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Verlorene Kinder

Jedes dritte Paar erlebt eine Fehlgeburt. Ob die Sternenkinder beigesetzt werden, richtet sich in Sachsen nach dem Gewicht. Ein neues Gesetz soll nicht nur das ändern.

Von Kornelia Noack
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Familie Kohl besucht die Sternenkinder-Wiese in Dresden, wo sie zwei ihrer tot geborenen Babys anonym bestatten durften. Ihrem dritten Kind geht es gut.
Familie Kohl besucht die Sternenkinder-Wiese in Dresden, wo sie zwei ihrer tot geborenen Babys anonym bestatten durften. Ihrem dritten Kind geht es gut. © Thomas Kretschel

Die kleinen, farbenfrohen Grabstellen, geschmückt mit Steinengeln, Windmühlen, Herzen und Blumen wirken wie Farbkleckse an diesem tristen Januartag. Sie vermitteln ein Gefühl der Hoffnung – hier, an einem Ort der großen Trauer. Mehrere Tausend Kinder, die nie lebend das Licht der Welt erblickt haben, sind in den vergangenen 13 Jahren auf dem Neuen Katholischen Friedhof in Dresden beerdigt worden.

Mitten auf dieser „Wiese der Sternenkinder“ stehen Anja und Felix Kohl. Das junge Paar aus Dresden hat innerhalb eines Jahres zwei Kinder verloren. Beides waren absolute Wunschkinder, beide haben hier ihre letzte Ruhe gefunden, bevor ihr Leben überhaupt begonnen hat. Anja Kohl war in der 13. Woche, als ihre Frauenärztin bei einer Routineuntersuchung feststellte, dass das Herz des Kindes aufgehört hatte zu schlagen. Das zweite Baby verstarb, als Anja Kohl bereits in der 19. Woche war. „Wir spürten eine absolute Leere“, erinnert sich die 31-Jährige. Warum ausgerechnet wir? Diese Frage quälte das Paar lange Zeit.

Im Krankenhaus habe man sie auf den Verein Sternenkinder Dresden aufmerksam gemacht. Seit 2007 ermöglicht er es Eltern, ihre tot geborenen Kinder würdevoll zu beerdigen. „Es sind viel mehr Familien betroffen, als man denkt. Jede dritte Frau erlebt eine Fehlgeburt“, sagt Dr. Daniela E. Aust, Vorsitzende des Sternenkinder-Vereins und stellvertretende Direktorin des Instituts für Pathologie am Universitätsklinikum Dresden. Gemeinsam mit Ärzten, Hebammen, Mitarbeitern aus Hospizhäusern und Beratungsstellen, Bestattern und Betroffenen hat sie den Verein gegründet. Zweimal im Jahr organisieren sie eine anonyme Bestattung. Auch in anderen Städten, darunter Aue, Chemnitz, Leipzig und Görlitz, gibt es Sternenkinder-Initiativen. Sie alle sind gut miteinander vernetzt.

Anja und Felix Kohl mussten nicht lange überlegen. „Der Gedanke, die Kinder einfach im Krankenhaus zu lassen, war für uns nicht vorstellbar“, sagt Felix Kohl. „Sie bestatten zu lassen, war unser Weg, mit der Trauer umzugehen und einen Abschluss zu finden“, sagt der 36-Jährige.

Ob ein Kind auf Wunsch der Eltern beerdigt wird oder diese sogar gesetzlich dazu verpflichtet sind, hängt in Sachsen aktuell vom Gewicht des Babys ab. Nach dem Bestattungsgesetz gelten Kinder, die weniger als 500 Gramm wiegen, als Fehlgeburt und damit nicht als menschliche Leiche. „Das heißt, für die Beisetzung sind primär die Kliniken verantwortlich. Es besteht aber auch ein individuelles Bestattungsrecht für die Eltern“, sagt Aust. Vielen Familien sei diese Möglichkeit gar nicht bewusst. Aus diesem Grund will der Freistaat, der in diesem Jahr sein Bestattungsgesetz modernisiert, eine Informationspflicht darüber für alle Krankenhäuser einführen.

Für Ärzte, Eltern und Bestatter soll zudem klar geregelt werden, wann es sich um eine Totgeburt oder um ein sogenanntes Sternenkind handelt. Geplant ist, die Definition des Begriffs – wie in anderen Bundesländern auch – an das Personenstandsrecht anzupassen. So würde ein Baby künftig als tot geboren gelten, wenn es die 24. Schwangerschaftswoche erreicht hat – unabhängig vom Gewicht. Aus medizinischer Sicht mache dies mehr Sinn, sagt Aust. Ab der 24. Woche hätten Babys eine realistische Chance zu überleben. Und es bedeutet auch: Den Müttern werden dieselben Rechte auf soziale und medizinische Leistungen eingeräumt, wie Müttern lebend geborener Kinder in diesem Schwangerschaftsalter. „Es könnte aber auch heißen, wenn das Baby nach der 24. Woche verstirbt, sind die Eltern zu einer individuellen Bestattung verpflichtet“, erklärt Aust.

"Wir wollen sie nicht vergessen“

Felix Kohl, der selbst erlebt hat, wie unterschiedlich Menschen mit der Trauer umgehen, würde sich Offenheit wünschen. „Eltern, die ein ungeborenes Kind verlieren, sollten den Weg wählen dürfen, der für sie der Beste ist.“ Für ihn und seine Frau ist die Wiese der Sternenkinder heute zu einem Ort der Erinnerung geworden. Einmal im Monat kommen sie hierher, um ihrer zwei Schutzengel zu gedenken. „Sie gehören zu unserem Leben, zu unserer gemeinsamen Geschichte. Wir wollen sie nicht vergessen“, sagt Felix Kohl. Auch dem kleinen Jonas, der seit zwei Monaten zur Familie gehört, wollen sie später davon erzählen.

Die Regelung zur Bestattung von Sternenkindern ist nur eine von vielen Änderungen, die der Freistaat plant. Elf Jahre ist die letzte Novellierung des Sächsischen Bestattungsgesetzes her. Die Friedhof- und Bestattungskultur wandelt sich jedoch. Daher lädt die Landesregierung ihre Bürger auch ein, Wünsche und Vorstellungen mit einzubringen. „Es ist ein Thema, bei dem Jede und Jeder mitreden kann. Darum wollen wir es jetzt gemeinsam angehen“, sagt die zuständige Sozialministerin Petra Köpping. Bis zum 17. Januar können Sachsen anonym Stellungnahmen einreichen.

Ein Schwerpunkt bei der Novellierung dürfte die wachsende Nachfrage nach alternativen Bestattungsformen sein. Die Zahl der klassischen Sargbestattungen geht immer weiter zurück. Nach Angaben der Verbraucherinitiative Bestattungskultur Aeternitas liegt der Anteil der Erdbestattungen in Sachsen bei zehn Prozent, 90 Prozent sind Einäscherungen. Es gibt immer mehr pflegeleichte Urnengräber.

„Die Gesellschaft wird immer mobiler. Da drängt sich doch beispielsweise die Frage nach einer möglichen Umbettung einer Urne auf“, sagt Alexander Helbach von Aeternitas. Bisher sei das aufgrund der gesetzlichen Totenruhe nicht möglich. „Aber ist das noch zeitgemäß?“, so Helbach. Auch eine Regelung zur Teilung der Asche sei überlegenswert, wenn Sachsen moderner werden will. Streng genommen ist es nicht zulässig, einen Teil der Asche eines verbrannten Toten zu entnehmen. Es herrscht Bestattungszwang. „Viele Familien wünschen sich aber, ein Schmuckstück mit der Asche des geliebten Menschen zu füllen oder sie mit nach Hause zu nehmen“, sagt Helbach. „Sollten wir da nicht dem Wunsch des Verstorbenen mehr Platz einräumen?“ Laut Sächsischem Sozialministerium soll künftig zumindest das Verstreuen oder Vergraben der Aschenreste ohne Urne auf besonderen Grabflächen möglich sein.

Weitere Änderungen geplant

Weitere Veränderungen plant die Landesregierung unter anderem bei der ärztlichen Leichenschau, bei den Bestattungsfristen und bei der sprachlichen Gleichbehandlung von Frauen und Männern. Zudem soll die Digitalisierung voranschreiten: Künftig soll ein Arzt die gesamte Todesbescheinigung elektronisch ausstellen und an die zuständigen Stellen übermitteln dürfen. Bisher erfolgt dies größtenteils per Hand, was aufgrund der Unleserlichkeit nicht selten zu Übertragungsfehlern führt.

Zudem will Sachsen stärker verschiedene Religionen und Weltanschauungen berücksichtigen. „Mitunter konnten in der Vergangenheit letzte Wünsche nicht immer erfüllt werden, weil sie vom Gesetz her nicht möglich waren“, sagt Köpping. So ist Sachsen eines der wenigen Bundesländer, in denen für Beerdigungen eine Sargpflicht gilt. Das stellt Bürger muslimischen Glaubens vor erhebliche Probleme. Nach ihrer Tradition werden sie in ein weißes Leinentuch gewickelt beerdigt. „Etwa 90 Prozent der Muslime werden in ihrer Heimat bestattet. Das wird aber nicht mehr für alle Jüngeren gelten, die in Deutschland geboren sind“, sagt Alexander Helbach von Aeternitas. Er befürworte daher, religiöse Ausnahmen per Gesetz zuzulassen.

Fest steht, dass es erstmals offizielle Regelungen zu Bestattungswäldern geben soll. „Sie haben sich als einzige alternative Bestattungsform durchgesetzt“, sagt Tobias Wenzel, Innungsobermeister der sächsischen Bestatter. Die privatwirtschaftlich geführten Anlagen, auf denen sich Menschen besonders naturnah beisetzen lassen können, liegen im Trend. Nach Angaben des Sozialministeriums gibt es in Sachsen derzeit neun Bestattungswälder. Sie sind vom Friedhofszwang ausgenommen und stehen damit in Konkurrenz zu den 1.220 kirchlichen und 500 kommunalen Friedhöfen, die keinen Profit erwirtschaften dürfen. Welche Aspekte genau in das Bestattungsgesetz aufgenommen werden, ist noch offen. Laut Sozialministerium müsse etwa über die Umfriedung der Bestattungswälder diskutiert werden, da sie nicht wie Friedhöfe mit Bäumen, Sträuchern oder Zäunen abgegrenzt werden können.

Offen ist, ob es Regelungen für Mensch-Tier-Bestattungen geben wird. Bisher ist es nur in Hamburg möglich, sich mit seinem Vierbeiner begraben zu lassen. In Sachsen erlauben nur einzelne Friedhöfe, Aschereste des Tieres mit ins Grab zu geben.

Vorschläge können bis 17. Januar eingetragen werden unter www.mitdenken.sachsen.de/bestattungsgesetz