Streiten sich zwei Bischöfe über einen Missbrauchsfall
Ein Novize soll eine Sächsin sexuell genötigt haben. Der Fall ist so brisant, dass er die neue Missbrauchsordnung gefährdet. Eine Rekonstruktion.
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Von Jens Schmitz*, Tobias Wolf und Ulrich Wolf
Die junge Frau auf der Grafik ist nackt. Darauf wird aus der Bibel zitiert: „Steh auf meine Freundin, meine Schöne, so komm doch.“ Das in Orangetönen gehaltene Bild hängt in einem Haus des Pallottiner-Ordens auf dem Gebiet des Erzbistums Freiburg in Baden-Württemberg. Die Mönche, die dort leben, laden ein: zum Meditieren, zum Mitbeten, zum Mitleben. Doch zwei von ihnen kommen derzeit selbst kaum zur Ruhe. Sie haben sich Anwälte genommen, kämpfen um ihre Reputation. Sie stehen unter Verdacht, vor etwas mehr als 30 Jahren Ellen Adler missbraucht beziehungsweise ihren Missbrauch gedeckt zu haben. Ellen Adlers Name ist ein Pseudonym zum Schutz der Betroffenen.
Dresdens Bischof Heinrich Timmerevers glaubt ihr, sein Kollege in Freiburg, Erzbischof Stephan Burger, eher nicht. Auch der Chef der deutsch-österreichischen Pallottiner-Provinz, Pater Helmut Scharler, weist die Vorwürfe zurück. Rom mischt auch noch mit. Man ringt um Zuständigkeiten, um Ansichten, um erhaltene oder nicht erhaltene Dokumente. Es ist ein Streit, der den innerkirchlichen Reformkurs zur Aufarbeitung von Missbrauch gefährdet.
Mittendrin in diesem Sturm der kirchenrechtlichen Interpretationen und Bürokratien steht Ellen Adler. Die Sächsin entdeckt schon in der DDR ihre Religiosität, will Nonne werden. Greifbar wird ihr Wunsch erst mit der Wende. Ihr Ziel ist ein Kloster des Karmelitinnen-Ordens in Österreich.
Der Weg der damals 22-Jährigen dahin führt über die damalige Ausbildungsstätte des Pallottiner-Ordens im fränkischen Untermerzbach. Der Grund: Mit ihrem DDR-Pass kann sie nicht einfach nach Österreich weiterreisen. Sie ist ohne Westgeld mittellos. Um einen bundesdeutschen Pass zu bekommen, muss sie als DDR-Bürgerin das Notaufnahmeverfahren durchlaufen.
Novize macht Übungen zu menschlicher Nähe
Adler sagt, sie habe in Untermerzbach bei Pater Hahn** eine Lebensbeichte abgelegt, in Anwesenheit des damals 29 Jahre alten Novizen Vogt**. Der Pater habe konstatiert, ihr fehle „in zwischenmenschlichen Beziehungen die Lockerheit“.
Der Novize Vogt habe daraufhin mit ihr „Übungen zu menschlicher Nähe“ gemacht. Diese seien immer übergriffiger geworden. Das sei „in ständiger Rücksprache“ geschehen mit Pater Hahn, „unter Verweis auf den Willen Gottes“. Schließlich habe Vogt sie gegen ihren Willen zum Geschlechtsverkehr gezwungen.
Sowohl bei kirchlichen wie auch staatlichen Ermittlungsbehörden hat Adler präzise und detailliert über diese Geschehnisse berichtet. Fachärztlich wurde ihr Glaubwürdigkeit bescheinigt.
Der heutige Pater Vogt erklärt über seine Anwältin, die Vorwürfe träfen nicht zu. Er hat zwar eine gänzlich andere Sicht auf die Ereignisse, doch die ist „nicht zur Veröffentlichung bestimmt“. Ähnlich geht Pater Hahns Anwalt vor.
Adlers Schilderung zufolge ist sie Mitte Februar 1990 kurz nach dem mutmaßlichen Missbrauch - inzwischen gab es ein Abkommen zwischen der DDR und der Alpenrepublik, wonach DDR-Bürger kein Visum mehr beantragen mussten - mit dem Zug nach Österreich gefahren.
Angekommen im Karmelitinnen-Kloster habe die damalige Oberin vom späteren Pater Vogt erfahren, was aus seiner Sicht in Untermerzbach geschehen sein soll. Daraufhin sei ihr die Aufnahme ins Kloster verweigert worden. Die heutige Klosterleitung will sich zu diesen Aussagen nicht äußern.
Raub eines Lebenstraums
Ihres Lebenstraums beraubt, fährt Adler nach Thüringen. Sie beginnt zunächst dort in einem Pflegeheim zu arbeiten, heiratet, wird Mutter und studiert. Pater Hahn und der einstige Novize Vogt steigen im Pallottiner-Orden auf. 2017 ziehen sich beide auf das Gebiet des Erzbistums Freiburg zurück.
Adler verfolgt die Werdegänge der Ordensmänner nicht. „Ich wollte vergessen, verdrängen“, sagt sie. 2013 kommen erstmals Erinnerungen hoch. Anlass sind die Scheidung und ein katholisches Ehenichtigkeitsverfahren.
Betroffene will Aufklärung
Danach will sie die Ereignisse von 1990 aufgeklärt wissen, aber niemand habe sich zuständig gefühlt, sagt sie. Das habe sie gesundheitlich so sehr angegriffen, dass ihre Ärztin riet, den Aufklärungsversuch mit der Kirche zunächst abzubrechen. Ein neues Déjà-vu hat sie 2018. In einem Prospekt eines Jesuiten-Besinnungshauses liest sie, dass Pater Vogt dort einen Meditationskurs leitet. Fortan entdeckt sie seinen Namen gefühlt in den Programmen eines nahezu jeden Exerzitienhauses.
Das findet sie problematisch. Wer Exerzitien begleite, habe große Macht über andere, sagt die Sprecherin der Arbeitsgemeinschaft deutscher Diözesen für Exerzitien und Spiritualität, Martina Patenge. Der Jesuiten-Orden geht den Vorwürfen nach und hält die Anschuldigungen für so glaubhaft, dass er gegen Pater Vogt bis zur Klärung der Vorwürfe ein Betätigungsverbot verhängt.
Im Februar 2020 vertraut Adler sich dem Dresdner Bischof an. Der Pressesprecher des Bistums Dresden-Meißen teilt dazu mit, sie habe Bischof Timmerevers deutlich gemacht, dass sie weder bei den Pallottinern noch im Erzbistum Freiburg Gehör finde, „da sie zum vermuteten Tatzeitpunkt bereits erwachsen war“.
Dieser Ordnung zufolge zählen zu den schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen Menschen, die einer Fürsorge anvertraut oder einem besonderen Macht- und Abhängigkeitsverhältnis unterworfen sind. War das im März 1990 bei Ellen Adler der Fall?
Provinzial Scharler teilt auf Anfrage mit, es gelte die Unschuldsvermutung. Nach kanonischem Recht habe nie ein Straftatverdacht bestanden, da Vogt zum fraglichen Zeitpunkt noch kein Kleriker gewesen sei. „Außerdem war die Frau nicht unter 16 Jahre alt, dem 1990 geltenden Schutzalter.“
Dass Geschlechtsverkehr stattgefunden hat, bestreitet Pater Vogt nicht. Aber selbst wenn der Sex mit Adler einvernehmlich gewesen wäre, wäre ihm das als „sonstiger kirchlicher Mitarbeiter“ mit einer Hilfsbedürftigen erlaubt gewesen? Nein, urteilt Dresdens Bischof Timmerevers – und folgt damit den Vorgaben der Bischofskonferenz.
Ordensmann droht Bischof mit Verleumdungsklage
Er gibt drei Voruntersuchungen in Auftrag: eine gegen Pater Vogt, eine gegen Pater Hahn und eine gegen Provinzial Scharler wegen Vertuschung.
In einem Telefonat droht der Provinzial dem Bischof nach Darstellung des Bistums mit einer Verleumdungsklage. Scharler will dazu öffentlich keine Stellung nehmen. Mittlerweile ist nur noch von einem „Klärungsbedarf bei Zuständigkeitsüberschneidungen zwischen Bistümern und Ordensgemeinschaften päpstlichen Rechts“ die Rede.
Das Ergebnis gegen die beiden Hauptbeschuldigten steht für die Dresdner im Oktober 2020 fest. Die Vorwürfe gegen Pater Vogt seien glaubhaft und wahrscheinlich, schreibt Timmerevers. Es gebe „tatsächliche Anhaltspunkte“ für sexuellen Missbrauch. Ellen Adler sei vollständig auf den Schutz und die Hilfe des Ordens angewiesen gewesen.
Pater Vogt hingegen bestreitet bei seiner Vernehmung im Ordinariat des Erzbistums Freiburg, von der prekären Situation Adlers gewusst zu haben.
Pater Hahn wiederum sei über die Vorgänge informiert gewesen, ohne die rechtmäßigeren Oberen zu informieren, urteilt Timmerevers. Damit gebe es bei ihm tatsächliche Anhaltspunkte für die Geheimhaltung „sexueller Gewalt“ gegen eine schutzbedürftige Erwachsene. Timmerevers verfügt, dass beiden Patres auf dem Gebiet seines Bistums keine Seelsorgedienste mehr zugewiesen werden.
Der Bischof versteht das nicht als Strafe – dafür
wären andere zuständig. Die deutschen Richtlinien sehen vor, dass ein Bischof
schon aus Präventionsgründen Seelsorgeeinsätze auf seinem Gebiet unterbinden
kann. Andere betroffene Diözesen sind darüber zu informieren.
Betroffene erwarteten „einen einheitlichen Umgang mit diesen Fragen“, hat der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Stephan Ackermann, im Sommer 2020 erklärt, gerade auch mit Blick auf die Orden.
Neben den Jesuiten widersprechen Bistümer wie Bamberg und Augsburg vorerst Kursen von Vogt auf ihrem Gebiet. Augsburg, Heimatbistum des Provinzialats, bittet die Pallottiner, davon „auch in anderen Diözesen“ Abstand zu nehmen. Das Erzbistum Freiburg ist unbeeindruckt.
Ermittlung wegen Verjährung beendet
Und die weltlichen Ermittler? Die Kriminalpolizei vernimmt im Auftrag der Staatsanwaltschaft Bamberg Ellen Adler als Zeugin. Danach geht eine Mitteilung an das Dresdener Bistum. Darin konkretisiert die Behörde das, was Adler als „Übergriff“ umschreibt, zu zwei strafrechtlichen Vorwürfen: Nötigung und Vergewaltigung. Über den Wahrheitsgehalt der Beschuldigung ist mit dieser Feststellung allerdings nichts ausgesagt.
Umso mehr wird in diesen Vorgang hineininterpretiert: Pater Vogt teilt über seine Anwältin mit, das Verfahren sei „mangels Tatverdacht“ eingestellt worden. Die gleiche Formulierung benutzt ein Frauenorden, mit dem Vogt bei seinen Exerzitien zusammenarbeitet. Die Bamberger Staatsanwaltschaft hingegen stellt klar, das Verfahren sei „ausschließlich wegen der eingetretenen Verfolgungsverjährung“ eingestellt worden.
Auch kirchenrechtlich wehrt sich Vogt. Sein Anwalt, der aus dem Streit um das von Kardinal Rainer Maria Woelki in Auftrag gegebene Missbrauchsgutachten der Erzdiözese Köln bekannte Kirchenrechtler Stefan Korta, erhebt in Rom Widerspruch. Die Glaubenskongregation bestätigt die Zuständigkeit von Timmerevers, die Kleruskongregation, eine Art Priestergewerkschaft, aber setzt die Wirkung des bischöflichen Dekrets vorerst außer Vollzug. Dagegen legt Timmerevers seinerseits Widerspruch ein. Er habe darum gebeten, die Verfügungen wieder in Kraft zu setzen, so das Bistum Dresden-Meißen.
Im Erzbistum Freiburg sorgt man sich in diesem Punkt weniger. „In den römischen Entscheidungen sehen wir unsere Rechtsauffassung bestätigt“, teilt der Pressesprecher mit. Pater Vogt jedenfalls ist vor einigen Monaten in das Haus mit dem Bild der nackten Frau umgezogen, in dem sein Weggefährte Pater Hahn inzwischen eine leitende Funktion hat. Ellen Adler kann es kaum glauben: „Das ist ja, als würde man es auf eine Wiederholung anlegen!“
Pater Hahn bietet weiter Seelsorge und Beichte an. Entsprechende Unbedenklichkeitserklärungen des Pallottiner-Ordens lägen vor, sagt Freiburg. Für weitere Maßnahmen gebe es keine kirchenrechtliche Basis. Allerdings habe man, am Tag der Anfrage durch die Redaktion, die Pallottiner gebeten, Pater Vogt nicht mehr in der Exerzitienarbeit einzusetzen. „Hintergrund dafür ist allerdings nicht, dass eine mögliche Gefahr von ihm ausgehen könnte, sondern das Wissen um die kontroversen Diskussionen um seine Person.“
Die Pressestelle des Freiburger Bischofs betont, in keinem Verfahren sei „ein Fehlverhalten der Beschuldigten festgestellt“ worden. „Weitere Unterlagen, die Glaubwürdigkeit oder Plausibilität der Vorwürfe belegen könnten“, lägen nicht vor.
Dabei umfassen die Voruntersuchungsberichte, die die Freiburger aus Dresden erhalten haben, mehrseitige Dokumentenverzeichnisse, darunter mindestens eine fachärztliche Stellungnahme und ein Vernehmungsprotokoll der Kriminalpolizei. So etwas habe man nicht, beharrt Freiburg. Doch diese Papiere wurden nachweislich an das Büro der für das Bistum zuständigen Missbrauchsbeauftragten geschickt. Trotzdem sagt Freiburg: Ellen Adlers Vorwürfe seien „nicht bewiesen oder plausibilisiert“.
Es ist nicht der einzige Vorgang, der irritiert. Nach monatelangem Hin und Her über einen Antrag Adlers auf Anerkennung erlittenen Leids telefonieren die beiden Bischöfe im November 2020. Danach ist Freiburg bereit, das Anerkennungsverfahren, in dem es auch um eventuelle Zahlungen an die Betroffene gehen könnte, zu übernehmen.
Post aus Dresden, die in Freiburg nicht ankommt?
Allerdings gebe es bislang „kein offizielles schriftliches Gesuch des Bistums Dresden auf Übernahme des Anerkennungsverfahrens durch die Erzdiözese Freiburg“, so das Ordinariat im Breisgau. In Dresden hält man dagegen: „Dieses Schreiben ist am 26.11.2020 per Einschreiben/Rückschein verschickt worden.“
Müsste es nicht vor allem für Freiburgs Erzbischof Burger wichtig sein, dem Vertuschungsvorwurf gegen den Pallottiner-Provinzial nachzugehen? Schließlich sind es Patres dieses Ordens, die im Erzbistum Gottesdienste halten und Sakramente spenden - in Dresden aber nicht.
Pallottiner-Chef Scharler erklärt, es sei seinem Orden ein wichtiges Anliegen, dass gegen sexuellen Missbrauch von Minderjährigen und schutzbedürftigen Erwachsenen konsequent vorgegangen werde. Im Fall von Ellen Adler verweist er auf das laufende Verfahren in Rom.
Vertuschungsvorwurf in der Versenkung verschwunden
In der Versenkung verschwunden ist derweil das Vertuschungsverfahren gegen Scharler. Dresden teilt dazu mit, die Untersuchung gegen Scharler sei „hier nicht zu Ende geführt worden“. Die Ergebnisse der Voruntersuchung gegen Pater Vogt und Pater Hahn aber seien dem Generalrektorat der Pallottiner in Rom bekannt; aus denen werde „die Verantwortung des Provinzials erkennbar.“ Ansonsten sei man für Scharler nicht zuständig. Ausweislich eines Schreibens an Adler lief die Untersuchung gegen Scharler noch Ende Oktober 2020.
Freiburg indes steht gar auf dem Standpunkt, von einem Voruntersuchungsverfahren gegen den Provinzial der Pallottiner nicht zu wissen. Dabei war man im Breisgau im März 2020 schriftlich über alle drei Verfahren informiert worden, behauptet zumindest das Bistum Dresden. Die Sachsen stellen außerdem fest: „Der Erzbischof von Freiburg wurde durch den Bischof von Dresden-Meißen mündlich von der Einstellung des Verfahrens unterrichtet.“
Die Causa beschäftigt den Vatikan weiter. Der Dresdner Bischof hält an seinen Verfügungen fest. „Wie auch immer die Entscheidung der römischen Kongregationen ausfällt, kann diese nicht die Verpflichtung beinhalten, die Beschuldigten im Bistum Dresden-Meißen einzusetzen.“
Während die Kirchenoberen streiten, fühlt sich Ellen Adler nicht einmal mehr wahrgenommen. Seit dem Telefonat der zwei Bischöfe wolle man auch in Dresden nicht mehr mit ihr reden, sagt sie.
Was es für Deutschlands Bischöfe bedeutet, wenn jeder die neuen Regeln anders interpretiert, steht auf einem anderen Blatt. „Transparenz, Einheitlichkeit und Betroffenensensibilität werden jetzt verbindlich“, hatte ihnen der Unabhängige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, im Sommer bescheinigt. Im Fall Adler ist davon wenig zu spüren.
*Südwest-Korrespondent der Badischen Zeitung.
** Namen von der Redaktion geändert
Sind Sie betroffen von sexueller Gewalt, ob in der Kindheit oder als Erwachsene? Unter anderem folgende Institutionen bieten Betroffenen Beratung und Hilfe an.