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"Schlimm ist nicht der Tod, sondern das einsame Leben"

Der Görlitzer Staatsanwalt Sebastian Matthieu über Leichen, die lange unentdeckt bleiben. Es werden immer mehr.

Von Susanne Sodan
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Sebastian Matthieu ist seit über 30 Jahren Staatsanwalt und heute Oberstaatsanwalt in Görlitz. Sein Hauptgebiet: Kapitalverbrechen und Todesermittlungen im Kreis Görlitz.
Sebastian Matthieu ist seit über 30 Jahren Staatsanwalt und heute Oberstaatsanwalt in Görlitz. Sein Hauptgebiet: Kapitalverbrechen und Todesermittlungen im Kreis Görlitz. © André Schulze

Ein Mann liegt tot in einer Reichenbacher Wohnanlage. Entdeckt wird er erst Wochen später - wegen des Geruchs. Erst vor wenigen Tagen wurde in Oberseifersdorf ein toter Mann entdeckt, der längere Zeit im Bad seiner Wohnung lag. Solche Fälle sind keine Seltenheit mehr. Wenn es den Verdacht gibt, dass Menschen in ihrer Wohnung hilfebedürftig oder in einer Notlage sind, wird meist die Feuerwehr gerufen, um die Tür zu öffnen. Dieses Jahr hatte die Görlitzer Feuerwehr bereits 73 solcher Einsätze, voriges Jahr dagegen bis Ende August sogar 107. Nicht immer kann die Feuerwehr noch helfen. Dann werden die Toten oft zum Fall für den Görlitzer Oberstaatsanwalt Sebastian Matthieu.

Herr Matthieu, wie oft haben Sie mit Fällen zu tun, in denen ein Mensch einsam gestorben ist und erst spät entdeckt wurde?

Gar nicht so selten, manchmal sogar mehrfach pro Woche. Es gibt keine Statistik dazu. Aber nach meinem Eindruck haben solche Fälle in den vergangenen Jahren zugenommen, was sicher damit zu tun hat, dass es inzwischen viele Menschen gibt, die hier alleine wohnen, deren Verwandte weggezogen sind. Teils betrifft es auch Menschen, die sozial abgestiegen sind und isoliert leben. Erst kürzlich ist in Görlitz eine skelettierte Frau entdeckt worden, in Reichenbach gab es einen weiteren Fall und an dem Oberseifersdorfer arbeiten wir aktuell noch.

Wann kommt der Staatsanwalt ins Spiel?

Das hängt davon ab, bei welcher Todesart der Arzt bei der Leichenschau auf dem Totenschein das Kreuz setzt. Hat jemand für längere Zeit bei hohen Temperaturen in der Wohnung gelegen und die sogenannten späten Leichenerscheinungen wie Verwesungen oder Fäulnis haben eingesetzt, wird sich ein Arzt kaum auf einen natürlichen Tod festlegen können. In der Regel wird er dann die Todesart "ungeklärt" oder "nicht natürlich" ankreuzen.

Das macht es zum Fall für den Staatsanwalt ?

Ja, zum Fall für Polizei und Staatsanwaltschaft. Das muss nicht gleich einen Mordverdacht bedeuten. Es reicht der Verdacht, dass es ein von außen einwirkendes Ereignis gegeben haben könnte, etwa ein Sturz. Aber sobald der Sterbefall komisch aussieht und fremde Hand im Spiel gewesen sein könnte, begebe ich mich vor Ort. Bei all diesen Fällen ermittelt die Polizei zu den Todesumständen, um ein Fremdverschulden auszuschließen. Nach den Ermittlungen bekomme ich die Akten vorgelegt und entscheide, ob ich die Leiche zur Bestattung freigeben kann oder sie obduzieren lasse. Wenn ein Verstorbener stark fäulnisverändert ist, was auch die Untersuchung bei der Leichenschau auf Hämatome oder andere Verletzungen höchst erschwert, lassen wir natürlich obduzieren. Und übrigens auch immer identifizieren. Es ist ja nicht so, dass der Tote in der Wohnung stets der Wohnungsinhaber sein muss.

Ist es besonders schwierig, das festzustellen? Oft gibt es keine Angehörigen oder sie sind weit weg.

Zunächst versucht der Arzt, der die erste Leichenschau durchführt, über Dokumente oder von Angesicht zu Angesicht - manchmal ist es ja der Hausarzt - zu identifizieren. Wenn man stark fäulnisveränderte Leichen hat, wird man es auch nicht den Verwandten zumuten, sich das anzusehen. Dennoch benötigen wir in diesen Fällen die Angehörigen, weil wir mit deren DNA die Identität klären können. Andere Identifikationsmöglichkeiten bieten das Gebiss oder frühere Operationen, über die wir bei Zahnärzten und Kliniken Informationen suchen. Auch Tätowierungen oder ähnliche Auffälligkeiten können helfen. 

Kommen diese zweiten Wege, ohne die Angehörigen und deren DNA, häufig vor?

Sie sind keine Seltenheit. Seit einem Jahr arbeiten wir nicht nur mit der TU Dresden, sondern auch der Charité in Berlin zusammen, bei der wir einzelne Obduktionen durchführen lassen. Die Rechtsmedizin der Charité hat spezielle Geräte zur Bildgebung bei Leichenuntersuchungen, die es ermöglichen, nach markanten Veränderungen im Körper, zum Beispiel eingesetzten Platten, zu suchen.

Wenn Sie erfahren, der Tod eines Menschen blieb deshalb lange unentdeckt, weil  er einsam gestorben ist - sind das Fälle, die Sie berühren?

Es ist wichtig, dass man die Verfahren, die man führt, so wenig wie möglich an sich heran lässt. Wenn man sich in jedem Fall mit den Schicksalen identifiziert, kann man den Beruf schnell nicht mehr vernünftig ausführen. Meine Aufgabe lautet, zu prüfen, ob ein Fremdverschulden vorliegt oder nicht, und zwar sehr gewissenhaft. Denn nach uns kommt niemand mehr. Dabei mache ich keinen Unterschied, ob jemand erst kürzlich oder schon vor Längerem verstorben ist. Das Berührende ist für mich weniger, dass Personen einsam sterben. Schlimmer ist doch, dass sie zuvor offenbar einsam leben mussten.

Sie sagen, nach Ihnen kommt niemand mehr. Sie meinen, weil die meisten Toten eingeäschert werden?

Der Anteil der Feuerbestattungen liegt in unserer Region bei etwa 90 Prozent. Habe ich den Verstorbenen zur Bestattung freigegeben und er wird eingeäschert, ist es vorbei. Deshalb macht mir manchmal die Qualität der ersten Leichenschau Sorge. Das ist bei Personen mit späten Leichenerscheinungen eine Herausforderung, keine Frage. Aber es gilt, dass der Tote komplett zu entkleiden und vom Arzt genau zu inspizieren ist. Dann kann es nicht sein, dass die Toten oft komplett bekleidet bleiben. Manchmal bekommen wir auch Fälle durch die zweite Leichenschau. Sie ist Pflicht vor jeder Einäscherung. Wenn der Pathologe, der sie vornimmt, feststellt: Der bei der ersten Leichenschau attestierte natürliche Tod ist nicht plausibel, dann ermitteln wir "mit Verspätung". Wünschenswert wäre, wenn sich Ärzte melden, die sich für Leichenschauen interessieren und auf diesem Gebiet Erfahrungen einbringen.

Woran wird bei Menschen, die so isoliert lebten, auffällig, dass etwas passiert ist?

In der Regel sagen Personen aus dem Umfeld irgendwann: Den oder die habe ich jetzt länger nicht mehr gesehen oder erreichen können, niemand reagiert auf Klingeln und Klopfen. Der Briefkasten ist übervoll. Der Geruch ist komisch. Manchmal ist es auch so, dass Nachbarn auffällt, dass der Fernseher Tag und Nacht vor sich hinflackert, dauerhaft das Licht brennt, sich nichts ändert. Deshalb appelliere ich, dass in Häusern mit mehreren Mietparteien die Menschen aufeinander achten. Und schnell eine Information geben, wenn sie solche Auffälligkeiten bemerken. Auch wenn man dem Menschen nicht mehr helfen kann, es kann den Mitmietern viel ersparen. Lässt sich die Todesursache nicht schnell klären, geben wir auch den Fundort der Leiche nicht so schnell zur Reinigung frei. Wenn jemand stark fäulnisverändert in der Wohnung liegt, erschwert das auch die Arbeit der Rechtsmediziner.

Was sind die Herausforderungen?

Der Punkt ist, wir sollen ein Fremdverschulden ausschließen. Aber wenn späte Leichenerscheinungen eintreten, wird die Befunderhebung sehr viel schwieriger. Oft ist dann trotz Obduktion die Todesursache nicht mehr festzustellen. Dann arbeiten wir nach dem Prinzip des Ausschlusses, zum Beispiel: Die Toxikologie hat kein Ergebnis gebracht, es finden sich keine Spuren fremder Gewalt, auf der anderen Seite aber aussagekräftige Zeichen krankhafter Veränderungen. Umso wichtiger werden in solchen Fällen die Ermittlungen im Umfeld und beim Hausarzt des Toten. Wir versuchen auch zu klären, wie lange er bereits tot ist. Wann hat er zuletzt ein Telefongespräch geführt? Wann wurde er zuletzt gesehen? Welche Zeitungen mit welchem Datum liegen im Briefkasten, welche in der Wohnung?

Haben Sie schon erlebt, dass sich der Fall einer Leiche, die lange unbemerkt in einer Wohnung lag, als Mord entpuppt hat?

Dass Obduktionen zu dem Ergebnis kommen, dass ein Fremdverschulden naheliegt, hat es schon gegeben. Ich erinnere mich an einen Fall, bei dem eine Wasserleiche an der Neiße aufgefunden wurde. Durch die Obduktion sind knöcherne Verletzungen aufgefallen, die auf ein Fremdeinwirken deuteten. Das kommt vor, aber es ist sehr selten.  

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