Dresden. Auch große Emotionen müssen leise sein. So ist die Regel im Hinterraum eines Gebäudes am Dresdner Altmarkt. Zehn Männer sitzen einander schweigend gegenüber. Ihre Smartphones werden einkassiert. Ein Schiedsrichter mit Metalldetektor stellt sicher, dass sie kein zweites Handy dabei haben. Ein älterer Herr mit weißem Haar stützt seinen Kopf in die Hände. Die Handflächen liegen auf seinen Ohren, fast so, als wäre ihm sogar die Stille zu laut.
Wer den Männern zusehen will, wird ebenfalls zur Ruhe ermahnt. Nur Flüstern ist geduldet. Denn hier findet das Turnier zu Ehren von Schachgenie Wolfgang Uhlmann statt, der für die DDR viele Preise errang und zu den bedeutendsten Dresdner Sportlern gehört. Er war ein Großmeister, so heißt der höchste Rang, den der Weltschachbund vergibt. Ehrensache also, dass auch bei dem Turnier mehrere Großmeister mitmischen.
Im Raum vor dem Turnier-Ort, nur durch einen Vorhang getrennt, hat der "Förderverein Schach Wolfgang Uhlmann" dessen Schachnachlass ausgestellt. Preise, Pokale und besondere Schachfiguren sind darunter.
Wolfgang Uhlmann wurde erkannt, die Dynamo-Spieler nicht
Doch für Hans Bodach sind in dem Raum an der Wilsdruffer Straße mehr als nur Gegenstände zu bestaunen. Er ist der Vorsitzende des Fördervereins zu Ehren Uhlmanns. Für ihn sind es Geschichten, die er mit dem Schachgenie verbindet. Uhlmann wurde 1935 in Dresden geboren und starb 2020 ebenfalls dort.
Ein Banner in der Ausstellung erzählt von seinen Erfolgen: 27 internationale Turniersiege, 11 DDR-Meistertitel, 11 Teilnahmen an Schacholympiaden. "In seiner besten Zeit gehörte er zu den Top zehn Schachspielern der Welt", sagt Bodach.
Einem Ehepaar, das zu Besuch in Dresden ist, fällt das große Schachfeld auf, dass vor der Ausstellung aufgebaut ist. Um die Bedeutung und Bekanntheit von Uhlmann zu unterstreichen, erzählt Bodach ihnen eine Anekdote, die er Mitte der 1980er-Jahre mit der Schachlegende erlebte. "Wir flogen von Dresden nach Leningrad (heute Sankt Petersburg), weil dort ein Turnier stattfand. Am Dresdner Flughafen fiel uns auf, dass mehrere Männer einfach durch die Kontrollen gewunken wurden."
Es habe sich dann herausgestellt, dass es sich dabei um Fußballspieler von Dynamo Dresden gehandelt habe. "Als die Maschine in Russland gelandet war, erkannten das Flughafenpersonal dort jedoch Wolfgang Uhlmann. Sie schleusten uns an der Kontrolle vorbei und zuerst in den Bus, indem später auch die Spieler von Dynamo Platz nahmen." Trotz seiner Erfolge und seines Ruhmes sei Uhlmann jedoch immer ein bescheidener Mann gewesen, sagt Bodach.
Bei dem Turnier in Dresden ist auch Ingrid Lauterbach als Schiedsrichterin vor Ort. Sie ist die Präsidentin des Deutschen Schachbundes.
90.000 Mitglieder hat der Verband, nur zehn Prozent sind Frauen. Lauterbach ist seit 146 Jahren die erste Frau an der Spitze des Verbandes. Schach wird oft das "Spiel der Könige" genannt, doch auf dem Feld ist die Dame die mächtigste Figur. Und auch neben dem Schachbrett sind die Damen also auf dem Vormarsch.
Corona und das Internet haben Schach verändert – und populärer gemacht
Der Frauenanteil im Verband habe mal bei zwei Prozent gelegen, unter den Jugendlichen sei nun schon ein Viertel weiblich. Geholfen hat eine beliebte Netflix-Serie mit passendem Titel: "The Queen's Gambit". Die Serie erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die in den 1950ern die von Männern dominierte Schachwelt erobern will.
"Die Serie hat uns extrem geholfen. Schach ist auch Schulen mittlerweile sehr beliebt", sagt Lauterbach. Schach ist für sie ein Sport, der Generationen verbindet. Das sieht auch Karsten Wieland so. Der 61-Jährige ist der Hauptschiedsrichter des Turniers, spielt Schach bei Chemie Radebeul. "Im Schach kann ein 80-jähriger Opa mit seinem zehnjährigen Enkel spielen - und beide können gewinnen", sagt er.
Corona und das Internet hätten Schach Auftrieb gegeben. Im Internet gebe es viele Schachvideos, Turniere würden dort ganz anders kommentiert, so Wieland. "Die machen das in ihrer Internetsprache." Vor allem ließ sich während der Pandemie online weiter Schach spielen. Andere Sportarten konnten nicht ins Internet ausweichen.
Vor der Pandemie habe sein Verein 27 Mitglieder mit einem Durchschnittsalter von 63 Jahren gehabt. Nun sind es 57 Mitglieder, die es auf ein Durchschnittsalter von 39 Jahren bringen.
Ein Hauch "Central Park" in der Dresdner Innenstadt
Als Bodach gerade die Exponate seiner Ausstellung präsentiert, stellt sich ein Jugendlicher dazu. "Kann ich dir helfen", fragt Bodach verdutzt. "Ich will nur zuhören", entgegnet Maximilian. Der 14-Jährige lernte Schach in einem GTA an seiner Grundschule, nun spielt er Schach im Verein. Bei dem Turnier darf er zugucken und Hilfsaufgaben ausführen. Er wischt den Boden und ermahnt zur Ruhe.
"Hier dabei zu sein und echten Großmeistern beim Spielen zuzuschauen, sowas gab es für mich in Dresden noch nicht", schwärmt er. Etwa zehn Stunden Schach spiele er die Woche, oft online. Er schaut einen YouTube-Kanal, auf dem Schachspiele nachgestellt werden, auch die von Uhlmann. Der war bekannt für eine Schachstrategie, die "französische Verteidigung", die auch Maximilian gerne spielt.
In der Ausstellung sind Schachbretter aufgebaut, Passanten können hereinkommen und spielen. "Ein Treff für Schachspieler, so zentral in der Innenstadt, das fehlt in Dresden noch. Andere Großstädte haben das", sagt Bodach. Legendär beispielsweise die Freiluft Schachbretter im Central Park in New York. Zumindest für eine Woche gibt es offene Bretter auch in der Dresdner Innenstadt. Möglich gemacht vom Verein "Wir Gestalten Dresden", der die Räumlichkeiten stellt.
Und so kommen im Gedenken an die DDR-Schachlegende für eine Woche Schachprofis, Ehrenamtliche und eine neue Generation an Schachfans zusammen, um den Sport zu zelebrieren, der Wolfgang Uhlmann lebenslang so viel bedeutet hat.