Merken

„Es gab nur Kohlsuppe und Tee“

Ein Thüringer sitzt 1988 wegen versuchter Republikflucht in Zeithain ein. Er behilft sich mit Babynahrung. Ein Teil der Serie "Zwischen Haft und Hölle".

Von Antje Steglich
 5 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Vieles in der JVA Zeithain erinnert an die Vergangenheit als Strafvollzugseinrichtung. Einer der beiden Wachtürme steht noch, er wird aber nicht mehr genutzt.
Vieles in der JVA Zeithain erinnert an die Vergangenheit als Strafvollzugseinrichtung. Einer der beiden Wachtürme steht noch, er wird aber nicht mehr genutzt. © Sebastian Schultz

Lieber unrasiert in Hamburg aus der Blechbüchse schauen, als in der Zone aus dem Neubau winken, steht am 13. Dezember 1977 auf einer Wand im Stabwalzwerk Riesa. Häftlinge aus der Strafvollzugseinrichtung Zeithain, die dort arbeiten, haben die „Hetzlosung“ angebracht, heißt es im monatlichen Bericht des Leiters an die Dresdner Behörde des Strafvollzugs. 

Tatsächlich ist der Zeithainer Knast nicht der Schlimmste der Republik, sagt auch Gerrit Kröning. Der im September 1977 eingeweihte Neubau gilt sogar als die modernste der 44 Strafvollzugseinrichtungen (StVE) der DDR. Ein Zuckerschlecken ist die Zeit dort dennoch nicht.

Gerrit Kröning ist 22, als er einfährt. Verurteilt wegen versuchter Republikflucht, gehört er zur Mehrheit der politischen Häftlinge in Zeithain. Offiziell ist in dem vierstöckigen Hafthaus Platz für 680 Gefangene, Zeitzeugen sprechen kurz vor der Wende sogar von knapp 800. 

 Im Keller des alten Hafthauses befanden sich einst Arrestzellen, heute vor allem Lagerräume. Die Türen sind zum Teil noch original. 
 Im Keller des alten Hafthauses befanden sich einst Arrestzellen, heute vor allem Lagerräume. Die Türen sind zum Teil noch original.  © Sebastian Schultz

Die meisten von ihnen sind unter 25 Jahre alt und müssen wegen Rowdytums oder versuchter Republikflucht Strafen bis zu zwei Jahren absitzen. Mit 15 anderen Männern teilt sich Gerrit Kröning 1988 eine Zelle. Die besteht aus zwei Räumen, erinnert sich der gebürtige Saalfelder, der heute in Unterfranken lebt. In dem Aufenthaltsraum stehen drei Tische und Bänke, im Schlafraum nebenan drängen sich acht Doppelstockbetten. Dort gibt es auch ein WC, „das war aber nur im absoluten Notfall zu benutzen, wenn jemand krank war oder so. Sonst wäre das nicht zu ertragen gewesen.“ Stattdessen nutzen die Männer die Gemeinschaftstoiletten und Nasszellen auf dem Flur. Sie sind nach Arbeitskommandos in den Zellen aufgeteilt und haben einen straffen Tagesablauf.

Vier Uhr morgens wird geweckt, danach die Zellen gereinigt und rasiert. „Das war zehnmal schlimmer als bei der Armee. Die Schikane begann schon bei den Alltagsdingen“, erinnert sich der heute 53-Jährige. „Wir mussten die Betten jeden Tag so lange streicheln, bis sie perfekt aussahen. Keinerlei Falten und Knicke. Das war nicht leicht mit einer Filzdecke und der minderwertigen blau-weiß-karierten Bettwäsche.“ Um sechs geht es mit Bussen zur Arbeit ins Stahlwerk, gegen sechs Uhr abends ist man zurück. „Da war aber noch lange kein Feierabend, die Zelle musste dann noch mal gereinigt werden.“ 22 Uhr ist Zählappell und Einschluss. „Man war auch kaputt von Arbeit, trotzdem konnte ich oft nicht schlafen. Ich habe dann am Tisch gesessen und aus dem Fenster geschaut“, sagt Gerrit Kröning. Nicht selten quält ihn dabei der Hunger. Denn „das Essen war ein totaler Witz. Meist gab es nur Kohlsuppe und Tee. Kein Fleisch. Nichts, was Power gibt.“ Innerhalb weniger Wochen baut der junge Mann gesundheitlich extrem ab. Von dem Geld, das die Häftlinge für die Arbeit bekommen, kaufen sie sich im kleinen Gefängniskonsum Babysan – ein Trockenmilchpulver für Kleinkinder – und das Kakaopulver Trinkfix. „Das haben wir zusammengemixt und getrunken, sonst wären uns die Zähne ausgefallen“, sagt Gerrit Kröning.

Gerrit Kröning ist gebürtiger Thüringer und lebt jetzt in Bayern. 1988 saß er für knapp sechs Monate im Zeithainer Gefängnis. 
Gerrit Kröning ist gebürtiger Thüringer und lebt jetzt in Bayern. 1988 saß er für knapp sechs Monate im Zeithainer Gefängnis.  © privat

Freizeitbeschäftigung gibt es quasi keine. Mal ein Kartenspiel. Und natürlich der vorgeschriebene einstündige Hofgang, bei dem die Häftlinge im Hof Runden laufen müssen. Der Fernsehraum ist meist verwaist. „Wir durften keine Musik hören, kein TV sehen, nur die Aktuelle Kamera um 19.30 Uhr war Pflicht“, sagt Gerrit Kröning. Pflicht ist auch die „Presseschau“, bei der die Häftlinge aus dem „Neuen Deutschland“ vorlesen müssen. „Das war für uns sehr grausam. Jeder kam einmal dran und musste die Nachrichten der SED vortragen. Natürlich las ich besonders schlecht vor und machte auf blöd.“ Allerdings sind die Häftlinge ständig auf der Hut. Denn Vergehen werden mit Arrest oder Kollektivstrafen geahndet. „Es gab keine offene Folter im Gefängnis, aber wenn niemand dabei war, hat man durchaus auch mal eine geschossen gekriegt“, so Gerrit Kröning. Vor allem ein Wachmann, den alle nur „Cowboy“ nennen, ist dafür bekannt. Besser haben es nur die echten Kriminellen, sagt Gerrit Kröning, Diebe und Schläger werden gegenüber den politischen Häftlingen bevorzugt. Sie schlafen in Viererzellen, bespitzeln die anderen und haben das Sagen auf der Station. Es gibt nicht selten Schlägereien. „Die waren wie Kapos“, so der 53-Jährige. Das Wachpersonal nennt diese Männer Ordner und dulden die Hierarchie.

Entweichungen beziehungsweise -versuche gibt es ein bis zwei jeden Monat – sie sind akribisch in den Monatsrapporten der Leitung dokumentiert. Die Wenigsten sind erfolgreich und die Konsequenzen hart. Die Arbeitskommandos und vor allem das Gefängnis werden gut bewacht. Am Rand der StVE stehen zwei Wachtürme, die mit bewaffneten Posten besetzt sind. Aggressive Rottweiler und Schäferhunde laufen frei zwischen der Betonmauer und dem Stacheldrahtzaun unter Hochspannung, die das Areal umgeben. Zur Sicherheit werden die Häftlinge beim Ein- und Ausrücken immer wieder durchsucht. Bohnenkaffee, Schuldscheine, Tätowier-Werkzeug und pornografische Bilder werden des Öfteren sichergestellt, heißt es in den Akten. Aber auch mal ein zur Stichwaffe umgebauter Besenstiel. Privatsphäre gibt es für die Häftlinge nicht – dafür viele Psycho-Spielchen.

Der Kuchen der Mutter zum 23. Geburtstag wird vor seinen Augen sinnlos zerstört, erzählt Gerrit Kröning. Der Arzt verweigert bei Zahnschmerzen die Behandlung: „Er schaute in meine Akte und sagte: ,Paragraf 213 und 214, sehr interessant. Gehen Sie doch im Westen zum Zahnarzt, kann aber noch dauern’.“ An einem anderen Tag sollen die Häftlinge geimpft werden. Wogegen, weiß keiner. Das Problem: Für die mehr als 500 Gefangenen gibt es nur eine Impfpistole. Die Häftlinge wehren sich – letztlich erfolgreich. Doch das ist eher die Ausnahme. „Man kann diese Methoden deuten, wie man will“, sagt Gerrit Kröning 30 Jahre später, „für mich war es die totale Hölle. Diese harten Arbeitsbedingungen und die ständige Angst waren unerträglich.“

>>> Weitere Teile der Serie: Von der Baracke zum modernsten Knast der DDR / Stumme Zeugen eines Haftlagers / Nachbarn in Riesa unter besonderer Beobachtung / „Überbelegung war typisch für den DDR-Strafvollzug“ / Das Haftlager mitten im StahlwerkStahlwerk baut modernsten Knast der DDR / Häftlinge bekamen hundert Mark im Monat