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Nachfahren eines jüdischen Carolus-Kinderarztes besuchen erstmals Görlitz

Hans Frankenstein war bis 1933 Chefarzt der Kinderklinik im St.-Carolus-Krankenhaus. Die Familie seines Enkels besichtigt seine einstigen Arbeitsräume.

Von Ines Eifler
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Nachum Paran (2. v. l.) mit seiner Familie und Lauren Leiderman (3. v. r.) im Carolus-Krankenhaus, wo Großvater Hans Frankenstein Arzt war. Kliniksprecherin Stephanie Hänsch zeigt Fotos von früher.
Nachum Paran (2. v. l.) mit seiner Familie und Lauren Leiderman (3. v. r.) im Carolus-Krankenhaus, wo Großvater Hans Frankenstein Arzt war. Kliniksprecherin Stephanie Hänsch zeigt Fotos von früher. © Martin Schneider

Nachum Paran erkennt die kleinen Gitterbetten gleich wieder, die auf historischen Fotos in einer Bilderausstellung im Görlitzer Krankenhaus St. Carolus zu sehen sind. In genau so einem Bettchen liegt sein Vater Ludwig als Baby auf einem Foto aus dem Jahr 1928.

Damals war die Welt noch in Ordnung für die jüdische Familie Frankenstein, die in der Berliner Straße 10/11, heute Colloseum und P&P Shoes, ein großes Warenhaus betrieb. 1902 taucht das mehrstöckige Geschäft für Woll- und Weißwaren, Kurzwaren, "Tapisserie und Damenputz" erstmals im Görlitzer Adressbuch auf, geführt von Siegismund Frankenstein und seinem Geschäftspartner Hugo Kantarowsky.

Hüte für die Görlitzer Damenwelt

"Doch das Herz des Geschäfts war meine Urgroßmutter", sagt Nachum Paran. "Sie führte in Wahrheit dieses Unternehmen." Cecilie Frankenstein interessierte sich für Mode, besuchte Paris und sorgte dafür, dass auch die Görlitzer Damenwelt Hüte trug, wie man es von Fotos aus den Goldenen Zwanzigern kennt.

Lauren Leiderman hat viel zur Görlitzer Firma S. Frankenstein & Co. recherchiert. Unter anderem diese Werbung für Hüte.
Lauren Leiderman hat viel zur Görlitzer Firma S. Frankenstein & Co. recherchiert. Unter anderem diese Werbung für Hüte. © privat

Der Sohn von Siegismund und Cecilie war Hans Frankenstein, geboren 1899 im ostpreußischen Allenstein (heute Olsztyn), von wo die Familie nach Görlitz zog. Hans Frankenstein ließ sich nach seinem Medizinstudium an der Universität Breslau und nach dem Tod seiner Eltern Mitte der 1920er Jahre als Kinderarzt mit einer Praxis in der Blumenstraße 2 nieder.

Ab 1929 ist er außerdem als Chefarzt der Kinderabteilung des Carolus-Krankenhauses verzeichnet, unter dem damaligen Ärztlichen Direktor und Mitbegründer des Krankenhauses Albert Blau. "Besonders auch für kranke Säuglinge" lautet ein Hinweis zu Frankensteins Abteilung. Nach 1933 tauchen die beiden Ärzte nicht mehr auf, die Einschränkungen für Juden, ihre Berufe auszuüben, griffen schnell, nachdem Hitlers NSDAP an die Macht kam.

Frankensteins Schicksal war in Görlitz unbekannt

Was danach mit Hans Frankenstein, mit seiner nicht-jüdischen Frau Charlotte und ihren beiden Kindern Ludwig und Johanna geschah, war in Görlitz lange unbekannt. Doch das Netzwerk der Nachfahren jüdischer Görlitzer wird schnell immer dichter, seitdem die in Görlitz lebende US-Amerikanerin Lauren Leiderman es sich zur Aufgabe gemacht hat, möglichst viele von ihnen aufzuspüren.

2021 hatte sie zum ersten Mal ein großes Treffen von auf der ganzen Welt verstreuten Kindern, Enkeln und Urenkeln jüdischer Görlitzer organisiert und dafür gesorgt, dass sie einander kennenlernen, wie auch die Görlitzer Vorfahren einander oft gut kannten.

Die Frankensteins auf Deutschlandbesuch.
Die Frankensteins auf Deutschlandbesuch. © privat
Hans Frankenstein (r.) mit seiner Frau Charlotte (Mitte) und deren Schwester Ruth, die in Wiesbaden lebte.
Hans Frankenstein (r.) mit seiner Frau Charlotte (Mitte) und deren Schwester Ruth, die in Wiesbaden lebte. © privat

Bei einer ihrer jüngsten Recherchen zu weiteren Nachfahren stieß sie auf eine Spur, die sie schließlich zur Familie Paran im israelischen Ra'anana führte. "Es war nicht einfach, sie zu finden", sagt Lauren Leiderman, "ohne die Hilfe meines Mannes, der Hebräisch spricht, wäre es nicht gelungen."

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Recherchieren ließ sich, dass Hans Frankenstein 1939 in einem englischen Kitchener Camp unterkam, das jüdische Männer als Flüchtlinge aufnahm, und dass er von dort mit der "Dunera" nach Australien gebracht wurde. Das war ein Schiff, mit dem als "potenziell gefährlich" eingestufte Emigranten unter Militärbewachung ans andere Ende der Welt gelangten. "Etwas unrühmlich für die Briten", sagt Lauren Leiderman, denn das Beispiel Hans Frankenstein zeige, dass keineswegs nur "gefährliche" Flüchtlinge aus England abtransportiert wurden.

Familie legte deutschen Namen ab

Deshalb wurde der Görlitzer Arzt 1940 auch bald wieder aus dieser Gefangenschaft entlassen, blieb noch bis 1943 in Australien und emigrierte dann nach Palästina. Was man nur auf Hebräisch finden konnte, war die Information, dass die Familie Frankenstein dort ihren deutschen Namen ablegte und sich umbenannte: Paran. Damit ging Lauren Leiderman erneut auf die Suche und fand Nachum Paran sowie dessen Kinder Ohad, Chen und Ido auf Facebook.

Sie füllen nun die Lücken der Geschichte und erzählen: Dass die Familie Frankenstein von Deutschland zunächst nach Italien auswanderte und in Genua lebte. Dass Charlotte, Hans' nicht-jüdische Frau, sich mit ihren Kindern in ein Bergdorf an der Schweizer Grenze zurückzog, als es für Hans in Italien nicht mehr sicher war und er 1939 nach England floh. "Sie haben damals von nichts anderem als Esskastanien gelebt", erzählt Nachum Paran.

Und dass sich später alle in Palästina wiedertrafen. 1953 wurde er selbst als Sohn von Ludwig Frankenstein/Paran geboren, dem einstigen Baby im Carolus-Krankenhaus-Bettchen. Der heute 70-Jährige gründete in den 1980ern eine Firma, die Maschinen für die pharmazeutische, chemische und Lebensmittelindustrie vertreibt und in der auch seine Frau und sein ältester Sohn Ohad arbeiten. Nachums Tochter Chen vertritt eine israelische Designerschuhkette. Und der jüngste Sohn Ido ist Koch in Berlin.

Nicht nur obligatorisch: Besuch der historischen Bibliothek

Von links: Lauren Leiderman und ihr Kind mit Nachum und Orna Paran sowie deren Söhnen Ohad und Ido. Jasper von Richthofen von den Görlitzer Sammlungen zeigt ihnen den historischen Bibliothekssaal.
Von links: Lauren Leiderman und ihr Kind mit Nachum und Orna Paran sowie deren Söhnen Ohad und Ido. Jasper von Richthofen von den Görlitzer Sammlungen zeigt ihnen den historischen Bibliothekssaal. © Martin Schneider

Erstmals ist die Familie diese Woche in Görlitz, besucht die Leidermans, lässt sich von Carolus-Krankenhaus-Sprecherin Stephanie Hänsch das Krankenhaus zeigen, in dem Hans Frankenstein Kinderarzt war. Trinkt Kaffee im Café Central unweit vom früheren Kaufhaus S. Frankenstein & Co., ganz sicher, dass auch Siegismund, Cecilie, Hans und Charlotte hier früher oft einkehrten.

Sind fasziniert, dass die Wohnungen ihrer Verwandten in der Augustastraße 34 und der Konsulstraße 9 noch existieren. Und treffen in der Oberlausitzischen Bibliothek den Chef der Görlitzer Sammlungen, Jasper von Richthofen, dem für 2026 eine Ausstellung über jüdisches Leben in Görlitz vorschwebt. Ihm erzählen sie, dass von Hans Frankenstein noch ein Hut aus der Görlitzer Zeit existiert und ein Mikroskop, mit dem er einst im Carolus-Krankenhaus gearbeitet hat.

Das Netzwerk der Nachfahren wächst indes weiter. In der großen Chatgruppe, in der sie sich miteinander austauschen, ist bereits ein Foto aufgetaucht, das Nachums Vater Ludwig als Kind zeigt. Zusammen mit Renate Muhr, die 1938 von Görlitz nach Brasilien floh und 2023 im Kulturforum Synagoge zu Gast war.