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Ein Spiel gegen die Spielsucht

Die App "Die Retter der Zukunft" soll vor exzessivem Zocken und Chatten schützen. Klingt paradox? Ist es aber nicht.

Von Andreas Rentsch
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"Matrix" lässt grüßen: Bei der Handlung des Spiels "Die Retter der Zukunft" haben sich die Macher erkennbar von dem Science-Fiction-Klassiker inspirieren lassen.
"Matrix" lässt grüßen: Bei der Handlung des Spiels "Die Retter der Zukunft" haben sich die Macher erkennbar von dem Science-Fiction-Klassiker inspirieren lassen. © Bildstelle

Die 13-jährige Judith aus Dresden ist nicht anders als ihre gleichaltrigen Freundinnen: Immer wieder mal gibt es einen Disput mit den Eltern, weil sie zu viel Zeit am Smartphone verdaddelt. Ganz oben auf der Liste ihrer digitalen Zeitfresser stehen Social-Media-Apps wie Snapchat und Signal, knapp dahinter folgen Spotify, Youtube, digitale Puzzles und Ausmal-Apps. Wie ein Blick in die Einstellungen ihres iPhones verrät, verbringt die Siebtklässlerin insgesamt rund drei Stunden täglich am Bildschirm.

Manche Kids kommen auf noch höhere Werte. Rund vier Prozent der 10- bis 17-Jährigen in Deutschland beschäftigen sich so oft und lange mit digitalen Spielen oder sozialen Medien, dass Suchtforscher von "pathologischem Nutzungsverhalten" sprechen. Das zumindest hat eine Ende 2021 veröffentlichte Studie des Deutschen Zentrums für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters ergeben. Die Corona-Pandemie hat das Problem weiter verschärft. Aus Sicht des Studienleiters, Professor Rainer Thomasius vom Uniklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), bräuchte es deshalb unter anderem mehr Präventionsangebote. Doch wie überzeugt man einen Teenager von der Notwendigkeit, weniger zu zocken oder zu chatten?

Die Idee

Das Münchner Start-up Straightlabs ist einen ungewöhnlichen Weg gegangen. 2018 hat die Firma im Auftrag der Krankenkasse DAK-Gesundheit einen sogenannten Games-Coach entwickelt. "Die Retter der Zukunft" – so heißt die App – soll junge Menschen zwischen 12 und 22 Jahren spielerisch für das Thema Online- und Computerspielsucht sensibilisieren. Projektziel sei gewesen, die Altersgruppe "mit ihrer Sprache und in ihrer Welt abzuholen", so Firmenchef Professor Dr. Peter Niermann. In die Entwicklung sei umfangreiche eigene Forschungsarbeit eingeflossen.

Das Spiel

"Die Retter der Zukunft" zählt zum Genre der Point-and-Click-Adventures. Das sind Spiele, bei denen der Nutzer sich durch Zeigen und Klicken eine virtuelle Welt erschließt. Die Handlung beginnt im Zimmer von Felix, einem Berufsschüler, der sich gern mit Freunden trifft, Musik hört und Videospiele am PC zockt. Aus der Überzeugung, ein ganz normaler Teenager zu sein, wird Felix jedoch jäh herausgerissen, als er Emma kennenlernt. Die lebt in einer düsteren Zukunft, in der der Megakonzern LiveNet das Leben aller Menschen mithilfe eines allgegenwärtigen Computerspiels kontrolliert. Der Science-Fiction-Klassiker "Matrix" lässt grüßen: Felix soll Emma beim Kampf gegen LiveNet helfen.

Die Installation

Ob ausgerechnet ein solches Spiel Judith dabei helfen kann, ihr digitales Pensum zu reduzieren? In den nächsten Tagen wird sie es herausfinden. Die rund 1,2 Gigabyte große App ist schnell installiert, der Download kostenlos. Für die Inbetriebnahme ist mindestens iOS 9.0 erforderlich. Eine Version für das Betriebssystem Android hat es nach Auskunft von Straightlabs früher mal gegeben, momentan ist aber keine erhältlich. Ob das Spiel in einer browserbasierten Variante herauskomme, werde noch geklärt, sagt DAK-Sprecher Stefan Wandel.

"Die Retter der Zukunft" ist ein Point-and-Click-Adventure und momentan nur für die Apple-Plattform iOS erhältlich.
"Die Retter der Zukunft" ist ein Point-and-Click-Adventure und momentan nur für die Apple-Plattform iOS erhältlich. ©  Screenshot: SZ

Die Handlung

Eine von dunklen Wolkenfetzen verhangene Stadtsilhouette erscheint. "Wir schreiben das Jahr 2038", tönt die Erzählerstimme. "Die Welt ist nicht mehr die, die sie einst war. Die Menschen sind verschwunden." Wie sich zeigt, verbringen die Bewohner dieser Welt ihre Tage im Cyberspace, betreut und am Leben erhalten durch Roboter und Drohnen. Plötzlich endet das Intro im schwarz-weißen Comic-Look, und Hauptheld Felix steht mitten in seinem unaufgeräumten Kinderzimmer. "Bewege dich, indem du auf den Bildschirm tippst", fordert die App. Ein Piktogram am rechten unteren Bildrand führt zu einem Smartphonedisplay, auf dem diverse Apps installiert sind. In der linken Ecke unten steht ein leerer Rucksack. Das Abenteuer kann beginnen.

Die ersten Fortschritte

Wenige Stunden später meldet Judith, sie habe Kontakt zur zweiten Hauptheldin Emma hergestellt. "Bin jetzt so weit, dass sie mir aus der Zukunft geschrieben hat. Ich soll ihr helfen, die Zentrale von LiveNet abzuschalten." Dafür jedoch müsse sie erst eine Virtual-Reality-Brille finden. "Die brauche ich, um mit ihr verbunden zu werden." Tipps fürs Weiterkommen im Spiel findet Judith im Questlog, einer Auflistung demnächst anstehender Aufgaben. Gleichwohl komme sie immer wieder an Punkte, an denen es scheinbar nicht mehr weitergehe, erzählt sie. Dann jedoch halte das Questlog hilfreiche Tipps bereit.

Die pädagogischen Tipps

Je länger das Spiel dauert, umso mehr Warnhinweise zu pathologischem Nutzungsverhalten streuen die Entwickler ein. "Versuche, den Computer in einen anderen Raum zu stellen, der im besten Fall auch von anderen Familienangehörigen genutzt wird", heißt es beispielsweise unter Punkt vier. "Damit kannst Du verhindern, in alte Gewohnheiten zurückzufallen." Ob aber so ein Hinweis in Zeiten allzeit verfügbarer mobiler Endgeräte noch zielführend ist?

Das Ende des Spiels

Nach vier Tagen hat die Gymnasiastin die "Retter der Zukunft" durchgespielt – und lobt die Story. "Erst fand ich es ein wenig langweilig, später wurde es aber richtig spannend." Tatsächlich gibt es mehrere überraschende Wendungen: Erst findet Emma heraus, dass sie kein Mensch ist, sondern eine von LiveNet programmierte Maschine, dann trifft sie in der Schaltzentrale des Megakonzerns das 20 Jahre ältere Ich von Felix und begreift, dass er es war, der das gigantische Spiel erschaffen hat. Wie die Geschichte schließlich ausgeht, sei an dieser Stelle noch nicht verraten. Nur so viel: Es gibt ein Happy End.

Das Fazit

"Die Retter der Zukunft" ist nur auf den ersten Blick ein paradoxer Versuch, Kinder und Jugendliche vom exzessiven Medienkonsum abzuhalten. Die Handlung verfängt dank ihrer Spannung, parallel dazu streuen die Entwickler geschickt pädagogische Tipps ein, die jedoch nicht wie erhobene Zeigefinger rüberkommen. Entscheidend ist, dass dem Spiel die üblichen, Suchtverhalten auslösenden Mechanismen fehlen. Es gibt keine Belohnungen für regelmäßiges und langes Spielen, auch muss sich der Spieler keiner Gruppe anschließen, die ihn permanent zum Weiterspielen animiert. "Ich konnte jederzeit aufhören und später an genau dieser Stelle wieder anfangen", sagt Judith. Ihre wichtigste Erkenntnis in Bezug auf die eigene Mediennutzung? "Dass ich mehr darauf achte, was ich mit dem Smartphone mache und wie lange." Inzwischen sei ihre tägliche Bildschirmzeit auf 90 Minuten gesunken.

  • Die DAK veranstaltet im Rahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements Begleitseminare, in denen Auszubildenden, aber auch Multiplikatoren Infos zu Online- und Computerspielsucht vermittelt werden.

Sechs Warnsignale für pathologische Mediennutzung

  • Kontaktverhalten: Die Person geht jeglicher Begegnung aus dem Weg, Gespräche verlaufen flüchtig und oberflächlich.
  • Nutzungszeiten: Die Zeit ohne Smartphone, PC oder Konsole wird immer kürzer. Sonstige Freizeitaktivitäten werden vernachlässigt oder aufgegeben.
  • Tagesstruktur: Die Person ist bis in die Nacht hinein im Internet, schläft deutlich weniger oder in einem anderen Rhythmus als früher, ist oft müde.
  • Affekt: Die Person reagiert launisch, wütend, depressiv verstimmt, wenn sie keinen Internet-/Geräte-Zugang hat.
  • Nachlässigkeit: Es kommt zu Versäumnissen bei der Erfüllung von Aufgaben und Verpflichtungen.
  • Selbstreflexion: Die Person selbst hat große Probleme, ihren Medienkonsum realistisch einzuschätzen und ist deshalb dazu auf Hilfe von außen angewiesen. (Quelle: UKE-Studie, November 2021)