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Wahrsagerin lag voll daneben: Görlitzerin wird 100

Nach einer Prognose sollte Charlotte Alert längst tot sein. Doch sie ist noch sehr gut drauf – und überlebte sogar Corona.

Von Ingo Kramer
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Charlotte Alert lebt mit ihren geliebten Wellensittichen Susi und Bubi in ihrer Wohnung in Görlitz-Königshufen.
Charlotte Alert lebt mit ihren geliebten Wellensittichen Susi und Bubi in ihrer Wohnung in Görlitz-Königshufen. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Einmal in ihrem Leben war Charlotte Alert richtig unruhig: mit 65. „Eine Wahrsagerin hatte mir etwa 20 Jahre zuvor prophezeit, dass ich mit 65 sterben werde“, erinnert sie sich. Doch alle Aufregung war umsonst. „Es hat nicht geklappt“, sagt sie mit einem Schmunzeln. 35 Jahre ist das jetzt her. An diesem Sonntag wird die Königshufenerin 100 Jahre alt, seit mittlerweile 40 Jahren bekommt sie Rente.

Auch wenn sie nicht gedacht hatte, einmal so alt zu werden: Sie hat eine klare Vorstellung, woran es liegen könnte: An den Genen. „Meine Mutter wurde 84, mein Vater 94 und meine Schwester ebenfalls 94“, sagt sie. Nur ihre beiden Brüder verlor sie früher: Der eine fiel 1941 im Zweiten Weltkrieg, der andere schied später freiwillig aus dem Leben. Außerdem hat sie gesund gelebt, normal gegessen, nicht geraucht und kaum Alkohol getrunken. Sport hingegen kann nicht die Ursache für ihr langes Leben sein: „Ich habe nie Sport getrieben, auch keine Gartenarbeit“, sagt sie.

Für ihr Alter ist sie erstaunlich gut drauf, sie sieht und hört recht gut und vor allem ist sie klar im Kopf. Dadurch kann sie die Sächsische Zeitung bis heute täglich lesen. „Die habe ich schon immer“, sagt sie. Nur das Laufen klappt gar nicht mehr: „Ich hatte erst einen Stock, dann zwei, dann einen Rollator – und seit elf Jahren sitze ich im Rollstuhl“, bedauert sie. So kommt sie auch nicht mehr auf den Balkon: Die Stufe ist zu hoch. Zudem hat sie Probleme mit den Fingern, kann vieles nicht mehr machen, was ihr einst Freude bereitet hat. Besonders das Nähen vermisst sie: „Meine letzte Nähmaschine steht noch hier.“

Das Hochzeitsfoto von Charlotte und Helmut Alert entstand 1957. Da war sie schon 36 Jahre alt, ihr Mann sogar schon 46. Er brachte drei Kinder mit in die Ehe.
Das Hochzeitsfoto von Charlotte und Helmut Alert entstand 1957. Da war sie schon 36 Jahre alt, ihr Mann sogar schon 46. Er brachte drei Kinder mit in die Ehe. © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Aber sie will nicht klagen: Von den Maltesern wird sie gut betreut und ihre beiden Wellensittiche Susi und Bubi machen ihr viel Freude: „Die sind mein Ein und Alles.“ Eigene Kinder hat sie nämlich keine. Sie hat spät geheiratet, erst mit 36 Jahren. Ihren Mann Helmut hat sie über eine Heiratsvermittlung kennengelernt. Er brachte drei Kinder mit in die Ehe, weitere kamen dann nicht mehr hinzu. „Mein Mann starb 1986 kurz vor dem 75. Geburtstag“, berichtet sie. Später hatte sie noch einen langjährigen Lebensgefährten, einen Witwer namens Konrad. Den hat sie bei der Grabpflege auf dem Friedhof kennengelernt. Aber auch er ist schon gut 20 Jahre tot. Seither lebt sie allein in ihrer Königshufener Wohnung. Zuvor war sie in der Altstadt zu Hause: 20 Jahre lang im Scultetushaus auf der Peterstraße, später im Hainwald.

Ursprünglich aber stammt Charlotte Alert nicht aus Görlitz: Sie wurde am 25. Juli 1921 in Gersdorf geboren. „Mein Vater war bei der Eisenbahn“, erinnert sie sich. Deshalb zog die Familie in den Bahnhof von Schlauroth, als sie noch ein kleines Kind war. In Rauschwalde besuchte sie von 1928 bis 1936 die Schule, die heute die Diesterweg-Grundschule beherbergt.

Das Familienfoto entstand um 1940 und zeigt Charlotte Alert in der Mitte (kariertes Oberteil) zwischen ihren beiden Brüdern, ihrer Schwester und den Eltern (außen).
Das Familienfoto entstand um 1940 und zeigt Charlotte Alert in der Mitte (kariertes Oberteil) zwischen ihren beiden Brüdern, ihrer Schwester und den Eltern (außen). © Paul Glaser/glaserfotografie.de

Danach tat sie das, was viele Frauen in ihrer Generation taten: Sie ging in Stellung, war also Haushälterin für andere Familien. Unter anderem arbeitete sie von 1941 bis 1945 bei einer Familie mit vier Kindern auf der Brautwiesenstraße, die ein Molkereigeschäft führte. „Der Mann war im Krieg, die Frau allein im Laden“, erinnert sie sich. Dort war sie für den Haushalt zuständig. Zuvor hatte sie den Haushalt für einen Lehrer in Deutsch Paulsdorf geschmissen. Erst ab 1951 hatte sie eine dauerhafte Arbeit, die sie bis zum Renteneintritt 1981 ausüben sollte: Beim Großhandel in Weinhübel war sie im Lager beschäftigt.

Auch privat wurde ihr nicht langweilig, es gab Höhen und Tiefen. Das größte Ereignis, an das sie sich erinnert, war eine Bahnreise nach Moskau mit ihrem Mann in den 1970er Jahren. „Anderthalb Tage Zugfahrt, und dann nur drei Tage in Moskau“, sagt sie. Auf dem Roten Platz waren die beiden und im Lenin-Mausoleum. „Das Gum-Kaufhaus haben wir gesucht, aber leider nicht gefunden“, berichtet sie. Russisch sprachen beide nicht. Gern erinnert sie sich auch an ihren 95. Geburtstag. Den hat sie mit viel Musik auf einem Sommerfest der Volkssolidarität, in der sie bis heute Mitglied ist, gefeiert. „Das war wunderschön, mein schönster Geburtstag“, sagt sie.

Die schlimmsten Tiefschläge liegen etwas länger zurück. In den Kriegswirren musste sie kurzzeitig flüchten, eine Nacht im Wald schlafen und später in Waggons. Diese Szenen haben sich in ihr Gehirn eingebrannt. Aber auch die Geschichte, wie sie 1945 mit dem Fahrrad über Land gefahren ist, um Milch für ihren neugeborenen Neffen zu besorgen. „In Pfaffendorf haben sie mir keine Milch gegeben, weil ich keine Kinder hatte“, berichtet sie.

Weniger schlimm war ihre Corona-Infektion Ende 2020. „Ich wurde positiv getestet“, erzählt sie: „Aber gemerkt habe ich gar nichts.“ Weil sie positiv war, sei sie bis heute nicht geimpft. Für ihren 100. Geburtstag spielt das aber keine Rolle: Sie hat nichts geplant: „An Feiern habe ich heute kein Interesse mehr.“ In ihrer eigenen Wohnung fühle sie sich am wohlsten. Sie hofft, hier noch eine Weile bei guter Gesundheit bleiben zu können. Ziele, wie alt sie werden will, hat sie aber nicht: „Ich lebe von einem Tag zum anderen.“