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"Ich bin ein klassischer Systemsprenger"

Achim ist obdachlos in Dresden und hat psychische Probleme. Das Projekt "Chancen für Chancenlose" gibt ihm das Gefühl, wieder gebraucht zu werden.

Von Julia Vollmer
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Rouven und Achim beim Ziegel putzen auf dem Gelände der Synagoge an der Eisenbahnstraße.
Rouven und Achim beim Ziegel putzen auf dem Gelände der Synagoge an der Eisenbahnstraße. © Marion Doering

Dresden. Sein Schlafsack heißt Achim. Mit ihm verbringt er seit gut zwei Monaten jede Nacht. Er rollt ihn jeden Abend an einem Ort im Dresdner Hechtviertel aus und morgens wieder zusammen. "Wo genau ich schlafe, möchte ich lieber nicht sagen, damit die Behörden nicht darauf aufmerksam werden", sagt Achim, der sich in diesem Text den gleichen Namen geben möchte wie sein treuer Begleiter. Wie er richtig heißt, auch das möchte er lieber für sich behalten. Denn Achim ist obdachlos und damit verbunden ist, wie bei den meisten Betroffenen, eine große Scham.

Seit gut acht Wochen lebt der 26-Jährige in Dresden, musste raus aus der Stadt und der Wohnung, in der er vorher gelebt hat. Als Grund nennt er Konflikte, möchte aber nicht näher darauf eingehen. "Ich bin erwerbsunfähig, da ich ein Trauma und psychische Probleme habe", erzählt er. Außerdem leidet er an ADHS.

Diese Abkürzung steht für Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Dahinter verbirgt sich eine der häufigsten psychischen Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen. Charakteristisch für ADHS sind laut Bundesgesundheitsministerium ein übersteigerter Bewegungsdrang, Unaufmerksamkeit und Impulsivität. Dazu kommt bei Achim eine Suchterkrankung. Er war crystalabhängig, auch andere Substanzen hat er schon konsumiert. "Ich bin ein klassischer Systemsprenger", sagt er.

Arbeit als Anker und Tagesstruktur

Für Menschen wie Achim gibt es nun im dritten Jahr das Projekt "Chancen für Chancenlose". Leiter ist Rainer Pietrusky, gefördert wird das Projekt aktuell aus den Budgets von den Stadtbezirksbeiräten Neustadt und Altstadt mit 10.000 Euro pro Jahr. Am Montag stand im Stadtbezirksbeirat Neustadt eine Aufstockung von 12.500 Euro für das Projekt auf der Tagesordnung. Die Räte stimmten einstimmig dafür.

"Chancen für Chancenlose" will Wohnungslosen, Geflüchteten, Menschen mit Suchterkrankungen und Sozialstunden-Ableistenden eine Aufgabe bieten und Halt geben. Der Bedarf steigt. Angefangen hat Pietrusky mit zwölf Teilnehmern, in diesem Jahr waren es schon 54. "Etwa 50 Prozent kommen freiwillig, die andere Hälfte wird zugewiesen und muss Sozialstunden ableisten. Meistens nach Schwarzfahren", sagt Pietrusky.

Wie viele Sozialarbeiter bedauert er, dass das 9-Euro-Ticket ausgelaufen ist. "Das bot unseren Adressaten die Chance der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und sie mussten nicht mehr aus Geldnot ohne Ticket fahren." Gekauft hat er das Ticket für alle aus seinem Budget.

Regelmäßig gibt es Bildungstage und Pietrusky besucht mit den Frauen und Männern Museen, den Botanischen Garten oder den Zoo. "Viele unsere Klienten waren noch nie in ihrem Leben im Museum und sie waren ganz begeistert", erzählt er.

Aktuell helfen 34 Teilnehmer bei der Sanierung und dem Aufhübschen des Gebäudes und Geländes der neuen Synagoge an der Eisenbahnstraße und im Alaunpark. "Für unsere Teilnehmer ist es wichtig, dass sie eine Tagesstruktur haben und einen Grund, früh aufzustehen", erzählt Projektleiter Rainer Pietrusky. Und das funktioniere gut. Das Leben auf der Straße ist hart, da ist es wichtig, sich untereinander auszutauschen und Tipps zu geben. Wo gibt es eine warme Mahlzeit? Wo einen Schlafsack?

"Ich fühle mich wieder gebraucht"

"Es macht total Spaß, hier zu helfen, und ich fühle mich endlich mal wieder gebraucht", sagt Achim. Rainer Pietrusky fungiert dabei als väterlicher Freund und hört seinen Teilnehmern zu. "Viele haben eine Alkohol- oder eine andere Suchterkrankung und es tut ihnen gut, hier Teil eines Teams zu sein und täglich mit anderen in Kontakt zu kommen."

1,70 Euro bekommen sie pro Stunde für die Arbeit. Täglich drei Stunden sind sie geplant im Einsatz, bei Bedarf auch mal länger. Ausgezahlt wird in bar, meist am Freitag. "Das passt sehr gut, denn am Wochenende hat die Suppenküche auf der Kamenzer Straße geschlossen und sonst könnte ich mir am Samstag und Sonntag kein Essen und Trinken kaufen", sagt Achim. Er ist aktuell auch im Gespräch mit dem Sozialamt zur Unterstützung, erzählt er.