Lausitz-Kirchentag: Es macht Spaß, einmal nett zu sein
15.000 Besucher, 2.500 Mitwirkende: Der erste Lausitz Kirchentag war in Görlitz ein großes Fest mit viel Zuversicht. Sie muss sich nun im Alltag bewähren.
Am Schluss des langen Kirchentags-Sonnabends versammeln sich nochmals 800 Zuhörer auf dem Görlitzer Obermarkt. Sie wollen die A-cappella-Gruppe „Alte Bekannte“ hören, die aus der Band „Wise Guys“ hervorgegangen ist. Die kannten viele, wie sie bei der Nachfrage von der Bühne durch Handzeichen erkennen lassen.
Doch auch die neuen Songs singen viele mit, amüsieren sich über die Texte beispielsweise über ein Sägewerk in Bad Segeberg, wo niemand mehr Klavier spielt. Es liegt eine Unbeschwertheit über dem Platz, eine Lebensfreude, die lange nicht mehr hier zu Hause war. Da passt dann einer der Refrains auch besonders schön: „Wie schön ist das Leben? Ganz schön schön“. Und Hunderte stimmen mit ein.
Von Abkehr von Religion und Kirche, von Zweifel an der Botschaft des Christentums war beim Lausitz Kirchentag am Wochenende in Görlitz nur wenig zu spüren. Tausende Gäste kamen dafür in die Altstadt, genossen das friedliche Flair zwischen Marienplatz und Altstadtbrücke, ließen sich von der Kraft der Kirchenlieder in der Gemeinschaft von 300 Bläsern und 200 Sängern mitreißen und nahmen die Hoffnung auf eine gute Zukunft der Lausitz mit.
Die beiden Theologinnen Theresa Rinecker aus Görlitz und Antje Pech aus Löbau hatten die Idee für einen solchen Kirchentag vor drei Jahren ins Spiel gebracht. Er sollte auch den Widerstand gegen das Vergessen einer Region am Rande Deutschlands deutlich machen, wie Frau Pech am Sonntag sagt.
Das alte Lied von der abgehängten Region sollte dem neuen weichen: „Hier kennen sich die Leute aus mit dem Gestalten guter Wege in der Nachbarschaft. Hier sind sie Expertinnen für ‚Randlage‘ mit Herz“, sagt Theresa Rinecker. 15.000 Besucher wurden an den verschiedenen Veranstaltungen gezählt, knapp 5.000 Gäste waren dauerhaft in der Stadt.
70 Prozent der Deutschen sagen Christentum gehört zu uns
Die Idee, dass Kirche in die Gesellschaft geht, sich offen zeigt und damit Menschen unabhängig von ihrem Glauben anspricht, ging allerdings nur bedingt auf. Vor allem evangelische Christen waren in Görlitz zu Gast, auch einige Katholiken besuchten den Lausitz Kirchentag.
Nicht-Christen kamen jedoch, wenn überhaupt, nur gezielt zu bestimmten Veranstaltungen, mitunter mit der Bemerkung: „Mich interessiert nur diese Diskussion, mit Kirche habe ich nichts am Hut.“ Das ist auch nicht verwunderlich. Nur noch gut jeder zweite Deutsche ist Mitglied einer Kirche – im Osten Deutschlands weit weniger.
Laut einer Umfrage des Allenbach-Instituts aus dem Jahr 2021 hat ein Drittel davon schon einmal über einen Kirchenaustritt nachgedacht, die Zahl der Gottesdienstbesucher sinkt stetig. Für nur 44 Prozent aller Deutschen haben christliche Werte noch eine Bedeutung für ihr Leben. Aber: 70 Prozent sagen, das Christentum gehört zu Deutschland.
Kirchentage haben viele Aufgaben. Vor allem sind sie ein Fest für die Kirchenmitglieder, um neuen Schwung zu finden, raus aus dem Alltag, raus aus den Spardebatten und vielleicht den einen oder anderen auch zurückzugewinnen. „Ich kann mir ein Leben ohne christlichen Glauben gar nicht vorstellen“, sagt zum Beispiel die Görlitzerin Christine Diener, die zum evangelisch organisierten Kirchentag kam, obwohl sie katholisch ist.
„Ökumene zu leben wird ja immer wichtiger, wir sind alle Kinder Gottes.“ Das Vertrauen, die Erfüllung im Innern, die sie an 24 Stunden jedes Tages durch die lebendige Anwesenheit Gottes spüre, sei für sie ein Geschenk, das sie durchs Leben trage. Andere kamen von weither angereist.
Gewinnt Glauben in Zeiten von Kriegen an Bedeutung?
Werner Moelders aus Dänemark begleitete seinen in Görlitz gebürtigen Freund in die Heimat. Besonders seit Beginn des Ukrainekrieges habe er wieder mehr zum Glauben gefunden, sagt er, sein Bedürfnis nach Halt sei gerade groß. Sandra Erdmann kam mit ihrer kleinen Tochter aus Cottbus.
„Ich fahre gern zu Kirchentagen“, sagt sie, „weil man viele andere Christen treffen kann und sich der großen Gemeinschaft bewusst wird, die wir immer noch sind.“ Darin empfinde sie Geborgenheit, Liebe und Vertrauen.
Dass man seinen Glauben auch von der Institution Kirche trennen könne, empfindet die Görlitzerin Miriam Viertel. „Mit vielem, was Kirche tut, bin ich nicht einverstanden“, sagt sie, „aber dennoch möchte ich nicht darauf verzichten.“ Besonders in unerklärlichen Zeiten von Kriegen und Krisen sehne sie sich nach Gott und dem Glauben daran, dass er wisse, was er tue. Die Stille der Kirchengebäude, das Miteinander mit anderen Christen und inspirierende Predigten brauche sie, um ihren Glauben leben zu können.
Auf dem „Roten Sofa“ am Untermarkt werden den ganzen Tag über prominente Gäste aus Politik, Kirche und Kultur zum Talk eingeladen. Einer von ihnen: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, der den ganzen Tag in Görlitz verlebt. Er erzählt, wie er über den christlichen Glauben zu seinem politischen Engagement kam.
1975 in Görlitz geboren, war er im Jahr 1989 konfirmiert worden, war Teil der Jungen Gemeinde, nahm an den Friedensgebeten in der Frauenkirche teil. Begeistert von diesem Aufbruch kam er schließlich zur Jungen Union und war bald neben mehreren katholischen einer der wenigen evangelischen CDU-Politiker in Görlitz.
Heute, als Ministerpräsident, wolle er religiöses Leben bewusst fördern. Er sei überzeugt, dass dessen Geist und die Werte sich auch auf Nicht-Christen positiv auswirken, besonders in Zeiten, da es so viele unterschiedliche Haltungen in der Gesellschaft gebe. „Ich kenne Atheisten, die ihre Kinder in kirchlichen Kitas betreuen lassen, weil sie die christliche Haltung schätzen.“
Dass Kirche sich in vielem wandeln müsse, damit sich ihr wieder mehr Menschen zuwenden, sei aber auch klar. Er wünsche sich eine Evangelische Kirche, sagt er im Eröffnungsgottesdienst, die modern ist, die sich verändert und doch auch zu traditionellen Werten steht.
Wolf, Kohleausstieg, Pflege: Gestritten wurde auch
Kirchentage sind aber auch Podien, wo wichtige Fragen der Gesellschaft verhandelt werden. Kontrovers, streitbar, auch wenn sie nicht gelöst werden. Strukturwandel beispielsweise. Die Gewerkschafterin Ute Liebsch fragt in der Alten Synagoge etwas abseits vom Trubel nach der Zukunft für die Bergleute – jemand aus dem Publikum sagt, das betreffe nur ein Prozent der Lausitzer.
Thomas Pilz von den „Lausitzer Perspektiven“ in Mittelherwigsdorf, der als Grüner auch im Görlitzer Kreistag sitzt, bezeichnet die Schaffung von Arbeitsplätzen nicht als das drängendste Thema in der Lausitz, sondern die Gewinnung von Personal und Nachwuchs in nahezu allen Bereichen.
Davon spricht auch Kretschmer, als er am Sonnabendabend von Gegnern der einrichtungsbezogenen Impfpflicht auf dem Obermarkt angesprochen wird und gerade Probleme in der Pflege diskutiert werden. Eine gute Zuwanderungspolitik sei genauso wichtig für eine gute Pflege, wie auch den Beruf attraktiver zu gestalten.
Eine breite gesellschaftliche Diskussion müsse die verschiedenen Interessen wieder in die Balance führen, nachdem die Pflegefinanzierung nicht mehr aufgeht: Die Pflegekräfte fühlen sich überfordert, die Pflegebedürftigen müssen mehr zahlen und die Pflegeversicherung macht Defizite.
Drittes Beispiel ist der Wolf. Ein emotionales Thema, das in der Lausitz viele verängstigt. Während der Görlitzer Jäger Christian Bernd sich für eine Möglichkeit für Jäger ausspricht, die Wölfe reduzieren zu dürfen, ist für Stefan Kaasche von der Umweltbildungsstelle Wolf in Rietschen deren Zahl nicht entscheidend. Auch ein einziger Wolf könne in einer Nacht 30 Schafe reißen, wenn sie nicht geschützt würden.
Und der Görlitzer Arzt für Psychotherapie Hans-Martin Rothe macht deutlich, dass der Wolf dem Menschen vor allem als Projektionsfläche für das Bedrohliche diene und fragt, ob nicht der Mensch selbst die Bedrohung für die Natur sei. Pfarrer Jörg Michel beendet die Runde mit einer Geschichte um den Heiligen Franziskus, der einen Wolf gezähmt haben soll, indem er die Menschen für den Wolf sorgen ließ.
Kirchentage zeigen, was Kirche alles kann
Kirchentag ist aber auch ein Leistungsausweis für die Kirche. Was wäre die Kultur der Region ohne die Orgelkonzerte, Posaunenchöre, Sänger und Sängerinnen, ohne die Kantoren und Komponisten, die Lieder schreiben oder Musicals.
All das ist in Görlitz vertreten: In der Peterskirche hören Hunderte beim Landesposaunenfest zu, in der Lutherkirche erklingt zum ersten Mal ein Musical, auf dem Untermarkt spielen Oppelner Musiker neu vertonte Volkslieder und Melodien, die ein Deutscher in Oppeln 1913 auf einem Grammofon aufgenommen hat, damit sie nicht verloren gehen. Kirche, das ist eben auch der Bewahrer eines Erbes von gelebtem Leben. Und in einer Grenzregion bilden viele eine Erbengemeinschaft.
Vielleicht ist das auch der Schlüssel, warum Kirchen eine so große Rolle auch bei der Aussöhnung zwischen Deutschen und Polen gespielt haben. Mitten auf der Altstadtbrücke sitzt der frühere Breslauer Bischof Ryszard Bogusz. Eine kleine Gruppe hört dem 71-Jährigen zu.
Ein Bekannter hätte ihm über das Verhältnis zwischen Deutschen und Polen zuletzt gesagt: „Worüber früher Zucker und Mehl in den 1980er-Jahren nach Polen als Hilfspakete kamen, laufen heute Menschen und begegnen sich.“ Und schaut auf den regen Verkehr über die Altstadtbrücke von einem Ufer der Neiße zum anderen.
"Polen und Deutsche sind versöhnt"
In dem Moment ist wenig zu spüren, von dem langen Weg nach dem verheerenden Krieg und der Vertreibung der Deutschen aus Niederschlesien und der Polen aus der Region Lemberg. „Ich weiß es nicht“, hörte der heutige Bischof Waldemar Pytel immer wieder, als er sich – als Pfarrer soeben nach Swidnica gekommen – nach der Friedenskirche in der Stadt erkundigte.
„Ich habe das nicht glauben können“, sagt er auf dem Untermarkt. Heute gehört die Schweidnitzer Friedenskirche wie ihre Schwesterkirche in Jauer wegen ihrer Geschichte nach dem Dreißigjährigen Krieg und ihrer spektakulären Holz-Bauweise zum Unesco-Weltkulturerbe. Die Polen haben das durchgesetzt.
Für den Nieskyer Superintendenten Thomas Koppehl ist das auch ein Zeichen, wie sich die polnischen Schlesier verstärkt für die Geschichte ihres Landes interessieren, und die Nachfahren der deutschen Schlesier sich wieder zunehmend sehen wollen, wo ihre Familien herstammen. Bischof Bogusz sagt mitten auf der Altstadtbrücke: „Polen und Deutsche sind versöhnt.“ Es ist vielleicht der schönste Satz dieses Kirchentages.
Er bestätigt damit, was der Berliner Bischof Christian Stäblein schon zum Auftakt des Kirchentages erklärt: „Von nichts erzählt die Region hier so viel wie vom Frieden. In der Doppelstadt. Über die Grenze nach Polen, die zur Brücke geworden ist, wir sind so dankbar dafür. Frieden. Nichts brauchen wir mehr in diesen Tagen in Europa als Zeichen des Friedens.“
Das gilt im Großen im Ukraine-Krieg als auch im Kleinen. Waldemar Pytel sieht alte Dämonen wieder erstarken, die Schleifer Pfarrerin Jadwiga Mahling nationalistische Einstellungen beiderseits der Grenzen. Und die Jugend, wirft Pytel ein, nehme das grenzenlose und friedliche Mitteleuropa als Selbstverständlichkeit hin. Das aber ist es nicht, wie der Blick in die Ukraine zeige.
Deswegen plädieren Mahling wie Pytel für die Begegnung von Jugendlichen aus beiden Ländern, sie sollen gemeinsam ihre Ansichten austauschen und sich besser verstehen. „Besuchen, besuchen, besuchen“, sagt Margrit Kempgen, die in vielen evangelischen Stiftungen tätig ist. „Reden, reden, reden“, fügt Koppehl an.
Bei so vielen Gesprächen, Podien, Reden ist es nur allzu verständlich, dass der Abend auf dem noch immer sommerlich aufgeheizten Obermarkt der Musik gehört. Und es war nicht die schlechteste Wahl, keine geistliche Musik mehr aufzuführen, sondern Gute-Laune-Klänge der „Alten Bekannten“. Für viele, die gekommen sind, sind sie es auch. Mancher trägt ein T-Shirt mit dem Kirchentagsmotto „Von Wegen“.
Die Organisatoren haben sich die Rechte an dieser Bild-Text-Marke für mögliche weitere Kirchentage auch gesichert. Und auch hier ist wieder diese ansteckende Atmosphäre zu spüren, die sich so grundlegend von den polarisierenden Debatten andernorts und in den sozialen Netzwerken unterscheidet. Die fünf Musiker aus Köln, Hannover und der Eifel bringen sie auf eine sehr gängige und schmissige Formel: „Es macht Spaß, einfach nett zu sein.“