„Geht’s Ihnen denn wirklich so schlecht?“: Wie ich mit Long Covid alleingelassen wurde
Jung, sportlich – und dauerkrank: Long Covid hat unserer Autorin nicht nur ihr altes Leben genommen, sondern auch ihr Vertrauen in Ärzte. Monatelang musste sie um Hilfe kämpfen.
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Von Tanja Kunesch
Es ist Dezember 2022, ich sitze im Behandlungszimmer meines Hausarztes und frage: „Finden Sie es nicht komisch, dass eine gesunde, sportliche Person seit bald fünf Wochen im Bett liegt?“ Seit mehr als einem Monat geht es mir so schlecht, dass ich kaum meine Wohnung verlasse. „Das wird schon wieder“, höre ich meinen Arzt zum dritten Mal in dieser Sitzung sagen. Ein Blutbild will er immer noch nicht machen. Nur zu einem Lungen-CT hat er mich vor Wochen geschickt, weil ich so stark gehustet habe.
Kurz vor Weihnachten ruft er an. „Das CT sieht gut aus, alles prima. Machen Sie sich keine Sorgen, schöne Feiertage und alles Gute.“ Ich fasse es nicht. Kurz bevor er auflegt, zwänge ich dazwischen: „Ich liege aber immer noch flach.“ Stille. Ich solle im neuen Jahr wiederkommen, sagt er schließlich.
Fünf Monate sind seither vergangen. Und seit vier Monaten weiß ich, warum ich nicht gesund werde: Ich habe Long Covid.
Eine Million Betroffene in Deutschland
Weltweit leiden einer Studie der Fachzeitschrift „Nature Reviews Microbiology“ zufolge rund 65 Millionen Menschen unter den Folgen einer Covid-19-Infektion. Das heißt, Symptome wie schwere Müdigkeit oder Konzentrationsstörungen halten mindestens vier Wochen nach der Infektion an, bei einigen über Jahre. Viele Betroffene sind in ihrem Alltag stark eingeschränkt. Laut einer Studie aus den Niederlanden, die vergangenes Jahr das Fachjournal „The Lancet“ veröffentlichte, erkranken 12,7 Prozent der Corona-Infizierten an Long Covid. In Deutschland geht man von etwa einer Million Betroffenen aus, wie die Tagesschau berichtet. Eine davon bin ich.
Therapien oder Medikamente, die helfen könnten, gibt es noch nicht. Und oft auch keine professionelle Hilfe. Es fehlen Anlaufstellen und Ärzt:innen, an die sich Betroffene wenden können.
Was ist Long Covid?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Long Covid als gesundheitliche Beschwerden, die vier bis zwölf Wochen nach einer Corona-Infektion anhalten und nicht anders zu erklären sind. Bleiben sie auch nach drei Monaten bestehen, spricht man vom Post-Covid-19-Syndrom. Im allgemeinen Sprachgebrauch werden die Begriffe oft synonym verwendet.
Für mehr Aufklärung und bessere Versorgung setzt sich die Initiative Long Covid Deutschland ein. Sie listet 93 Long-Covid-Ambulanzen in der gesamten Bundesrepublik. Zu wenig, wie Martin Walter, Direktor der Klinik für Psychiatrie der Universität Jena, vorrechnet. Rund 3000 Patient:innen seien in seiner Ambulanz seit 2020 behandelt worden, erklärt Walter, der auch den 2021 vom Bundesgesundheitsministerium gegründeten „Ärzte- und Ärztinnenverband Long Covid“ leitet. 93 Ambulanzen können insgesamt 280.000 Betroffene versorgen. „Das ist nicht mal ein Drittel aller Fälle.“
Deutschland hat also ein Problem. Eine neue und komplexe Erkrankung betrifft mehr als 1,2 Prozent der Bevölkerung – und weil die allermeisten Ärzt:innen nicht wissen, wie sie Long Covid behandeln sollen, sind diese Patient:innen oft allein damit. Warum ist das so? Wie kann sich das ändern? Oder muss ich jetzt damit leben? Für immer?
Anfangs kratzte es nur ein bisschen im Hals. Ich kam im November 2022 erholt aus dem Urlaub und hielt die eisige Klimaanlage im Flugzeug für die Übeltäterin. Bestimmt nur eine Erkältung. Zwei Tage später hustete ich ununterbrochen und kam kaum noch aus dem Bett. Alle Corona-Tests waren negativ. Ich war erleichtert. Nochmal wollte ich die Zeit meiner Corona-Infektion im Juni zuvor nicht durchmachen. Danach war ich zwei Monate kaum belastbar gewesen und immer wieder krank geworden. Aber ich konnte normal weiterleben.
Normal, das bedeutet für mich: Im stürmischen Regen 20 Kilometer radeln, um einen Kaffee mit jemandem zu trinken. Oder im Sommer jede freie Minute auf einem Beachvolleyballfeld stehen, trainieren und in die Natur fahren, am besten auf einen Berg oder ans Meer. Vielleicht ist meine Fitness auch ein Grund, wieso mein Arzt zunächst nur ein Hustenvirus vermutet.
Doch es wird nicht besser. Der Husten lässt zwar nach, dafür bin ich in den Wochen vor Weihnachten immer erschöpfter. Mir fehlt oft die Energie, vor drei Uhr nachmittags aufzustehen, ich beantworte kaum noch Nachrichten und verlasse nur selten die Wohnung. Ich, die sonst noch um 23 Uhr joggen geht, um mich auszupowern. An Arbeiten ist nicht zu denken.
Irgendwie schleppe ich mich Mitte Dezember zu meinen Eltern nach Bayern aufs Land. Meine frühere Arztpraxis dort nimmt mir endlich Blut ab. In Berlin wollte mich vor Jahresende keine Praxis mehr aufnehmen.
„Vielleicht müssen wir in Richtung Long Covid denken“, sagt die Ärztin. Ich schlucke. Meine Ohren werden heiß, mein Herz klopft gegen meine Rippen. Es könne sein, dass mein Immunsystem durch die Corona-Infektion „einen Knacks“ bekommen hat, sagt sie. Weil ich nie vollständig genesen bin, habe das Virus im November dann Long Covid ausgelöst. Die Ärztin will mir helfen, weiß aber nicht, wie. Ich solle mich an Fachärzt:innen wenden, an Long-Covid-Ambulanzen wie die der Charité in Berlin.
Zurück bei meinen Eltern breche ich zusammen und weine. Das war’s dann mit meinem bisherigen Leben, denke ich. Kein Beachvolleyball mehr, bloß nicht überlasten – wer weiß, vielleicht nicht mal mehr arbeiten. Wieso trifft es mich? Ich bin 32 Jahre alt, gesund, sportlich. Was habe ich falsch gemacht?
Bei der Charité geht nur das Band ran
Irgendwann beschließe ich, dass es keine Option ist, nicht wieder zu genesen. Ich fülle den Screening-Fragebogen für die Long-Covid-Ambulanz der Charité aus. Meine Beschwerden markiere ich als „Ja, stark“, die höchste Stufe, und schicke die Antworten mit einem Mausklick ab.
Schnell kommt die Rückmeldung. Per Post. Bis Ende Juni seien sie ausgebucht. Es ist Anfang Januar. Sollte ich im Mai noch Beschwerden haben, könne ich den Bogen noch einmal schicken. Keine Warteliste, kein:e Ansprechpartner:in. Ungläubig starre ich auf das Schreiben. Ich versuche, in der Ambulanz anzurufen. Eine Bandansage: Wegen erhöhter Nachfrage könne man leider keine Anrufe persönlich entgegennehmen. Ich muss laut lachen, so absurd finde ich das.
„Wir können nicht einfach unsere Kapazitäten verdreifachen und aus dem Stand neues Personal einstellen“, sagt Carmen Scheibenbogen. Die Immunologin leitet das Fatigue-Zentrum der Charité und forscht unter anderem zu Therapieansätzen für Long Covid. Sie spricht von einer Versorgungsnot. „Long-Covid-Betroffene brauchen viele zusätzliche Untersuchungen.“ Für jeden Patienten und jede Patientin bekämen Ärzt:innen jedoch einen einheitlichen Tarif, der die Kosten nicht decken kann.
Nicht nur die Charité ist überlaufen. Martin Walter vom Long-Covid-Verband kritisiert die Lage in ganz Deutschland. „Wir haben zu wenig Kapazitäten, zu wenig Strukturen, um alle zu versorgen. Und wir sind nicht effizient genug“, sagt er. Das liege auch an der Krankheit selbst. „Long Covid ist nicht nur eine neue Erkrankung, sondern auch eine interdisziplinäre Herausforderung.“
Eine erste Studie, die Mitte 2021 in „The Lancet“ erschien, listet 203 Symptome auf, die in verschiedenen Kombinationen auftreten können. Häufig sind Betroffene schwer erschöpft, kurzatmig und haben Konzentrationsprobleme. Leichte Aktivitäten können die Symptome für Tage oder auch Wochen verschlechtern. Stark Betroffene leiden zudem oft am chronischen Erschöpfungssyndrom ME/CFS – einer komplexen, schwer einschränkenden Krankheit.
„Das macht eine Diagnose unheimlich schwer. Und die Frage, welcher Arzt zuständig ist“, sagt Walter. Damit Patient:innen nicht zu allen Fachrichtungen einzeln laufen müssen, brauche es eine zentrale Anlaufstelle, die an interdisziplinäre Boards geknüpft sei.
Zurück in Berlin probiere ich es als Nächstes bei meiner Hausärztin. Diesmal bestehe ich darauf, zu ihr zu gehen, und nicht zu dem Arzt in derselben Praxis, der mich zuvor, naja, behandelt hatte. „Seit November krankgeschrieben? Geht’s Ihnen denn wirklich so schlecht?“, höre ich als Erstes. Sie schaut in meine Akte und fährt fort: „Haben Sie es mal wieder mit Sport versucht? Das hat Ihnen doch immer geholfen.“ Ich muss lachen. Ich schaffe es zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, spazieren zu gehen. Danach liege ich mit Schüttelfrost im Bett.
Die Hausärztin schickt mich zu einer Kardiologin, um etwas Organisches auszuschließen. Eine Odyssee beginnt. Ich verwende meine ganze Energie dafür, Ärzt:innen zu suchen. Konkret heißt das: maximal drei Websites aufmachen und eine Nummer raussuchen, vielleicht auch dort anrufen. Den Rest des Tages bin ich vor Erschöpfung komplett am Ende.
Die Ausbeute ist dürftig. Die meisten Praxen gehen nicht ans Telefon oder haben erst Monate später einen Termin. Als ich durch einen glücklichen Zufall nur vier Wochen später bei einer Kardiologin sitze, sagt sie, meinem Herzen gehe es gut. „Nicht zu groß, nicht zu klein.“ Weiterhelfen kann sie mir nicht. Einen Rat hat sie auch nicht.
Ich versuche mein Glück auf der Seite der Initiative Long Covid Deutschland. Dort finde ich neben der Charité zwei weitere spezialisierte Praxen in Berlin. Bei der einen überlese ich, dass sie privatärztlich ist. Allein der Info-Termin würde mich 90 Euro kosten, weitere Behandlungen mindestens 700 Euro, erfahre ich am Telefon.
Diagnose: irgendwie krank
Also probiere ich es bei einer Long-Covid-Sprechstunde in Berlin-Tegel. Auch diese ist telefonisch nicht erreichbar. Ich schleppe mich in die U-Bahn und fahre in den Norden der Stadt. Leider umsonst. Die Sprechstunde gebe es schon lange nicht mehr, sagt mir die Frau an der Anmeldung. Die entsprechende Ärztin sei zurück an die Charité gegangen. Das war’s dann, denke ich. Diagnose: irgendwie krank. Perspektive: aussichtslos.
Wie mir geht es in Deutschland Tausenden, viele machen bei ihrer Suche entmutigende und erniedrigende Erfahrungen. „Meine Hausärztin meinte nach zwei Monaten, dass sie mich nicht mehr krankschreiben werde“, sagt etwa Nina Rehmet aus Berlin. Die 35-Jährige erkrankte im Oktober 2022 an Covid-19 und hat sich seither nicht davon erholt. Seit fünf Monaten sucht sie nach einer Ärztin oder einem Arzt, die oder der ihre Symptome ernstnimmt. „Um mich solle sich ein Psychiater kümmern, sagte mir eine Ärztin, es läge ja auch ein bisschen an mir selbst“, erzählt Rehmet. „Zu ihr bräuchte ich jedenfalls nicht mehr kommen.“
Immer wieder stößt Rehmet auf die gleiche Ablehnung, immer wieder bricht sie zusammen – auch mental. „Vor einem Arztbesuch muss ich ein Schutzschild aufbauen, sonst geht es mir danach schlechter als vorher“, sagt sie. „Ich fühle mich so hilflos. Arbeiten kann ich nicht, aber krankschreiben will mich auch keiner für lange.“ Also sucht Rehmet immer wieder einen neuen Arzt. Sie erwarte nicht mehr, dass sie wieder gesund wird. „Ich will einfach nur jemanden, der mir zur Seite steht und mich langfristig unterstützt.“
„Es gibt immer frustrierende Einzelfälle, aber grundsätzlich sind wir gut aufgestellt“, sagt Martin Scherer, Leiter der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin (DEGAM). Die Medienberichterstattung habe teilweise Ängste vor einer Long-Covid-Welle geschürt – und zu vermehrten Anfragen von Patient:innen geführt. Geduld gehöre bei einer Erkrankung wie Long Covid dazu, sagt Scherer. „Hausärzte müssen erst alle gefährlichen Ursachen prüfen und für die Patienten vorselektieren, welche für spezielle Ambulanzen in Frage kommen“, erklärt der Allgemeinmediziner. Ohne harten Befund folge das „Watchful Waiting“: Hausärzt:innen beobachten die Symptome und bauen eine Langzeitbeziehung auf. Dabei müssten auch Patient:innen mitarbeiten und zum Beispiel bei der Terminvergabe um mehr Zeit in der Sprechstunde bitten.
„Wir können nicht einfach erwarten, dass jeder Hausarzt weiß, wie er Long Covid diagnostizieren und behandeln soll“, widerspricht Martin Walter vom Long-Covid-Verband. Der Psychiater fordert mehr Offenheit und Expertise in der Primärversorgung. Je mehr Hausärzt:innen wüssten, desto weniger unsicher seien sie ihren Patient:innen gegenüber. Die Ablehnung, die vielen Betroffenen entgegenschlägt, erklärt er sich mit mangelnder Erfahrung.
Wie ein inneres Raubtier
Manchmal fühle ich die Symptome kommen. Ich stelle mir dabei vor, dass in mir ein Panther sitzt. Er schleicht sich an, um dann mit seiner Pranke zuzuschlagen. Es fängt oft mit einem leichten Schmerz in den Beinen an. Kalter Schweiß bildet sich auf meiner Stirn. In meinem Kopf fühlt es sich so an, als würde ich in einer Achterbahn nach unten rasen. Ich werde fiebrig und beginne zu frösteln. „Schüttelig“ nenne ich das, wenn mich Gliederschmerzen, Schüttelfrost und Fieber ins Bett hämmern. Das kann mehrmals die Woche passieren und mehrere Tage anhalten.
Jede kleine Belastung kann zu so einem Crash führen, ein Spaziergang, zu langes Lesen oder zu starke Emotionen – leider auch positive. Einmal war ich mit einer Freundin zum ersten Mal seit langem in einem Restaurant. 20 Minuten hin, Essen, 20 Minuten zurück. Vorbei. Es folgte ein Crash. Mittlerweile plane ich jeden Tag detailliert, um zu wissen, wie ich meine Energie einteilen muss. Und wann ich meine Quittung für zu viel Leben bekomme. Spontan jemanden sehen, kann mich für zwei Tage ausknocken. Manchmal ist es mir das wert.
Was diese Crashs auslöst, weiß man noch nicht genau. Eine Erkenntnis gibt es aber schon: „Bei sehr vielen kommt es bei Long Covid zu einer überschießenden Immunreaktion. Dabei trifft es Frauen zwischen 30 und 55 häufiger als Männer. Was gut ins Bild passt, da Frauen auch häufiger Autoimmunerkrankungen entwickeln“, sagt Barbara Schmidt, leitende klinische Virologin an der Uniklinik Regensburg.
Ein Taschengeld für die Forschung
Es seien nun Studien nötig, in denen man verschiedene Therapieverfahren austeste, sagt Schmidt. Sie selbst forscht in einem vom Bundesforschungsministerium (BMBF) unterstützten Projekt daran, die Fehlfunktion des Immunsystems bei Post-Covid zu untersuchen und wie die Krankheit zu diagnostizieren ist.
Was unternimmt die Politik, um die Situation zu verbessern? Im Mai 2021 hat das BMBF zehn von mehr als 70 Forschungsprojekten zu Long Covid ausgewählt, um sie mit 6,5 Millionen Euro zu unterstützen. Seit Oktober 2022 stellt das Ministerium sechs Millionen Euro bereit, um Technologien für Diagnose und Betroffenenhilfe auszubauen. Zehn Millionen Euro gehen außerdem an ein Projekt von Carmen Scheibenbogen, der Charité-Immunologin. Das klingt nach hohen Summen, doch für die Forschung ist es kaum mehr als ein Taschengeld. Studien seien sehr teuer, sagt Scheibenbogen. Und je komplexer das Krankheitsbild, desto aufwendiger sind sie.
Aktuell forscht sie zur Immunadsorption – einer Behandlung, bei der Autoantikörper aus dem Blut entfernt werden. Scheibenbogen hofft, dazu im Anschluss auch ein Medikament testen zu können. Im Sommer soll es erste Erkenntnisse geben. Parallel arbeitet sie an anderen Studien. „Vielleicht haben wir 2024 ein erstes Medikament, um die Ursachen von Long Covid zu behandeln.“
Seit Anfang April habe ich wieder etwas Hoffnung geschöpft: Ich bekomme in der physikalischen Medizin an der Charité Behandlungen, die meine Symptome lindern sollen: Physiotherapie, Atemtherapie und Elektrotherapie. Wie viel es hilft, weiß ich noch nicht. Aber zum ersten Mal seit Monaten fühle ich mich bei einem Arzt aufgehoben.
Meine Ängste kann er mir allerdings nicht nehmen. Jedes Mal, wenn ich aufs Fahrrad steige, frage ich mich, ob ich es bereuen werde. Werde ich je wieder so leben können wie zuvor?