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Leben im Rollstuhl: "In Dresden gibt es zu viele Hürden"

Seit 2020 ist Herbert Schnitzer auf den Rollstuhl angewiesen. Warum es zu Fuß nicht mehr geht, was das Handicap in Dresden für ihn bedeutet und welche Ideen er für die Stadt hat.

Von Nora Domschke
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Nicht selten ist der abgesenkte Bordstein - wie hier an der Hepkestraße - von einem unachtsamen Autofahrer zugeparkt. Für Herbert Schnitzer geht es im Rollstuhl an dieser Stelle nicht weiter.
Nicht selten ist der abgesenkte Bordstein - wie hier an der Hepkestraße - von einem unachtsamen Autofahrer zugeparkt. Für Herbert Schnitzer geht es im Rollstuhl an dieser Stelle nicht weiter. © Sven Ellger

Dresden. Die Diagnose kennt Herbert Schnitzer seit 1999. Multiple Sklerose, eine neurologische Erkrankung des zentralen Nervensystems, Lähmungserscheinungen gehören zu den ersten Symptomen. So war es damals auch bei ihm. Herbert Schnitzer stolpert, fällt hin, kann Dinge nicht mehr richtig greifen. Die Ärzte im Krankenhaus Bremen, wo Schnitzer zu diesem Zeitpunkt lebt, machen keinen Hehl daraus: "Das endet für Sie im Rollstuhl."

"Ich wollte es nicht wahrhaben. Für mich war es unvorstellbar, dass es in Europa Krankheiten gibt, die nicht heilbar sind." Auf die schleichende Form, die bei ihm diagnostiziert wird, trifft das tatsächlich zu. Mit der Realität wird er spätestens 2015 erschütternd konfrontiert: Laufen ohne Krücken oder Gehstock ist plötzlich nicht mehr möglich. Zwei Jahre später braucht er für längere Strecken den Rollstuhl, seit 2020 ist er permanent auf ihn angewiesen.

"Es ist nicht einfach", sagt der 65-jährige gebürtige Grazer. Doch er lässt sich nicht unterkriegen, arbeitet noch immer als beratender Ingenieur in der Bauwirtschaft - wenn es sein Zustand zulässt. Damit er weiter mobil ist, hat er sich ein Segway - das sind die elektrischen Zweiräder, auf denen man manchmal Touristen beobachten kann, die auf diesem Mobil stehend die City erkunden - zum Rollstuhl umbauen lassen.

Die Brandschutztüren, die Herbert Schnitzer auf dem Weg zur Tiefgarage öffnen muss, sind für ihn als Rollstuhlfahrer viel zu schwer. Ohne Hilfe kommt er hier nicht durch.
Die Brandschutztüren, die Herbert Schnitzer auf dem Weg zur Tiefgarage öffnen muss, sind für ihn als Rollstuhlfahrer viel zu schwer. Ohne Hilfe kommt er hier nicht durch. © Sven Ellger

"Der ist viel wendiger und einfacher zu bedienen als ein normaler Rollstuhl." Und doch hat auch das Hightech-Mobil seine Grenzen. Das erlebt Herbert Schnitzer bei Ausflügen rund um seine Wohnung in Striesen immer wieder. Der Stadtteil ist berühmt-berüchtigt für unebene Plattenwege, zum Teil sind sie gar nicht befestigt. Baumwurzeln sind zusätzliche Hürden.

An der Hepkestraße zeigt Herbert Schnitzer, wo es für ihn auf seinem Gefährt gar nicht weitergeht. Er kann ohnehin nur die Strecken wählen, auf denen die Fußwege abgesenkte Bordsteine haben. Ist dort allerdings ein Auto geparkt, hat Schnitzer keine Chance, die Straße zu überqueren. An der Hepkestraße ist genau das der Fall, doch er muss die Straßenseite wechseln, weil auf einer Seite der Straße der Gehweg gleich ganz fehlt. Da der abgesenkte Bereich zugeparkt ist, könnte er die Pkw-Einfahrt zur Tennishalle nutzen - doch der Bordstein ist zu hoch für seinen Rollstuhl.

"Ich könnte unzählige weitere Stellen zeigen, wo es für einen gehbehinderten Menschen sehr schwer ist oder es gar kein Weiterkommen gibt." Damit meint der Bauexperte auch Senioren, die auf den Rollator angewiesen sind. Kopfsteinpflaster, Granitplatten mit großen Fugen, Straßenbahnhaltestellen, Aufzüge - die Liste an Hindernissen in der Stadt ist lang.

Ohne Hilfe bleibt die Aussicht auf dem Balkon verborgen

"Ich weiß selbst, wie wenig das bei der Planung von Bauprojekten oft berücksichtigt wird." Das Kuriose: Er selbst hat das Wohnquartier, in dem er in einem Haus in der fünften Etage lebt, mit konzipiert. 2013 ist er für diesen Auftrag extra nach Dresden umgezogen, der Rollstuhl und die eigene Unbeweglichkeit waren da für ihn noch in weiter Ferne.

Die Wohnungen in dem als Pegasus-Siedlung bekannten Quartier sollten altersgerecht und zumindest barrierearm sein. Dass das an vielen Stellen nicht geklappt hat, muss Herbert Schnitzer nun im Alltag schmerzlich erleben.

Zum Beispiel an seinem Balkon. "Wir hatten damals überlegt, den Austritt ebenerdig zu machen. Letztlich haben wir uns - auch aus Kostengründen - dagegen entschieden." Ohne die Hilfe seiner Frau kann Schnitzer die Aussicht von seinem Balkon heute nicht genießen - für den Rollstuhl ist die hohe Kante unüberwindbar. Und auch die Türen in der Wohnung sind zu schmal, da ist Millimeterarbeit gefragt.

Ein weiteres Beispiel: Die beiden Brandschutztüren, die auf dem Weg in die Tiefgarage zu öffnen sind. Schnitzer zeigt, dass es für unmöglich ist, die schweren Stahlkolosse vom Rollstuhl aus allein aufzumachen. "Vor Kurzem ging außerdem der Aufzug in meinem Haus nicht und ich konnte drei Tage meine Wohnung nicht verlassen." Viel zu lange dauert es, bis ein Aufzug repariert ist, sagt Schnitzer. "Wenn man in der eigenen Wohnung regelrecht gefangen ist, fühlt man sich absolut hilflos."

"Ich will nicht meckern, aber aufmerksam machen"

Apropos Tiefgarage: Auch beim Thema Auto scheitert Herbert Schnitzer derzeit an einem Formular, das ihm eine Fahrschule ausstellen muss. Er hat seinen Wagen auf Handgas umgerüstet, nun muss er eine Fahrprobe absolvieren, bei der ihm ein Fahrlehrer attestiert, dass er die Technik beherrscht. Seit Mai ist das Auto umgerüstet - die Bescheinigung hat er noch immer nicht.

Drei Fahrschulen gebe es in Dresden, die das überhaupt anbieten. Eine habe gleich abgewunken, das werde nicht mehr gemacht, so die Aussage. Eine andere sei nicht erreichbar gewesen, nun hat es nach langem Hin und Her bei der dritten Fahrschule geklappt. Ende Oktober hat er einen Termin bekommen.

"Ich möchte gar nicht meckern, da ich selbst weiß, wie wenig Beachtung man dem schenkt, wenn man nicht betroffen ist." Aber Herbert Schnitzer möchte aufmerksam machen und an jene appellieren, die einem Rollstuhlfahrer das Leben etwas erleichtern könnten. Etwa Autofahrer, die seinen Bereich zuparken. Oder Stadtplaner, wenn es um barrierefreie Gehwege geht. "Selbst die abgesenkten Bordsteine sind oft noch zu hoch."

Als gutes Beispiel führt Schnitzer die norddeutsche Stadt Kiel an, wo er ebenfalls eine Wohnung hat und oft in der Stadt unterwegs ist. Gehwege mit unebenen Platten seien dort kein Thema. Und mit seinem Rollstuhl nutze er meistens das gut ausgebaute Radwegenetz. "Vielleicht eine Anregung für Dresden", sagt er.