Tief im Westen Deutschlands endet die Spurensuche. In Geldern, einer Kleinstadt, nur ein paar Kilometer von Holland entfernt. Dort, an der Bundesstraße 58 in Richtung Wesel, liegt ein weitläufiges Grundstück. Versteckt, von viel Grün umgeben.
Auf der unbefestigten Zufahrt stehen Pfützen. Ein Klingeln, nichts regt sich. Am anderen Ende des Terrains versperrt ein Metalltor die Sicht. Links und rechts davon stehen zwei von Efeu umrankte Heiligenhäuschen aus Backstein; sie sind typisch für den katholisch geprägten Niederrhein.
Der Bewohner des Areals hat schon beengter gewohnt. Karl-Leo Spettmann, 60 Jahre, gelernter Schlosser, ist einschlägig vorbestraft. 2004 musste er erstmals ins Gefängnis. Wegen Betrügereien mit Schlüsseldiensten. Kaum war er raus, machte er weiter. 2016 saß er erneut ein. Wieder wegen Betrugs, wegen Steuerhinterziehung und Wucher.
Er habe, urteilten die Richter, mit irreführenden Einträgen in Telefonbüchern und im Internet potenziellen Kunden vorgegaukelt, regionale Schlüsseldienste zu betreiben. Tatsächlich aber existierte nur ein Callcenter in Geldern, das auf ganz Deutschland verteilte Monteure losschickte, die nach ihren Einsätzen überteuerte Rechnungen stellten.
"Petrucci? Kennen wir nicht."
Seit Januar ist Spettmann, der im Freundes- und Bekanntenkreis wegen seiner Vorliebe für Porsche nur „Speedy“ genannt wird, wieder auf freiem Fuß.
Montag, 15. März, weit im Osten, 710 Kilometer von Geldern entfernt: Im Saal 119 des Görlitzer Amtsgerichts sitzen 19 Leute, darunter Vater und Sohn Spettmann. Eine Zwangsversteigerung steht an. Es geht um ein Haus mit Jugendstilfassade in der Görlitzer Bismarckstraße. Es steht seit langem leer. Der bisherige Eigentümer hat Grundsteuern und Sicherungskosten nicht bezahlt, jetzt will die Stadt das Objekt loswerden. Startgebot: knapp 4.000 Euro.
Der Hammer fällt bei genau 70.101 Euro, zahlbar bis Ende Juni. Erwerber ist der junge Spettmann. Der 29-Jährige hat nicht für sich geboten und auch nicht für seinen Vater, sondern für einen Römer namens Roberto Petrucci. „Wir haben einen Pool an Leuten, die denkmalgeschützte Häuser kaufen und sanieren“, sagt er. Einer davon sei Petrucci.
Zurück nach Geldern, eine kleine Straße hinter dem Friedhof. Dort war vor der Zerschlagung die von Spettmann im Hintergrund gelenkte Deutsche Schlüsseldienstzentrale GmbH beheimatet. Callcenter, Schulungsräume und Buchhaltung lagen im Erdgeschoss, die Büros der Chefs eine Etage höher.
Auf dem Hof parkt ein schwarzer Porsche, er hat im Kennzeichen die Buchstaben SP wie Spettmann und die Ziffer 1. Auf der Tür, neben der eingebauten Klingel, stehen vier Namen, darunter auch „Petrucci“. Auch hier öffnet niemand. Nachbarn sagen, da wohne niemand. Einen Herrn Petrucci kenne man nicht.
Die Vollmacht eines Phantoms
Ganz im Süden, Rom, Via Tuscolana 346. Diese Adresse steht auf jener Vollmacht, mit der die Spettmanns in diesem Jahr bislang drei marode Häuser in Görlitz ersteigerten. Die Urkunde hat ein Notar ausgestellt, der mittlerweile im Ruhestand ist. Diesem Dokument zufolge ist Karl-Leo Spettmann seit dem August 2012 bevollmächtigt, für Petrucci „beliebigen Grundbesitz im In- und Ausland zu erwerben“. Spettmann sagt in Görlitz, der Römer werde selbst nach Sachsen kommen, um zu bezahlen.
Doch von wo? Wie in Geldern, so ist der laut Vollmacht 48 Jahre alte Italiener an der angegebenen römischen Adresse ebenfalls nicht bekannt. Das ergaben Recherchen von Sächsische.de und MDR. Eine Reporterin überprüfte Briefkästen und Klingelschilder an dem schmucklosen achtgeschossigen Eckhaus, sie erkundigte sich bei der zuständigen Hausverwaltung, befragte den benachbarten Barbesitzer: Niemand kennt Petrucci.
Ein einschlägig vorbestrafter Mann erwirbt also mit der Vollmacht eines mutmaßlichen Phantoms Immobilien in Sachsen. Und das nicht nur in Görlitz. Und nicht erst seit diesem Jahr. Bereits Anfang 2015 bot Spettmann die denkmalgeschützte ehemalige Schuhfabrik in Rochlitz zum Kauf an. Er handle im Auftrag eines Geschäftsmanns aus Rom, sagte er damals. Nun wolle er es abstoßen, da der Römer keine Verwendung mehr dafür habe.
Der Name Spettmann taucht fast 70 Mal auf
Auch der Junior mag kaputte Immobilien. Nur kurz nach seinem 20. Geburtstag kauft er Ende 2011 den Bahnhof im mittelsächsischen Waldheim: für nicht einmal 5.000 Euro. Später bietet er das Gebäude der Kommune für 160.000 Euro an. Ansonsten könne er auch an einen interessierten Verein afrikanischer Islamisten verkaufen. Die Stadt lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und erwirbt die Immobilie bei einer neuen Zwangsversteigerung Ende 2012.
Aufgegebene Bahnhöfe sind begehrt bei den Spettmanns. In Sachsen haben sie bei mindestens 13 dieser Objekte zugeschlagen. Danach wurde so gut wie nichts investiert. Einige stehen derzeit wieder zum Verkauf oder zur Vermietung: der Bahnhof Kodersdorf im Landkreis Görlitz etwa oder der Bahnhof Weißig im Landkreis Meißen. Insgesamt taucht der Name Spettmann im Zusammenhang mit meist heruntergekommen Immobilien im Freistaat seit 2015 fast 70-Mal auf.
Die Weiterverkäufe eines Großteils dieser Objekte lief über Auktionen unter dem Motto: „Miete zu hoch? Dann kauf doch das ganze Haus für 500 Euro!“ Ein Versteigerungsunternehmen in Berlin organisierte das Ganze. Dessen Chef sagt, man habe das 2015 zweimal gemacht. Danach habe man getrennt. „Das Geschäftsgebaren der Familie Spettmann war nicht so, wie wir uns das vorgestellt haben.“ Was genau ihn gestört hat, will er nicht sagen.
Schon damals mischte außer Vater und Sohn auch Tochter Spettmann mit. Die heute 30-Jährige arbeitet hauptberuflich als Serviceassistentin in einem Autohaus in Krefeld. Sie wohnt ebenfalls in Geldern. Auch bei ihr verhallt das Klingeln ungehört. Mails bleiben unbeantwortet, am Telefon will sie sich nicht äußern.
Ihr gehört, gemeinsam mit ihrem Bruder, ein Immobilienunternehmen mit Sitz an der vornehmen Königsallee in Düsseldorf. Es heißt Gelago und hat laut Jahresabschluss 2019 Gewinnvorträge von 500.000 Euro in den Büchern stehen. An der Adresse in Düsseldorf sind vier weitere Firmen der Spettmann-Geschwister gemeldet, allesamt gegründet während der Haftzeit des Vaters: Es geht um die Verwaltung eigenen Vermögens, um den Handel mit Immobilien und Buddha-Figuren sowie um Sportwagen.
Wieder im Osten, wieder Görlitz, Anfang Mai. Tochter Spettmann und ihre Gelago kündigen auf einem Internetportal für Immobilen an, man werde Mitte des Monats ein Gebäude in der Görlitzer Bahnhofstraße versteigern.
Der angegebene Kaufpreis in Höhe von 500 Euro diene lediglich als Orientierungshilfe, heißt es in der Anzeige. Fotos zeigen eine dreigeschossige Villa mit viel Fassadendekor. Alle Fenster sind mit Spanplatten vernagelt. Auch dieses Haus hat Spettmann Junior für den Herrn Petrucci aus Rom gekauft.
107.000 Euro Verlust - was steckt dahinter?
Für die erneute Versteigerung hat sein Vater die seit Oktober 2015 ruhende Facebook-Seite 500Euro.Haus reaktiviert. Und einen neuen Account auf Instagram geschaffen. Auf diesen sozialen Medien will er neun Mehrfamilienhäuser versteigern.
Fünf davon stehen in Görlitz, jeweils ein weiteres in Kottmar bei Löbau, im brandenburgischen Rhinow sowie in Bad Lauchstädt und Helbra in Sachsen-Anhalt. Als Kontakt für Interessenten dient eine Telefonnummer, bei der nach der Vorwahl siebenmal die sieben folgt. Die Rufnummer ist aus der Schlüsseldienst-Ära bekannt.
Punkt 12 Uhr am 15. Mai erscheint das Gesicht von Spettmann Senior auf dem Bildschirm. Während der Auktion sind nie mehr als elf Personen gleichzeitig eingeloggt. Wer sie sind, weiß niemand. Außer dem Mann aus Geldern. Nach anderthalb Stunden hat Spettmann 253.000 Euro erlöst. Zumindest online. Ob er das Geld wirklich bekommen wird, ist unklar.
Ebenso, ob er zum Weiterverkauf der Häuser berechtigt war. Denn zumindest in Görlitz sind – mit Ausnahme der Bahnhofstraße – die Kaufpreise für die Häuser bislang weder von ihm noch vom ominösen Herrn Petrucci bezahlt worden.
Offen bleibt zudem, ob Spettmann Gewinn gemacht hat mit der Auktion. Zumindest mit den drei zuletzt in Görlitz erworbenen Häusern entstand ihm ein Verlust von fast 107.000 Euro. Was also soll das bringen?
Vom Frauenknast zum "Abenteuerhotel"
„Ob das Endgebot höher liegen wird als der ursprüngliche Kaufpreis der Immobilie, das ist bei solchen Internetdeals reines Zocken“, sagt der Chef des Berliner Auktionshauses. Der Görlitzer Baudezernent Michael Wieler spricht im MDR von „Lücken im Zwangsversteigerungsgesetz“.
Es sei sehr wohl möglich, ohne verbindliche Bonitätsprüfung ins Grundbuch eingetragen zu werden, auch wenn man sein Gebot in einer Zwangsversteigerung nicht bezahle. Der Görlitzer Amtsrichter Ulrich von Küster weiß von Leuten, „die als Schnäppchenjäger Zwangsversteigerungen abgrasen und davon leben.“
Immobilienpoker als Hobby. Wie beim Gesellschaftsspiel Monopoly. Er hat mehr als nur vier Bahnhöfe. Er hat zwar keine Badstraße, aber immerhin ein Büro- und Wohnhaus in der Badergasse im mittelsächsischen Lichtenstein. Er hat keine Schlossallee, war aber immerhin für gut ein Jahr Besitzer des Ritterguts in Kohren-Sahlis, das er über eine Mittelsfrau nach einer Zwangsversteigerung vom ehemaligen Anführer der rechtsextremen Wehrsportgruppe Hoffmann übernommen hatte. Er hat kein Elektrizitätswerk, machte aber Ende 2011 Furore mit dem Kauf des ehemaligen Frauengefängnisses in der Lutherstadt Eisleben. Dem MDR gab er damals freimütig ein Interview. Ein Investor könne aus dem Gebäude „ein Abenteuerhotel“ machen, sagte er.
Verdacht auf Geldwäsche
Spettmann sprudelt in dem TV-Gespräch nur so vor Ideen. Der Mann mit den weißen Haaren und einer offensichtlichen Vorliebe für Jacken in schrillen Farben kommt sympathisch rüber, wagt ein Tänzchen mit der Moderatorin, plaudert, lacht. Ein langjähriger Weggefährte beschreibt ihn als „teilweise witzig, charmant und einnehmend“. Und Speedy sei ja oft auf Reisen gewesen „In der ganzen Welt, wer weiß, wo er sein Geld hingebracht hat.“
Das Landgericht Kleve gab in der Urteilsbegründung vom August 2018 bekannt, Spettmann habe im Tatzeitraum mit den Schlüsseldiensten knapp 67 Millionen Euro umgesetzt. Neben einem ihm zum Schein zugeteilten Angestelltengehalt von zwei- bis dreitausend Euro in bar seien ihm Einfamilienhäuser und hochwertige Fahrzeuge zur Verfügung gestellt worden. „Zudem flossen ihm weitere erhebliche Geldbeträge aus den Einnahmen zu, über welche Kanäle auch immer.“
Sein Sohn lebte eine Zeitlang in Oberösterreich, er selbst hielt sich oft im Süden Portugals auf. Anfang 2016 verbrachte er zwei Monate in Thailand. Auch deshalb überlegt der langjährige Weggefährte: „Vielleicht will Karl-Leo nunmehr alles waschen, was noch an Schwarzgeld da ist; notfalls mit Verlust.“
Geldwäsche also. Ist der Kauf zwangsversteigerter Immobilien ein Weg, Geld aus Straftaten wieder in den legalen Finanzkreislauf einzuspeisen? Zumal nahezu alle erworbenen Gebäude in Dörfern oder kleineren Städten liegen und nicht etwa in boomenden Märkten wie Dresden oder Leipzig.
"Die Sächsische Zeitung verbreitet Lügen"
Der frühere Berliner Justizsenator Michael Braun sagte dem Tagesspiegel, bei Zwangsversteigerungen würden inzwischen Preise aufgerufen, die weit über dem Wert des Grundstückes liegen. „Und wenn Sie dann noch die Herkunft sehen, dann fragen Sie sich: Wie kommt der an die Kohle?“
So seien arabischstämmige Großfamilien an ihre Häuser gekommen. Die Bundesrechtsanwaltskammer formuliert: „Bei einem risikoorientierten Ansatz ist davon auszugehen, dass der Immobilienerwerb in der Zwangsversteigerung zur Geldwäsche besonders geeignet ist.“
Was sagt Spettmann selbst dazu? Sächsische.de erreicht ihn unter der altbekannten Schlüsseldienstnummer mit den sieben Siebenen.
„Ich möchte darüber nicht mit Ihnen reden.“
„Warum nicht?“
„Die Sächsische Zeitung verbreitet nur Lügengeschichten über mich.“
„Was ist denn gelogen?“
„Nuschele ich? Spreche ich eine andere Sprache, oder was? Ich rede mit Ihnen nicht darüber.“
„Wie sonst sollen wir denn zu Ihrer Wahrheit kommen?“
„Ich sage dazu nichts. Und lassen Sie auch meine Tochter oder meinen Sohn da raus.“
Wer sich Spettmanns Fotos auf Facebook und Instagram anschaut, stellt rasch fest: Der einstige Schlüsseldienstkönig ist wieder in seinem Element. Die ersten Bilder nach der Haftentlassung zeigen ihn zwischen edlen Oldtimern und Sportwagen bei Enjoy Racing, einer Firma seines Sohnes. Er setzt jenen schwarzen Porsche in Szene, der Mitte Mai auf dem alten Firmengelände in Geldern zu entdecken war. Ansonsten ist er vor allem im Osten der Republik unterwegs: Löbau, Niedercunnersdorf, Görlitz, Eisleben, Bad Lauchstädt, Frankenstein, Lichtenberg, Berlin, Meerane, Vierkirchen, Glauchau.
Teiche mit seinen Initialen
Die Vermutung, dass noch Geld da ist, liegt nahe. Das im Mai 2017 eröffnete Insolvenzverfahren über das Vermögen der Schlüsseldienstzentrale wurde nach drei Jahren beendet: Rund 100 Gläubiger erhielten im Schnitt nicht einmal ein Prozent ihrer Forderungen zurück. In Kooperation mit dem Insolvenzverwalter sei sämtliches gesichertes Firmenvermögen an diesen herausgegeben worden, „um die Gläubiger möglichst umfangreich zu befriedigen“, teilt die Staatsanwaltschaft Kleve mit.
Das Privatvermögen blieb offenbar unangetastet. „Die komplette Aufarbeitung der zivilrechtlichen Ansprüche und Vermögensschäden hätte einen derart großen Aufwand erfordert, dass das Strafverfahren maßgeblich und erheblich verzögert worden wäre“, argumentiert die Justiz. Dem Landgericht Kleve zufolge hat Spettmann nach der Freilassung keine finanziellen Auflagen zu erfüllen.
Zumindest vor seiner Haft hat es ihm an Geld nicht gemangelt. Sogar tief im Westen, in seiner Heimat, machte er Schlagzeilen. Auf dem Terrain an der Weseler Straße ließ er seinerzeit Teiche ausbaggern und Erdwälle anhäufen. Aus der Luft betrachtet ergaben sie den Schriftzug K-L 210: "K-L" für "Karl-Leo", 210 für die Hausnummer.
Auf dem großen Terrain stehen zahlreiche steinerne Buddha-Figuren. Eine Erinnerung an zwei Monate im Fernen Osten? Sein Sohn hat im Februar eine seiner Firmen umbenannt: Sie ist jetzt nach einer indonesischen Insel benannt und heißt Bali-Leo GmbH. Und die Tochter bietet ein „Haus am See“ in Geldern zum Verkauf an. 5.555.555 Euro soll es kosten. Ein Wucherpreis? Oder Grundlage für eine neue Zukunft?
Auf dem bekanntesten Feld des Monopoly-Spiels wird Karl-Leo Spettmann jedenfalls kaum wieder landen wollen: „Gehe in das Gefängnis. Begib dich direkt dorthin.“