beispiele seien Formulierungen wie "Arbeitssicherung je nach konjunktureller Lage" oder „Entwicklung zum Innovationsstandort“.

Also doch De-Industrialisierung? Ifo-Mann Ragnitz widerspricht. Natürlich gebe es große Herausforderungen für sächsische Industrieunternehmen, sagt er. Etwa Arbeitskräftemangel, Energiepreise, Konkurrenzdruck. „Aber die gab es schon immer und wird es auch immer geben.“ Deshalb solle man nicht „das Gespenst der De-Industrialisierung an die Wand malen“.

Weshalb neue Betriebskonzepte Zeit benötigen

Sauerwein hingegen betont, er und seine Mitstreiter kämen „alle aus dem Insolvenzgeschäft“. Da gehe es fast immer um Stellenabbau, Verkauf an Investoren oder das Zurechtstutzen auf eine machbare Größe des Unternehmens. Grantiro versuche, den De-Industrialisierungstendenzen zu begegnen mit Idee für neue Produkte am betroffenen Standort.

So habe man für den Windrad-Zulieferer Eickhoff in Klipphausen und die Waggonbauer in Niesky Ideen entwickelt, um die Betriebsschließungen zu verhindern. Das sei jedoch – anders als beim bayerischen Leuchtenproduzenten Ledvance oder dem norddeutschen Fotochemiehersteller Tetenal – am Zeitmangel gescheitert.