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Hauptsache Abitur – warum das der falsche Gedanke ist

Immer mehr Eltern in Großstädten schicken ihre Kinder auf Schulen, für die diese nicht geeignet sind. Es ist höchste Zeit, dass wir das Gymnasium entzaubern.

Von Johanna Lemke
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Ungeachtet der Tatsache, dass die Wirtschaft händeringend nach jungen Handwerkerinnen, Servicekräften und Technikfreaks sucht, sitzt das Bild fest: Nur wer Abi hat, kann was werden.
Ungeachtet der Tatsache, dass die Wirtschaft händeringend nach jungen Handwerkerinnen, Servicekräften und Technikfreaks sucht, sitzt das Bild fest: Nur wer Abi hat, kann was werden. © dpa

Das Gymnasium in Dresden Pieschen ist die beliebteste Schule der Landeshauptstadt. 246 Eltern meldeten ihr Kind für die kommende fünfte Klasse an – das sind weit mehr, als es Plätze gibt. Die Schule ist neu, ein moderner Bau mit einem innovativen Konzept – das kommt gut bei Eltern an. Doch auch andere Gymnasien in Dresden werden förmlich überrannt.

Über die vergangenen Jahre sind die Anmeldungen an Gymnasien in Dresden immer mehr gestiegen. In diesem Jahr meldete nur gut ein Drittel der Familien ihre jetzigen Viertklässler auf einer staatlichen Oberschule an. Viele Anmeldungen erhielten auch die beiden Dresdner Gemeinschaftsschulen, auf denen Kinder aller Leistungsstufen gemeinsam lernen und erst später nach individuellem Niveau aufgeteilt werden. Auch die Privatschulen können sich nicht vor Bewerbern retten. Lieber zahlen als Oberschule, so lautet das Credo derjenigen, die es sich leisten können.

Während es im ländlichen Raum seit Jahren eine stabile Hälfte-Hälfte-Verteilung auf Oberschulen und Gymnasien gibt – dort wird oft pragmatisch nach Wohnortnähe entschieden –, wollen viele Familien in den Großstädten ihre Kinder auf keinen Fall auf Oberschulen lernen lassen. Das ist aus mehreren Gründen problematisch.

Unzeitgemäße Verklärung des Gymnasiums

Als in Sachsen Mittelschulen in Oberschulen umbenannt wurden, geschah dies in der Hoffnung, dass auch der Ruf dieser Schulen wachsen möge. Die Hoffnung hat sich nicht erfüllt. Viele halten Oberschulen nicht für gute Orte für ihr Kind. In manchen Stadtteilen mag da etwas dran sein: Dort haben Oberschüler in ihren Familien vielleicht Gewalt erfahren oder bringen Fluchtgeschichte mit. Manchmal gibt es viele Schüler, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. In diesen Gegenden haben die Lehrkräfte viel zu leisten.

Verständlicherweise sorgen sich Eltern, ihr vielleicht nicht super leistungsstarkes, aber doch wissbegieriges Kind könne in so einem Klima untergehen. Doch zugleich wird durch die Oberschulflucht ein Teufelskreis verstärkt: Je mehr "mittelgute" Kinder auf Gymnasien gedrängt werden, desto mehr sinkt das Niveau an Oberschulen.

Es gibt noch einen weiteren Grund für die Furcht vor der Oberschule: die unzeitgemäße Verklärung des Gymnasiums.

"Viel bringt viel" ist überholt

In Großstädten leben verhältnismäßig viele Menschen jener Gesellschaftsschicht, der in Studien starke Abstiegsängste nachgewiesen werden – obwohl sie faktisch am sichersten im Sattel sitzen. Für sie scheint es das Nonplusultra zu sein, dass ihr Kind Abitur macht und später studiert. Ungeachtet der Tatsache, dass die Wirtschaft händeringend nach jungen Handwerkerinnen, Servicekräften und Technikfreaks sucht, die nicht jahrelang studiert haben, sitzt das Bild fest: Nur wer Abi hat, kann was werden.

Das geht so weit, dass sich Eltern über die Einschätzung der Lehrkräfte hinwegsetzen: Fast 200 Kinder wurden in diesem Jahr an Dresdner Gymnasien angemeldet, obwohl sie keine Gymnasialempfehlung bekommen haben. Ein Höchststand.

Was dann passiert? Im schlimmsten Fall Überforderung. Zur Erinnerung: Die jetzigen Viertklässler wurden mitten in der Pandemie eingeschult, haben mehrere Schulschließungen erlebt und laut Fachleuten teilweise gravierende Lern- sowie soziale Rückstände. Die Gymnasien reagieren darauf vielerorts mit mehr Druck anstatt mit Anpassung der Lehrmethoden. Sicher gibt es Gymnasien, deren Unterricht zeitgemäß ist, doch der vollkommen überholte Ansatz "Viel bringt viel" ist oft dominierend. Er ignoriert, dass die veränderte Arbeitswelt ganz neue Kompetenzen erfordert. Anstatt Kinder fit zu machen, komplexe Probleme zu lösen, wird an Gymnasien weiterhin Stoff reingepaukt, als gäbe es kein Ende. Und die Lehrkräfte haben innerhalb des sächsischen Lehrplans wenig Spielraum, dies zu ändern.

Niemand will sein Kind auf eine "Problem"-Schule schicken

"So krassen Leistungsdruck wie jetzt habe ich noch nie gesehen", sagte die Schulsozialarbeiterin Anja Stephan diese Woche in der Sächsischen Zeitung. Schon Fünftklässler seien überfordert vom Schulstoff, auch die Eltern machten Druck. Depressionen und Schulverweigerung sind die Folge. Vielen Eltern scheint das Gefühl dafür verloren gegangen zu sein, auf welchem Niveau ihr Kind sicher und ohne Bauchschmerzen lernen kann – Hauptsache, Abitur!

Die Lösung des Problems kann nicht allein bei den Eltern liegen. Niemand möchte sein Kind auf eine "Problem"-Oberschule schicken. Darum muss die Bildungspolitik im Freistaat diese Schulen endlich massiv gut ausstatten – ein einziger Schulsozialarbeiter, der einer Oberschule zusteht, ist viel zu wenig. Es braucht dringend mehr Personal, damit eine Lehrerin nicht erst einmal soziale Probleme in der Klasse lösen muss, bevor sie mit den binomischen Formeln überhaupt beginnen kann.

Gleichzeitig sollten sich alle Eltern fragen: Wie viel schädlicher als ein vermeintlich minderwertiger Realschulabschluss ist zu großer Leistungsdruck? Welchen Schaden nimmt die Seele meines Kindes, wenn es allzu oft die Erfahrung von Scheitern macht?

Und wer weiß: Vielleicht ist die Oberschule um die Ecke ja doch ganz gut. Zumindest ansehen könnte man sie mal.