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Heimbewohnerin darf nicht zum Arzt gehen

Eine Verfügung sorgt in Sachsen für Interpretations-Streit: Entscheidet die Pflegeeinrichtung oder der Arzt?

Von Kornelia Noack
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In der Regel wird die medizinische Versorgung von stationär untergebrachten Pflegebedürftigen während der Coronakrise durch Hausbesuche sichergestellt.
In der Regel wird die medizinische Versorgung von stationär untergebrachten Pflegebedürftigen während der Coronakrise durch Hausbesuche sichergestellt. © Sebastian Kahnert/dpa

Es war ein Routinetermin bei ihrem Facharzt. Doch die Bewohnerin des Diakonischen Altenzentrums Graupa durfte ihn nicht wahrnehmen. Die Leitung der Einrichtung im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge untersagte der älteren Dame den Besuch in der Praxis außerhalb des Altenheimes – aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Covid-19-Virus und der Verbreitung unter den pflegebedürftigen Bewohnern.

„Ich musste abwägen zwischen der medizinischen Notwendigkeit des Arztbesuches und den möglichen Risiken für unsere gesamte Einrichtung“, sagt Torsten Göbel, der Leiter der Einrichtung, auf Anfrage der SZ. Schließlich sei er verantwortlich für die Sicherheit und den Schutz aller Bewohner und stehe am Ende dafür ein.

Grundlage für seine Entscheidung waren die Ausführungen des zuständigen Gesundheitsamtes in Pirna. Torsten Göbel hatte sich dort erkundigt und um eine Einschätzung gebeten. Das Gesundheitsamt teilte ihm mit, dass es den anstehenden Arztbesuch kritisch sieht, „da die Gefahr einer Ansteckung auf dem Weg zur Arztpraxis und zurück und in dieser nicht ausgeschlossen werden kann“. Die Verantwortung über die Entscheidung liege letztlich beim Leiter der Einrichtung.

Problem ist bekannt

Das Amt beruft sich auf die „Allgemeinverfügung für stationäre Pflegeeinrichtungen im Freistaat Sachsen“. Darin heißt es unter Ziffer III: „Grundsätzlich nicht erlaubt ist der zeitweilige Aufenthalt von Bewohnern in anderen geschlossenen Räumlichkeiten. Ausnahmen im Einzelfall bedürfen der vorherigen Zustimmung der Leitung der Einrichtung.“ Auf Nachfrage der SZ teilt das Gesundheitsamt jedoch mit: „Eine Anweisung, Arztbesuche zu streichen, gibt es nicht.“ Torsten Göbel entschied sich trotzdem gegen den Termin. „Ich habe mich nur an die Aussage des Gesundheitsamtes gehalten“, sagt er. Die Bewohnerin hätte nach ihrer Rückkehr vom Arzt in das Heim zudem 14 Tage isoliert werden müssen. Das sei kaum zu leisten gewesen.

Pflegeeinrichtungen sind von der Coronakrise besonders hart betroffen. Besuchsverbote, kaum noch gemeinsame Ausflüge, dafür zunehmend Isolierung der Bewohner – die Angst vor der Verbreitung des Virus ist groß. Doch darf sie so groß sein, dass Einrichtungen ihren Bewohnern den Gang zum Arzt untersagen? „Die Träger und Leiter der Einrichtungen haben auch in der Zeit einer Pandemie die Betreuung und Pflege sowie die ärztliche und gesundheitliche Betreuung zu sichern“, so das Sächsische Sozialministerium. Dort ist das Problem bereits bekannt. In den vergangenen Wochen seien beim Bürgertelefon etliche Anrufe von Angehörigen eingegangen, die genau diesen Sachverhalt schilderten und ihre Besorgnis darüber äußerten.

Auf Routinetermine verzichten

Der Mediziner Steffen Heidenreich zeigt Verständnis für die Sorgen der Heime. Pflegeeinrichtungen seien in der Coronakrise nun mal besonders gefährdet. Allerdings stellt der Vorsitzende des Sächsischen Hausärzteverbandes auch klar: „Über die medizinische Notwendigkeit einer Behandlung oder Therapie hat allein der Arzt zu entscheiden.“ Weder eine Heimleitung noch ein Gesundheitsamt könnten den Arztbesuch untersagen. Der Verband hatte seinen Mitgliedern in den vergangenen Wochen empfohlen, auf Routinetermine zu verzichten. Welche das seien, liege immer in der Entscheidung des Mediziners, erklärt Heidenreich. Anders sehe es aus, wenn der Patient aus Angst vor Ansteckung von sich aus nicht in die Praxis kommen wolle. Das müsse aber mit dem Arzt vorab abgesprochen werden.

Die Sorge vor der Ausbreitung des Covid-19-Virus umtreibt auch Jörg Petzold. Er ist Leiter des SenVital Senioren- und Pflegezentrums Chemnitz. Die medizinische Versorgung der Senioren stehe für ihn an erster Stelle. Mögliche Risiken sieht er ganz woanders. „Anstecken können sich unsere Bewohner oder Mitarbeiter genauso, wenn Dienstleister die Einrichtung betreten oder selbst wenn der Rettungsdienst kommt“, sagt Petzold. Besonders streng schaue er auch beim Umgang der Älteren mit ihren Angehörigen hin. Wenn ein Bewohner die Einrichtung derzeit doch mal zum Zwecke eines Arztbesuches verlassen möchte, müsse er sich mit der Einrichtung abstimmen, so Petzold. Genau das fordert auch das Sächsische Sozialministerium. Zudem stehe es den Einrichtungen frei, Regelungen für die Rückkehr zu treffen.

Das Ministerium hat aufgrund der Häufung der Hinweise mittlerweile reagiert. Seit dem 15. Mai gilt eine Neufassung der „Allgemeinverfügung für stationäre Einrichtungen“. Unter Ziffer III wurde ein Punkt umformuliert. Statt „in anderen geschlossenen Räumlichkeiten“ steht jetzt dort „an einem anderen Ort“. Zur Begründung heißt es: „Eine Allgemeinverfügung ist nach Sinn und Zweck auszulegen. Intention war nie, die Erledigung eines persönlichen Geschäfts wie einen Arztbesuch oder Einkauf zu unterbinden. Sehr wohl ist aber der zeitweilige Aufenthalt an einem anderen Ort, also etwa die Übernachtung in der Wohnung der Eltern, zu vermeiden.“

Handeln gegen das Gesetz

Darüber hinaus hat das Ministerium in Abstimmung mit der Landesärztekammer zwischenzeitlich ein Informationsschreiben an alle Pflegeeinrichtungen in Sachsen vorbereitet. Darin soll noch einmal auf die ausdrückliche Erlaubnis der Bewohner hingewiesen werden, sich gemäß der „Allgemeinverfügung“ im öffentlichen Raum aufzuhalten. Außerdem wird auf Paragraf 9 der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung verwiesen: „Die Erbringung von Dienstleistungen mit unmittelbarem Körperkontakt mit Ausnahme notwendiger medizinischer Behandlungen ist untersagt.“ Nach Ansicht der Landesärztekammer unterliegt damit ein medizinisch notwendiger Besuch in einer Arztpraxis nicht dem Kontaktverbot.

Verhindern Pflegeeinrichtungen die Behandlungen außerhalb ihrer Räume, handeln sie gesetzeswidrig. „Wenn keine gesundheitliche Betreuung der Bewohner gesichert ist, kann das zudem einen heimrechtlichen Mangel darstellen. Dieser kann sich je nach Ausprägung zu einem strafrechtlich relevanten Tatbestand erstrecken“, sagt das Sozialministerium. Unabhängig davon müsse der Träger der Einrichtung mit ordnungsrechtlichen Maßnahmen der Heimaufsichtsbehörde rechnen.

In der Regel wird die medizinische Versorgung von stationär untergebrachten Pflegebedürftigen während der Coronakrise durch Hausbesuche sichergestellt. Die „Allgemeinverfügung“ erlaubt ausdrücklich behandelnden Ärzten und Therapeuten den Zutritt in Heimen. Ein gewisses Ansteckungsrisiko besteht auch dabei. Der Sächsische Hausärzteverband empfiehlt daher seinen Mitgliedern, nur dringend notwendige Besuche in Pflegeeinrichtungen wahrzunehmen.

Auch das Gesundheitsamt Pirna teilt in dem geschilderten Fall zur Ausnahme vom Besuchsverbot mit: „Die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit sowie das Recht auf ärztliche Versorgung und die freie Arztwahl werden nicht durch die Allgemeinverfügung eingeschränkt.“ Laut Heimleiter Göbel habe der Arzt einen Besuch im Graupaer Altenzentrum nicht angeboten. Am Ende habe man sich mit dem Hausarzt auf eine Verschiebung des Facharzttermins geeinigt, so das Gesundheitsamt.

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