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Streiten sich zwei Bischöfe über einen Missbrauchsfall

Ein Novize soll eine Sächsin sexuell genötigt haben. Der Fall ist so brisant, dass er die neue Missbrauchsordnung gefährdet. Eine Rekonstruktion.

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© dpa/Robert Michael (Symbolbild)

Von Jens Schmitz*, Tobias Wolf und Ulrich Wolf

Die junge Frau auf der Grafik ist nackt. Darauf wird aus der Bibel zitiert: „Steh auf meine Freundin, meine Schöne, so komm doch.“ Das in Orangetönen gehaltene Bild hängt in einem Haus des Pallottiner-Ordens auf dem Gebiet des Erzbistums Freiburg in Baden-Württemberg. Die Mönche, die dort leben, laden ein: zum Meditieren, zum Mitbeten, zum Mitleben. Doch zwei von ihnen kommen derzeit selbst kaum zur Ruhe. Sie haben sich Anwälte genommen, kämpfen um ihre Reputation. Sie stehen unter Verdacht, vor etwas mehr als 30 Jahren Ellen Adler missbraucht beziehungsweise ihren Missbrauch gedeckt zu haben. Ellen Adlers Name ist ein Pseudonym zum Schutz der Betroffenen.

Dresdens Bischof Heinrich Timmerevers glaubt ihr, sein Kollege in Freiburg, Erzbischof Stephan Burger, eher nicht. Auch der Chef der deutsch-österreichischen Pallottiner-Provinz, Pater Helmut Scharler, weist die Vorwürfe zurück. Rom mischt auch noch mit. Man ringt um Zuständigkeiten, um Ansichten, um erhaltene oder nicht erhaltene Dokumente. Es ist ein Streit, der den innerkirchlichen Reformkurs zur Aufarbeitung von Missbrauch gefährdet.

Was soll gelten? Römisches Recht oder die Missbrauchsordnung der deutschen Bischöfe?

Der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers hat eine Untersuchung in Auftrag gegeben, weil Ellen Adler weder bei den Pallottinern noch im Erzbistum Freiburg Gehör fand.
Der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers hat eine Untersuchung in Auftrag gegeben, weil Ellen Adler weder bei den Pallottinern noch im Erzbistum Freiburg Gehör fand. ©  Ronald Bonss

Mittendrin in diesem Sturm der kirchenrechtlichen Interpretationen und Bürokratien steht Ellen Adler. Die Sächsin entdeckt schon in der DDR ihre Religiosität, will Nonne werden. Greifbar wird ihr Wunsch erst mit der Wende. Ihr Ziel ist ein Kloster des Karmelitinnen-Ordens in Österreich.

Der Weg der damals 22-Jährigen dahin führt über die damalige Ausbildungsstätte des Pallottiner-Ordens im fränkischen Untermerzbach. Der Grund: Mit ihrem DDR-Pass kann sie nicht einfach nach Österreich weiterreisen. Sie ist ohne Westgeld mittellos. Um einen bundesdeutschen Pass zu bekommen, muss sie als DDR-Bürgerin das Notaufnahmeverfahren durchlaufen.

Novize macht Übungen zu menschlicher Nähe

Adler sagt, sie habe in Untermerzbach bei Pater Hahn** eine Lebensbeichte abgelegt, in Anwesenheit des damals 29 Jahre alten Novizen Vogt**. Der Pater habe konstatiert, ihr fehle „in zwischenmenschlichen Beziehungen die Lockerheit“.

Der Novize Vogt habe daraufhin mit ihr „Übungen zu menschlicher Nähe“ gemacht. Diese seien immer übergriffiger geworden. Das sei „in ständiger Rücksprache“ geschehen mit Pater Hahn, „unter Verweis auf den Willen Gottes“. Schließlich habe Vogt sie gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr gezwungen.

Sowohl bei kirchlichen wie auch staatlichen Ermittlungsbehörden hat Adler präzise und detailliert über diese Geschehnisse berichtet. Fachärztlich wurde ihr Glaubwürdigkeit bescheinigt.

Weiße Leinengewänder hängen im Pallottiner-Missionshauses Limburg: Sie gehören zur liturgischen Ausstattung während einer Messe.
Weiße Leinengewänder hängen im Pallottiner-Missionshauses Limburg: Sie gehören zur liturgischen Ausstattung während einer Messe. © KNA

Der heutige Pater Vogt erklärt über seine Anwältin, die Vorwürfe träfen nicht zu. Er hat zwar eine gänzlich andere Sicht auf die Ereignisse, doch die ist „nicht zur Veröffentlichung bestimmt“. Ähnlich geht Pater Hahns Anwalt vor.

Adlers Schilderung zufolge ist sie Mitte Februar 1990 kurz nach dem mutmaßlichen Missbrauch - inzwischen gab es ein Abkommen zwischen der DDR und der Alpenrepublik, wonach DDR-Bürger kein Visum mehr beantragen mussten - mit dem Zug nach Österreich gefahren.

Angekommen im Karmelitinnen-Kloster habe die damalige Oberin vom späteren Pater Vogt erfahren, was aus seiner Sicht in Untermerzbach geschehen sein soll. Daraufhin sei ihr die Aufnahme ins Kloster verweigert worden. Die heutige Klosterleitung will sich zu diesen Aussagen nicht äußern.

Raub eines Lebenstraums

Ihres Lebenstraums beraubt, fährt Adler nach Thüringen. Sie beginnt zunächst dort in einem Pflegeheim zu arbeiten, heiratet, wird Mutter und studiert. Pater Hahn und der einstige Novize Vogt steigen im Pallottiner-Orden auf. 2017 ziehen sich beide auf das Gebiet des Erzbistums Freiburg zurück.

Adler verfolgt die Werdegänge der Ordensmänner nicht. „Ich wollte vergessen, verdrängen“, sagt sie. 2013 kommen erstmals Erinnerungen hoch. Anlass sind die Scheidung und ein katholisches Ehenichtigkeitsverfahren.

Betroffene will Aufklärung

Danach will sie die Ereignisse von 1990 aufgeklärt wissen, aber niemand habe sich zuständig gefühlt, sagt sie. Das habe sie gesundheitlich so sehr angegriffen, dass ihre Ärztin riet, den Aufklärungsversuch mit der Kirche zunächst abzubrechen. Ein neues Déjà-vu hat sie 2018. In einem Prospekt eines Jesuiten-Besinnungshauses liest sie, dass Pater Vogt dort einen Meditationskurs leitet. Fortan entdeckt sie seinen Namen gefühlt in den Programmen eines nahezu jeden Exerzitienhauses.

Das findet sie problematisch. Wer Exerzitien begleite, habe große Macht über andere, sagt die Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft deutscher Diözesen für Exerzitien und Spiritualität, Martina Patenge. Der Jesuiten-Orden geht den Vorwürfen nach und hält die Anschuldigungen für so glaubhaft, dass er gegen Pater Vogt bis zur Klärung der Vorwürfe ein Betätigungsverbot verhängt.

Der erst 1963 heiliggesprochene Vinzenz Pallotti ist der Namensgeber des Pallottiner-Ordens. Diese Statue steht vor der Sankt-Marien-Kirche in Limburg.
Der erst 1963 heiliggesprochene Vinzenz Pallotti ist der Namensgeber des Pallottiner-Ordens. Diese Statue steht vor der Sankt-Marien-Kirche in Limburg. © KNA

Im Februar 2020 vertraut Adler sich dem Dresdner Bischof an. Der Pressesprecher des Bistums Dresden-Meißen teilt dazu mit, sie habe Bischof Timmerevers deutlich gemacht, dass sie weder bei den Pallottinern noch im Erzbistum Freiburg Gehör finde, „da sie zum vermuteten Tatzeitpunkt bereits erwachsen war“.

Im April 2020 erstattet Timmerevers Strafanzeige. Die landet bei der Staatsanwaltschaft Bamberg, in deren Bereich der mutmaßliche Tatort Untermerzbach liegt. Schon vorher hat Timmerevers Voruntersuchungen nach den Regeln der im November 2019 beschlossenen „Ordnung für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und schutz- oder hilfebedürftiger Erwachsener durch Kleriker und sonstige Beschäftigte im kirchlichen Dienst“ eingeleitet.

Nicht nur Kinder zählen zu den Schutzbedürftigen

Dieser Ordnung zufolge zählen zu den schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen Menschen, die einer Fürsorge anvertraut oder einem besonderen Macht- und Abhängigkeitsverhältnis unterworfen sind. War das im März 1990 bei Ellen Adler der Fall?