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Chemnitzer Infektologe: „Wettlauf gegen die Zeit“

Thomas Grünewald, Chef der sächsischen Impfkommission, über den holprigen Start der Corona-Impfungen.

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Dr. Thomas Grünewald ist am Klinikum Chemnitz Leiter der Klinik für Infektions- und Tropenmedizin. Fachlich spezialisiert ist er in den Bereichen Mikrobiologie, Virologie, Infektiologie und Tropenmedizin.
Dr. Thomas Grünewald ist am Klinikum Chemnitz Leiter der Klinik für Infektions- und Tropenmedizin. Fachlich spezialisiert ist er in den Bereichen Mikrobiologie, Virologie, Infektiologie und Tropenmedizin. © Klinikum Chemnitz

Herr Dr. Grünewald, können Sie die Kritik an der Impfstrategie verstehen?

Ja, das kann ich prinzipiell. Das Impfen hat nicht nur in Sachsen, sondern auch in anderen Bundesländern holprig begonnen. Wir haben immer noch zu wenig Impfstoff. Auf der anderen Seite befinden wir uns mit der Pandemie in einer besonderen Lage. Niemand kann erwarten, dass es dabei reibungslos abläuft.

Dennoch machen es Länder wie Großbritannien, USA, Israel und auch einige EU-Länder besser.


Israel hat eine völlig andere medizinische Infrastruktur. Das Land ist seit Jahren auf biologische und chemische Gefahrenlagen vorbereitet. Davon profitieren sie in dieser Pandemie und können ihre Bevölkerung schneller und zentraler versorgen.

Haben diese Länder womöglich mehr Impfstoffe eingekauft?

Diejenigen, die jetzt schimpfen, hätten ebenso geschimpft, wenn früh bestellt worden wäre und der Impfstoff dann unter Umständen nicht wirksam gewesen wäre. Wir hätten dann vielleicht auf Millionen nutzloser Impfdosen gesessen.

Dänemark impft schneller als Deutschland. Liegt das daran, dass dort aus jeder Impfdose sieben statt wie hier nur sechs Portionen gewonnen werden?

Angefangen wurde in Deutschland mit fünf Impfungen pro Dose. Inzwischen ziehen wir sechs Impfungen. Möglich wären oftmals auch sieben. Allerdings muss der Arzt entsprechend erfahren sein. Und er trägt persönlich das Haftungsrisiko. Er arbeitet in diesem Fall außerhalb der amtlichen Zulassung des Medikaments. Der Hersteller garantiert nicht, dass eine siebte Portion aus der Dose gewonnen werden kann.

Sie würden davon abraten oder halten Sie das Risiko für vertretbar?

Ein guter und erfahrener Mediziner bekommt immer sechs Impfungen heraus. Die siebte Dosis klappt oft. Aber das muss jeder Arzt für sich entscheiden. Er trägt die Verantwortung dafür, dass der Patient die 30 Mikrogramm des aktuellen Impfstoffs auch wirklich erhält und nicht weniger.

Trauen sich dies viele Ärzte zu, die in Sachsen impfen?

Offiziell macht es keiner. Ich würde aber persönlich kein Problem darin sehen, solange der Impfende es gemäß der ärztlichen Kunst richtig und verantwortlich macht.

In anderen Ländern liegen zwischen den beiden Impfungen mehr als drei Wochen. Könnte dies auch in Deutschland zu mehr Tempo führen?

Nein. Die Studien sagen eindeutig, dass bei dem aktuell verwandten Impfstoff in Sachsen zwischen der ersten und der zweiten Impfung 21 plus/minus zwei Tage liegen dürfen. Den Daten, die die gute Wirksamkeit des Produkts von knapp 95 Prozent nachweisen, liegt dieses Zeitfenster zugrunde. Daran kommen wir nicht vorbei.

Das Onlineportal zur Buchung von Impfterminen in Sachsen.
Das Onlineportal zur Buchung von Impfterminen in Sachsen. © dpa

Hauptkritikpunkt der Senioren ist das komplizierte Anmeldesystem. Ist das Online-Portal die richtige Lösung für diese Zielgruppe?

Es ist extrem unbequem für viele Menschen. Ich kann den Ärger nachvollziehen. Unser größtes Problem ist aber die knappe Impfstoffmenge. Dadurch sind zurzeit nur wenige oder gar keine Termine mehr frei und die Anmeldeprozedur beginnt von vorn. Ich bin aber überzeugt, dass sich viele Probleme auflösen werden, wenn die Hersteller mehr Impfstoff liefern und wir auch mehrere Impfstoffe zur Verfügung haben.

Für die meisten Menschen mag der Umgang mit dem Buchungsportal keine Hürde sein. Aber die vielen Beschwerden der über 80-Jährigen zeigen, dass es Handlungsbedarf gibt.

Wir setzen darauf, dass bald einfachere Impfstoffe einsetzbar sind. Das Biontech-Produkt ist wirklich kompliziert in der Lagerung, Logistik und Anwendung und sollte daher zunächst nur in den Impfzentren oder von mobilen Impfteams eingesetzt werden. Mittelfristig wollen wir die Hausärzte mit einbeziehen. Das vereinfacht die Versorgung der älteren Menschen ganz erheblich. Die Ärzte kennen ihre Patienten und die Abläufe sind den Patienten von den Grippeschutzimpfungen her bekannt.

Wann kommen diese neuen Präparate?

Da müsste ich einen Blick in die Glaskugel werfen. Sie werden kommen, da bin ich sicher. Ich will aber nicht spekulieren. Wir sehen doch am Beispiel Biontech/Pfizer, wie schnell es zu einem unvorhergesehenen Engpass kommen kann.

Wann sind die Mitarbeiter des Gesundheitswesens in Sachsen durchgeimpft?

Hier gibt es große Fortschritte. Hätten wir mehr Impfstoff, wären 70 Prozent der Mitarbeiter bereits versorgt worden. Hier geht es ja nicht ausschließlich um Ärzte und Pfleger, sondern auch um technische Dienste, Servicepersonal und Reinigungskräfte. Die Impfbereitschaft liegt bei 80 bis 90 Prozent, worüber ich sehr glücklich bin.

Wie lautet der Zeitplan für die Pflegeheime?

Wir wollen, dass bis Ende Februar die Pflegeheime komplett durchgeimpft sind. Dann hätten wir die Gruppe mit dem höchsten Risiko versorgt. Auch in den Kliniken wollen wir wenigstens für die Mitarbeiter, die direkt mit Patienten arbeiten, bis dahin Herdenimmunität, also 70 bis 80 Prozent Impfquote, erreicht haben.

Und die über 80-Jährigen, die zu Hause leben?

Das Ziel lautet für diese Gruppe, sie bis zum Ende des ersten Quartals größtenteils durchgeimpft zu haben. Das setzt aber voraus, dass die Hersteller die zugesagten Liefertermine einhalten. Andernfalls nützen uns die tollsten Berechnungen nichts.

Die 93-jährige Felizitas Diestel aus Dresden wird im Impfzentrum in der Sachsen Arena im Rollstuhl zum Impfen gegen Corona geschoben.
Die 93-jährige Felizitas Diestel aus Dresden wird im Impfzentrum in der Sachsen Arena im Rollstuhl zum Impfen gegen Corona geschoben. © dpa

Derzeit werden in Sachsen täglich 3.000 Impfdosen verabreicht. Wenn es bei diesen Mengen bleibt, sind wir mehrere Jahre mit Impfen beschäftigt.

Es gab Anfang Januar Berechnungen von Kollegen, dass der Prozess sich bundesweit bis 2028 hinziehen könnte.

Aber das entspricht ja nicht Ihren Zielen, oder?

Nein, natürlich nicht. Das ergibt auch keinen Sinn. Wenn die einfacher zu liefernden und zu handhabenden Impfstoffe in den Arztpraxen erhältlich sind, wird eine größere Dynamik einsetzen. Die 26 Millionen Dosen Grippeschutzimpfung haben wir in Deutschland im Herbst und Winter in sehr kurzer Zeit verimpft. Das funktioniert sehr gut über das breit gestreute System der niedergelassenen Ärzte.

Wie viele Impfungen täglich sind nötig, um das Ziel der Bundesregierung zu erreichen, Ende September alle mit Impfstoff zu versorgen?

15.000 bis 20.000 Impfungen täglich wären ideal.

Sollten sich Personen, die an Corona erkrankt gewesen sind, impfen lassen?

Ja. Wir wissen, dass nach einer natürlichen Infektion die Immunität nicht gesichert ist. Selbst Patienten mit schweren Verläufen hatten in unseren Untersuchungen manchmal wenig bis keine virus-neutralisierenden Antikörper. Sie sollten sich also prinzipiell impfen lassen, wenn auch nicht an erster Stelle.

Die Anfahrtswege zu den Impfzentren sind sehr lang. Warum hat Sachsen nur 13 Impfzentren aufgebaut?

Ich sehe das Problem auch, insbesondere für die Zielgruppe, die weniger mobil ist. Die Landkreise werden absehbar für eine dezentralere Struktur sorgen. Aber wie gesagt: Solange wir nur das Produkt von Biontech haben, dass in der Lagerung und Verabreichung spezielle Anforderungen verlangt, sind wir auf eine zentrale Struktur angewiesen.

Spätestens mit Beginn des Frühlings , wenn sich das Leben der Menschen mehr nach draußen verlagert, werden sie sich nicht mehr an Sperrstunde und Ausgangsbeschränkungen halten wollen. Wird die Impfkampagne zu einem Wettrennen gegen die Zeit?

Ich hoffe wie viele meiner Kollegen, dass sich mit wärmeren Temperaturen die Ansteckungsgefahr insgesamt verringert. Einem Wettrennen gegen die Zeit sind wir ausgesetzt, weil wir es mit immer ansteckenderen Varianten des Virus zu tun bekommen. Das Virus entwickelt sich immer weiter. Deshalb ist es sinnvoll, nicht nur die Risikogruppen, sondern dann auch möglichst viele Menschen möglichst rasch zu impfen.

Das Interview führte Karin Schlottmann