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"Legen Sie die Stulle weg, wir haben ein Spenderherz für Sie!"

Thomas Naumann ist 18 Jahre alt, als Ärzte ihm mitteilen, dass er ein neues Herz braucht. Inzwischen trägt der Dresdner seit über 20 Jahren ein Spenderherz in sich. Als "lebendiges Buch" will er anderen davon erzählen.

Von Juliane Just
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Mit 23 Jahren erhielt Thomas Naumann ein Spenderherz, das ihm das Leben rettete. Bei der Veranstaltung "Lebendige Bibliothek" spricht er über das Leben mit einem fremden Herz.
Mit 23 Jahren erhielt Thomas Naumann ein Spenderherz, das ihm das Leben rettete. Bei der Veranstaltung "Lebendige Bibliothek" spricht er über das Leben mit einem fremden Herz. © Christian Juppe

Dresden. Es gab einen Punkt in seinem Leben, in dem er keine Angst mehr hatte. Um Thomas Naumann steht es mit gerade einmal 24 Jahren so schlimm, dass für ihn klar ist: "Entweder ich sterbe oder ich bekomme ein Herz." Die Tage verschwimmen, sein Zustand verschlechtert sich, das Warten zerrt an den Nerven. Das ist 21 Jahre her. Seitdem trägt er ein fremdes Herz in sich.

Dies spüre man jedoch gar nicht. "Alle Nerven sind durchgeschnitten, man kann das Herz nicht spüren", sagt er. Es sei eine rein psychologische Sache. Überhaupt legt Thomas Naumann wenig Emotionalität in diese Sache, die sein ganzes Leben verändert hat. Der 45-Jährige wirkt in seinem ganzen Wesen gelassen. Nur die Denkfalten auf der Stirn lassen erahnen, dass sein Leben schon dunkle Tage hatte. Und zwar nicht wenige.

Es ist sein 18. Geburtstag, als Thomas Naumann erstmals krank wird. Bis dahin sei er ein gesundes Kind gewesen. Er hat grippeähnliche Symptome, was in den kalten Wintermonaten nichts Ungewöhnliches ist. Doch die Erkältung hört nicht mehr auf. Kurz vorm Abitur geht er zum Arzt in seiner Heimatstadt Großenhain. Das Herz. "Sie wissen, dass Sie ein großes Herz haben?", fragt ihn ein Arzt. Thomas Naumann kann damit nichts anfangen.

"Für mich war klar, dass ich ein neues Herz brauche"

Die Ärzte kommen medizinisch nicht weiter, der 18-Jährige wird ins Rudolf-Virchow-Krankenhaus in Berlin verlegt. Sein Herz, die zentrale Pumpe des menschlichen Körpers, wird wieder zum Laufen gebracht. Die Ärzte sprechen mit ihm und seiner Mutter, beide hören unterschiedliche Diagnosen. Sie ist der Überzeugung, es wird alles gut, das Herz hatte eben einen kleinen Aussetzer. Er: "Für mich war klar, dass ich ein neues Herz brauche - in zwei Jahren oder in 20."

Doch danach geht das Leben eben weiter. Ein Jahr später holt der inzwischen 19-Jährige das Abitur nach, das ihm der Klinikaufenthalt durchkreuzte. Er studiert Betriebswirtschaftslehre in Dresden und arbeitet nebenbei in Großenhain - wie junge Erwachsene es eben tun. Doch dann geht es ihm wieder schlechter. Er ist taumelig unterwegs, hat blaue Lippen, hinzu kommen Sodbrennen und Magenschmerzen. Doch er will es nicht wahrhaben, geht erst Monate später in die Klinik.

Dort wird klar: Dieser junge Mann, inzwischen ist er 24 Jahre alt, braucht dringend ein Spenderherz. Es ist April 2002, vier Monate wird er warten. Darauf, dass ein anderer Mensch stirbt, damit er leben kann. Thomas Naumann wird immer schwächer. Im Sommer wird er nach Hause entlassen, weil die Ärzte nichts für ihn tun können. In der ersten Woche Zuhause geht es ihm deutlich besser. "Aber man kennt es von anderen Geschichten: Das ist das letzte Aufbäumen vor dem Sterben."

Not-Operation: Eine Maschine hält den 24-Jährigen am Leben

Sein Gesundheitszustand kippt. "Mir war klar, dass ich sterben werde. Das Leben kroch aus mir heraus." Er kommt wieder auf die Intensivstation. Binnen zwei Tagen erleidet er drei Lungenembolien, bekommt keine Luft mehr. Es fühle sich an, als würde man langsam ertrinken. "Es war eine schlimme Phase. Mein Kopf war ruhig, aber mein Körper hat gearbeitet." Als wären Körper und Geist getrennt voneinander, so beschreibt er es.

Die Mediziner setzen dem jungen Mann in einer Not-Operation ein Kunstherz ein, um sein Leben zu retten. Als er aufwacht, sieht er zwei riesige Schläuche an seinem Brustkorb. Neben ihm steht eine monströse Maschine, die das Blut durch seine Adern pumpt. Für Thomas Naumann bricht eine Welt zusammen. "Ich dachte: 'Wenn du das überlebst, hast du ein neues Herz'", sagt er. Mit dieser Maschine wieder leben zu lernen, scheint ihm schier unmöglich.

Diese Wochen sind prägend für Thomas Naumann, für sein Leben, seinen Charakter. Genau deshalb will er darüber reden und schlüpft sozusagen in die Rolle eines sprechenden Buches. Er ist einer von neun Menschen, die bei der Veranstaltung "Lebendige Bibliothek" im Dresdner Kulturpalast von sich erzählen. Die Idee dahinter: Anstatt echter Bücher können sich Interessierte die "lebendigen Bücher" für ein gemeinsames 1:1-Gespräch "ausleihen".

In der lebendigen Bibliothek sollen Menschen ins Gespräch kommen, die sich vielleicht im normalen Leben nie getroffen hätten. Es soll Vorurteile abbauen und Horizonte erweitern. In Dresden findet die Veranstaltung bereits zum dritten Mal statt und wird vom Verein Kaleb Dresden und der Zentralbibliothek organisiert. Ganz verschiedene lebendige Bücher sind dabei, die ihre Geschichte erzählen und Fragen beantworten: Eine Künstlerin, die vom Leben in ihrer dritten Heimat spricht. Ein Kolumbianer, der von einer Krebspatientin das Leben zu lieben gelernt hat. Eine vierköpfige Familie, die ohne Auto lebt.

Vom Kunstherz zum Spenderherz

Am Samstag wird Thomas Naumann auch von einem Moment erzählen, der ihn in ein neues Leben führt. Er liegt immer noch auf der Berliner Intensivstation, Schläuche imitieren sein Herz seit einer Woche. Er hat gerade zwei Bissen von seinem Abendbrot genommen - das weiß er noch genau -, als eine Ärztin in sein Zimmer kommt und sagt: "Legen Sie die Stulle weg, wir haben ein Spenderherz für Sie!" Ein Moment, für den ihm heute noch die Worte fehlen. "Ich wusste, dass die extremen Wochen vorbei sind", sagt er. Am 5. September 2002 transplantieren ihm Mediziner in einer achtstündigen Operation ein Spenderherz.

Thomas Naumann hatte Glück, doch es gibt zahlreiche Menschen in Deutschland, die nach wie vor auf das lebenswichtige Organ warten. Ende 2022 standen laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 699 Patienten auf der Warteliste für eine Herztransplantation. Insgesamt wurden 358 Herzen im Jahr 2022 in Deutschland transplantiert.

Die Erfolgsaussichten dieser schweren Operation verbessern sich mit neuen Entwicklungen in der Medizin stetig. Heute arbeiten von 100 transplantierten Herzen ein Jahr nach der Operation noch etwa 80. Nach fünf Jahren sind es noch 70. Diese Daten wurden europaweit in einer Studie über einen Zeitraum von 1990 bis 2021 erfasst.

"Ich hatte Angst, dass ich gar keine Gefühle mehr spüren kann"

Für Thomas Naumann verschwimmen die Tage nach der Transplantation wieder - zwischen Durst, Stimmen und Geräuschen, die er nicht zuordnen kann. Nach vier Wochen ist alles überstanden. Seither nimmt Thomas Naumann Medikamente, damit sein Körper das fremde Organ nicht abstößt. Ein Jahr habe er gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen.

In dieser Zeit ändert sich seine Einstellung zum Leben. Viele Dinge nehme man entspannter und gelassener hin. Manchmal vielleicht sogar zu gelassen: "Ich hatte Angst, dass ich gar keine Gefühle mehr spüren kann."

Im Frühjahr 2003 zieht es Thomas Naumann von Zuhause weg. Eine eigene Wohnung, ein richtiger Abschluss - er wollte das, was junge Menschen eben tun. Er macht einen Fremdsprachenabschluss, studiert Philosophie und Geschichte an der TU Dresden, arbeitet nebenbei. Das Leben geht weiter. Er lernt eine Frau kennen, verliebt sich.

Muskelerkrankung griff zuerst das Herz an

Erst Jahre später wird der Grund für sein Herzleiden gefunden. Thomas Naumann hat eine Muskelerkrankung, die zuerst den stärksten Muskel im Körper angreift: das Herz. Nachdem das Spenderherz sein Leben gerettet hatte, gaben andere Muskeln auf. Es begann damit, dass das Treppensteigen anstrengender wurde. Jahre später brach er sich beim Gehen das Sprunggelenk. Seit 2013 sitzt er im Rollstuhl, weil seine Muskeln zu schwach sind und die Gefahr zu groß ist. Sein zweites Kind war gerade auf der Welt, als er zum Rollstuhlfahrer wurde.

Inzwischen lebt Thomas Naumann mit seiner Frau und zwei Kindern in Dresden. Er arbeitet bei der Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe Sachsen und ist dort Experte für bauliche Barrierefreiheit. Sein Leben ist in den richtigen Bahnen. Wie lange das Spenderherz noch in seiner Brust schlägt, weiß keiner. Doch für Thomas Naumann ist klar: Er will leben, wollte er immer.

Die Veranstaltung "Lebendige Bibliothek" findet am 17. Juni in der Zeit von 10 bis 13 Uhr in der Zentralbibliothek Kulturpalast statt. Der Eintritt ist frei.