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Die Hoffnung auf den Härtefall

Monika hat Myasthenie. Die Erkrankung erhöht das Sterberisiko durch Corona, trotzdem fallen Betroffene durch das Impf-Raster. Bringt eine neue Regelung Rettung?

Von Franziska Klemenz
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Schmerzen begleiten Monika seit Jahrzehnten. Lebensqualität empfindet sie trotzdem. Am liebsten spaziert sie durch den Großen Garten in Dresden und beobachtet die Natur.
Schmerzen begleiten Monika seit Jahrzehnten. Lebensqualität empfindet sie trotzdem. Am liebsten spaziert sie durch den Großen Garten in Dresden und beobachtet die Natur. © Matthias Rietschel

Heute ist ein guter Tag. Monika wackelt durch den Großen Garten, grinst durch ihre Zahnlücke die Enten an, mustert die Spiegelung im See. An schlechten Tagen sammelt die Dresdnerin 20 Minuten lang Energie, ehe sie aufstehen kann. „An guten Tagen kann ich 500 Meter weit spazieren gehen, wenn ich alle 50 eine kleine Pause mache.“ Monika leidet an Myasthenie, einer seltenen Autoimmun-Krankheit, bei der Impulse zwischen Nerv und Muskel nicht richtig übertragen werden. Die Muskelschwäche führt zu hängenden Lidern und Kraftlosigkeit, oft schädigt sie die Atmung. Monika fällt auch das Schlucken schwer, Muskelschmerzen begleiten sie täglich.

„Ich nenne das das Gebüsch-Gefühl“, sagt die 59-Jährige. „Ich fühle mich, als wäre ich aus dem zweiten Stock in ein Gebüsch gefallen.“ Der Körper ist nicht sichtbar verletzt. Aber er schmerzt. Das Gefühl kennt Monika seit 30 Jahren. Anfangs kam es alle paar Tage. Jetzt fast ständig.

Myastheniker haben schon ohne Corona oft Atemprobleme, auf zusätzliche Medikamente reagieren sie sensibel. Die Wahrscheinlichkeit, an Corona zu sterben, ist bei Betroffenen viel höher als beim Durchschnitt ihrer Altersgruppe, selbst höher als bei gesunden 80-Jährigen. Nach dem Priorisierungsplan der Bundesregierung kommen Autoimmun-Erkrankte erst an dritter Stelle vor. Wegen des erhöhten Risikos kommt es Monika nicht gerecht vor, dass sie nicht früher geimpft werden soll. „Ich bin auf überhaupt niemanden neidisch, gönne jedem die Impfung von Herzen“, sagt sie. „Ich wäre nur einfach auch gerne endlich mal dran.“

Seit einem Jahr weitgehend isoliert

Seit dem Beginn der Pandemie hat Monika sich weitgehend isoliert. Die Gottesdienste der freien evangelischen Gemeinde hat sie fast ausschließlich per Livestream besucht, Menschen nur draußen getroffen, in Innenräumen begegnet sie nur noch Therapeuten, auf die sie nicht verzichten kann. Ohne Physiotherapie verspannen die Muskeln, werden hart. „Auch dieses Jahr war ich schon dort, aber mit einem mulmigen Gefühl – was nicht günstig ist, denn man soll sich ja eigentlich entspannen.“

Monika hat sich auf eine Bank mit Seeblick sinken lassen. Die Hände hat sie vor ihrem himbeereisfarbenen Pullover gefaltet, die braun melierten Haare schweben im Wind, manchmal verengt die Sonne ihre Augen. „Ich habe Bedenken gegenüber Corona“, sagt sie. „Ich kann trotzdem fröhlich leben, aber muss eben sehr aufpassen.“

Die Diagnose Myasthenie hat Monika vor gut vier Jahren bekommen. Angefangen haben die Beschwerden 40 Jahre zuvor. In der frühen Jugend ist sie sehr sportlich, nimmt in der DDR an Wettkämpfen teil: Basketball, Skilanglauf. In ihrem 16. Lebensjahr der Einschnitt. Monika kämpft plötzlich gegen die Note Fünf in Sport, ist die Letzte im Ziel oder erreicht es gar nicht. „Ich konnte nicht mehr rennen, konnte kein Spiel mehr durchhalten.“

Rentenbeginn mit 51

Ihren Traumjob lernt Monika trotz der Krankheit, doch er verlangt ihr mehr Kraft ab, als sie hat. „In meinem Berufsleben als Ärztin war ich immer am Anschlag und habe mich gefragt, wie andere den Tag durchhalten.“ Seit sie Ende 30 ist, schmerzen Monikas Muskeln. Bei Außendiensten hält sie nur wenige Fahrten durch, ehe das Schalten ihre Hände überlastet. Sie reduziert auf drei Viertel, dann auf die halbe Arbeitszeit. Mit 51 Jahren geht Monika in Rente.

Lange heißt es, sie habe keine Myasthenie, nach Lehrbüchern müsse sie sonst schmerzfrei sein. „Aber ich habe noch keinen Myastheniker gefunden, der keine Schmerzen hat. Die Muskelanteile, die nicht von der Krankheit befallen sind, müssen den Ausfall ausgleichen und verspannen dadurch.“ Myasthenie ist eine seltene Krankheit mit vielen Formen, oft kennen Patientinnen sie besser als Ärzte. Der Statistik nach leidet einer von 10.000 Menschen daran, Fachleute gehen in Deutschland von 8.000 bis 12.000 Betroffenen aus.

Woher die Krankheit kommt, ist bis heute nicht geklärt. Manche vermuten, dass Infektionen der Auslöser sein könnten. „Es ist extrem hilfreich, dass ich selber Ärztin war“, sagt Monika. „Es ist schon von großem Vorteil, über bestimmte Möglichkeiten der Therapie und über Zusammenhänge besser Bescheid zu wissen.“

Neurologin Ulrike Reuner behandelt seit 30 Jahren am Dresdner Uniklinikum die besonders schweren Myasthenie-Fälle. Sie mussten schon vor Corona häufig beatmet werden. Die Myasthenie reagiere schnell negativ auf Einflüsse von außen, sagt die Ärztin. Auch unabhängig von Covid verfallen ihre Patienten immer wieder in lebensbedrohliche, myasthenische Krisen. „Die Myasthenie kann sich wie eine Diva verhalten. Selbst, wenn alle alles richtig machen, können bedrohliche Zustandsverschlechterungen eintreten, insbesondere bei zusätzlichen Erkrankungen oder Stress jedweder Art.“ Auch Medikamente wie Antibiotika können den Zustand verschlimmern. „Stellt man sich nun vor, dass unsere Patientinnen und Patienten zusätzlich eine Covid-Erkrankung bekommen, kann das dramatische bis tödliche Folgen haben.“

Bei Betroffenen mit der „Augenform“, bei denen die Krankheit vor allem hängende Lider verursacht, sei die dritte Impfstufe in Ordnung. Andere müssten höher priorisiert werden. Dazu rät auch der ärztliche Beirat der Deutschen Myasthenie-Gesellschaft (DMG). Jeder weitere Tag, jedes weitere Infektionsrisiko birgt die Gefahr, Leben zu verlieren.

Marcel Welk, ein Patient des Uniklinikums, bangte mehrfach um sein Leben. Wie Monika war er in seiner Jugend sportlich, trainierte für Schwimm-Meisterschaften, war Rettungsschwimmer. Mit 17 traten plötzlich Symptome auf, die Beine erschlafften, er wurde immer schneller müde. Oberärztin Reuner betreut Welk, der inzwischen 35 Jahre alt ist, fast seit Beginn der Krankheit. Mehrmals musste sie ihn künstlich beatmen lassen, zwischenzeitlich saß er im Rollstuhl. Oft bezieht die Ärztin andere Fachbereiche ein, um über die komplexe Krankheit zu beraten. Heilen lässt sich eine Myasthenie bislang nicht, Medikamente können sie mildern.

Medikamente in rauhen Mengen

Monika fischt eine Box aus ihrem Rucksack und schüttelt sie, bunte Pillen schlagen gegen die Plastikwand, es klappert. 23 Tabletten, einige davon zur Unterdrückung des Immunsystems, plus Tropfen und Salben braucht Monika jeden Tag. Gegen die Myasthenie und rund 20 weitere Krankheiten: Rheuma, eine Schilddrüse, die nicht richtig funktioniert. Auch mehrere Tumore wurden ihr schon entfernt, dabei verträgt Monika durch die Myasthenie keine Narkotika, kriegt keine Luft mehr. Operationen sind jedes Mal ein Risiko. Der Geruch von Pommes liegt in der Luft, ein Schwan greift eine Ente an, die kreischt und keift. Monika lacht laut los, sucht nach der Quelle des Krawalls. Der aufgewühlte See beruhigt sich, spiegelt die Triebe Weiden und den blauen Himmel, über den sich milchige Wolken ziehen. „Ich bin ein optimistischer Typ, der vieles wegstecken kann“, sagt Monika. „Ich entdecke immer noch das Schöne im Leben: Spaziergänge, an die Ostsee fahren, die Kleinigkeiten in der Natur.“

Der Große Garten gehört zu Monikas liebsten Orten. „Das ist herrlich“, sagt sie. „Ich kann mich in den winzigsten Kleinigkeiten verlieren, mir eine Stunde lang die Blätter angucken.“ Lebensqualität empfinde Monika trotz der Krankheiten. Auch durch den Glauben, der „einen großen Sinn“ im Leben gebe. „Es hat keinen Zweck, wenn ich wegen meiner Krankheiten verbittere, ich muss das Beste daraus machen. Ich ärgere mich nur manchmal, wenn Leute eine Krankheit davon haben und wahnsinnig klagen. Ich würde so viel dafür machen, wenn ich nur eine hätte. In der Impfanmeldung steht: Haben Sie eine dieser Krankheiten? Ich müsste schreiben: Nein, ich habe fünf davon. Das wird gar nicht berücksichtigt, das ist völlig am Leben vorbei.“

Lebensqualität empfinde Monika trotz der Krankheiten, etwa beim Tiere beobachten im Großer Garten
Lebensqualität empfinde Monika trotz der Krankheiten, etwa beim Tiere beobachten im Großer Garten © Matthias Rietschel

Monika lebt allein. „Ich bräuchte Unterstützung, aber es ist schwierig, das richtige Angebot zu finden.“ Die meisten Menschen in Monikas Umfeld wissen nichts von ihren Krankheiten. „Es tut manchmal weh, wenn Leute sehen, dass ich den Fahrstuhl nehme und das bewerten. Ich weiß: Wenn ich die Etage laufe, kann ich heute was anderes nicht mehr machen. Man hat nur ein bestimmtes Kontingent an Kraft.“

Mit der Aussicht auf Impfungen erscheint für Monika im Herbst 2020 ein „großer Hoffnungsschimmer“. „Aber ich habe gedacht, dass andere und ich in die Priorisierungsgruppe eins kommen und relativ zügig geimpft werden.“ Monika wühlt wieder in ihrem Rucksack, fischt eine rote Mappe heraus. Papiere mit Befunden und eine Bestätigung. Ein Neurologe schreibt, dass seine Patientin „in der höchsten Priorisierungsgruppe mit einem möglichst hochpotenten Impfstoff immunisiert werden“ solle und zählt eine Reihe von Gründen auf: Die Schädigung der Atemmuskulatur, die schweren Komplikationen, eine Sterbewahrscheinlichkeit von mehr als 20 Prozent, die Medikamente, die Covid-Symptome verstärken könnten.

Den Ärger über die Impfungen eines sächsischen Landrats und des Bürgermeisters aus Halle versteht Monika nicht. „Die stehen viel in der Öffentlichkeit, haben viele Kontakte, außerdem sind es wichtige Personen.“ Mehr Priorisierungs-Gruppen seien gut gewesen. Dafür kleiner, ausdifferenzierter. „Es heißt immer: Risikogruppen sind die Leute im Heim und die Älteren. Es können aber auch jüngere Hochrisikopatienten sein. Und da sind Leute dabei, denen geht es noch viel schlechter als mir.“

Die aktualisierte Impfverordnung sieht vor, dass „Personen mit seltenen, schweren Vorerkrankungen oder auch schweren Behinderungen“ nach oben gestuft werden können. Monika hat mehrfach beim in Sachsen zuständigen Sozialministerium nachgefragt. Man habe ihr gesagt, dass eine Härtefallkommission eingerichtet werden solle, die darüber entscheiden würde. Am 25. Februar heißt es vom Ministerium, dass fortan Impftermine an die zweite Gruppe und außerdem an Personen vergeben würden, „bei denen nach ärztlicher Beurteilung und Prüfung durch eine Einzelfallkommission ebenfalls ein (sehr) hohes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf (...) besteht.“ Nach welchen Kriterien die Kommission entscheidet und wie lange das dauert? Auf Nachfrage heißt, dass die Kommission sich im Aufbau befinde. Details würden zeitnah bekanntgegeben. Monika wünscht sich eine konkrete Aussicht. „Bisher konnte ich das Attest meinen Arztes nicht einmal abgeben.“

Als Erstes, wenn sie ihre Impfung hat, möchte Monika ihre Gemeinde besuchen. Und dann ihren Bruder in Thüringen. Nach dem Gespräch mit der Sächsischen Zeitung ergibt sich, dass Monika wegen ihres Nierenleidens der zweiten Impfgruppe angehört und dadurch in dieser Woche geimpft werden könnte – allerdings mit dem Impfstoff von Astrazeneca. Ob der mit der Myasthenie und den Medikamenten genauso vereinbar ist wie der Impfstoff von Biontech, wird sich erst nach Rücksprache mit Monikas Fachärztin zeigen. Monika wäre es lieber, wenn sie über eine Entscheidung und den Rat der Härtefallkommission an eine Impfung käme. Als Myasthenikerin.