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In Obhut genommene Kinder in Dresden: "Es ist schwierig, wenn Kinder das Gefühl haben, dass sie nirgendwo gewollt sind"

Das Jugendamt Dresden hat 2023 hunderte Kinder in Obhut genommen - aus überforderten Familien, aber auch junge Geflüchtete. Zu viele: Die Personallage im Kindernotdienst bereitet Amtsleiterin Sylvia Lemm Sorgen.

Von Julia Vollmer
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Dresdens Jugendamtsleiterin Sylvia Lemm sieht die hohe Zahl an Kindern und Jugendlichen, die aus Familiengeholt werden oder allein nach Deutschland einreisen mit großen Sorgen.
Dresdens Jugendamtsleiterin Sylvia Lemm sieht die hohe Zahl an Kindern und Jugendlichen, die aus Familiengeholt werden oder allein nach Deutschland einreisen mit großen Sorgen. © Sven Ellger, dpa/Paul Zinken

Dresden. Sie sind allein unterwegs, werden gehäuft oft am Hauptbahnhof von der Bundespolizei aufgegriffen und dann in Obhut genommen: Jugendliche, die aus ihrem Heimatland flüchten müssen. Hunderte Fälle wie diese gab es in diesem Jahr. Jugendamtsleiterin Sylvia Lemm versucht mit ihrem Team, diesen jungen Menschen gerecht zu werden.

Frau Lemm, in diesem Jahr sind viele Geflüchtete nach Dresden gekommen - auch sehr viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete. Wie lange müssen die Kinder und Jugendlichen bei Ihnen untergebracht werden?

Die unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, die wir in Obhut nehmen müssen, sind gerade sehr lange im Kinder- und Jugendnotdienst. Eigentlich sind vier bis sechs Wochen das Ziel, aber manche sind auch mehrere Monate lang dort, weil Plätze in Anschlusswohnformen fehlen.

Gehen die Kinder währenddessen in die Schule?

Es gibt in dieser Zeit teilweise keine Beschulung und das ist nicht gut. Es gibt aber auch viele Jungs, die jetzt dort leben und schon eine Schule besuchen. Aber da ist noch Luft nach oben.

Wie viele Menschen haben Sie in Obhut nehmen müssen?

Von Januar bis Ende Oktober haben wir 810 unbegleitete junge Menschen in Obhut genommen. 109 davon bringen wir gerade unter. Die Hauptherkunftsländer sind immer noch Syrien, Afghanistan und die Türkei, es kommen aber auch ein paar Minderjährige aus der Ukraine und aus Somalia.

Wo werden die jungen Menschen gerade untergebracht, wenn im Kinder- und Jugendnotdienst akute Platznot ist?

Sie leben zurzeit alle in den Kinder- und Jugendnotdiensten und Inobhutnahmestellen, weil wir nicht wissen, wo wir sie sonst unterbringen sollen. Das Ziel ist aber immer, dass wir die Kinder in Dresden unterbringen, da sie keinen erneuten Beziehungsabbruch erleben sollen. Und wenn sie einen Schul- oder Ausbildungsplatz haben, sollen sie den auch behalten dürfen.

Ist geplant, noch mehr Plätze zu schaffen?

Die freien Träger schaffen stationäre Wohnformen für alle - für deutsche Jugendliche und auch für Jugendliche aus anderen Herkunftsländern. Ein Teil der Träger bringt auch junge unbegleitete Geflüchtete unter. Diese sind in der Regel älter als 14 Jahre, es sind aber auch mal welche dabei, die erst zehn Jahre alt sind. Wir haben aktuell zu wenig Plätze, das stimmt, es gibt keine bedarfsgerechte Deckung.

Wie wollen Sie das lösen?

Wir sind im Gespräch mit allen großen Trägern, um mehr Plätze zu schaffen. Das geht aber nicht von heute auf morgen, denn Personalsorgen gibt es an allen Ecken und Enden. Daher werden oft auch keine neuen Investitionen getätigt, wenn man nicht weiß, mit welchem Personal man diese Einrichtungen betreiben soll.

Seit Jahren haben Sie ein Problem mit der Personalsituation, es gibt unbesetzte Stellen im Kinder- und Jugendnotdienst. Wie ist da die aktuelle Situation?

Das stimmt. Die Personalsituation macht mir immer wieder Sorgen. Es gibt dort eine allgemeine Fluktuation und es gibt aktuell auch fünf offene Stellen.

Mussten Sie erneut selbst einspringen oder Mitarbeiter aus anderen Bereichen der Stadtverwaltung dort einsetzen?

Ich musste noch nicht wieder mit einspringen. Aber es gibt Mitarbeiter aus anderen Bereichen des Jugendamtes und aus dem Rathaus, die dort mithelfen. Viele Träger unterstützen uns auch dort, vor allem die Johanniter. Alleine schaffen wir das als Jugendamt nicht.

Wie wollen Sie die Situation lösen?

Eine Arbeitsmarktzulage für die Sozialarbeitenden, die der Stadtrat beschließen müsste, wäre ein Anreiz, mehr Fachkräfte zu gewinnen.

Im Notdienst leben nicht nur geflüchtete Minderjährige, sondern auch deutsche Kinder und Jugendliche. Wie viele Kinder mussten Sie in 2023 und 2022 in Obhut nehmen?

Insgesamt haben wir von Januar 2022 bis Oktober 2023 2.599 Kinder und Jugendliche in Obhut genommen. Davon waren 1624 unbegleitete junge Geflüchtete.

Das sind hohe Zahlen. Wo sehen Sie die Ursachen?

Das größte Thema ist nach wie vor die Überforderung der Eltern und der Fluchtkontext. Es werden aber auch zunehmend Kinder in Obhut genommen, die vorher schon in Pflegefamilien untergebracht waren und dort Integrationsprobleme haben. Auch Kinder, die in der stationären Betreuung leben, können manchmal aus unterschiedlichen Gründen dort nicht bleiben und müssen dort herausgenommen werden.

Aus welchen Gründen werden solche Konsequenzen gezogen?

Die Kinder und Jugendlichen sind heute auffälliger und haben mehr Schwierigkeiten im Gepäck. Viele sind nicht gruppenfähig, da sie zum Teil auch traumatische Erfahrungen machen mussten. Manche haben Probleme, sich an Regeln zu halten. Es gibt aber auch Probleme mit Konsum von Drogen und das ist in den Wohngruppen für Jugendliche nicht erlaubt. Einschreiten müssen die Träger auch, wenn eine Selbst- oder Fremdgefährdung vorliegt. Oft sind die Einrichtungen dann überfordert.

Welche Gründe führen dazu, dass die Einrichtungen überfordert sind?

Das ist natürlich auch ein Personalproblem. Es gibt ja oft sehr viele junge Kollegen und zu wenig gestandenes Personal. Wir müssen da dringend in Gespräche mit den Trägern gehen, weil die Kinder ja irgendwo leben müssen. Und Beziehungsabbrüche sind immer kontraproduktiv. Es ist schwierig, wenn Kinder das Gefühl haben, dass sie nirgendwo gewollt sind. Wir müssen dringend eine Lösung finden. Und wir müssen gemeinsam mit den Trägern schauen, was es braucht, damit das Personal nicht ständig an seine Grenzen kommt.

Wenn Sie die Kinder aus den Familien nehmen müssen, werden sie im besten Falle in einer Pflegefamilie untergebracht. Dort gibt es aber auch seit Jahren zu wenige. Wie ist da hier der Stand?

Das stimmt. Wir suchen dringend Pflegefamilien, denn hier ist der Bedarf deutlich gestiegen. Aber es gibt einen Rückgang bei Bewerbern.

Woran liegt das?

Die Familien schauen heute viel gründlicher in die eigene Situation. Wo stehe ich? Was will ich? Halten wir das aus? Die Verhaltensauffälligkeiten der Kinder haben sehr zugenommen, da sind zum Beispiel Babys von suchterkrankten Müttern, die viel weinen und Anpassungsstörungen haben. Das trauen sich viele nicht zu. Und Abbrüche der Beziehungen wollen wir unbedingt vermeiden. Viele Familien haben Angst, dass sie daran kaputtgehen und können das Kind nicht halten und geben es dann wieder in Obhut. Hier sind wir aber Ansprechpartner und helfen allen, die Fragen und Probleme haben.