Der Pathologe Peter Stosiek (83) war als Bürgerrechtler Mitbegründer des Neuen Forums in Görlitz. Rainer Müller (80) kam 1990 aus Bayern nach Görlitz, um als Leiter der Deutschen Bank beim Aufbau der Wirtschaft zu helfen. Heute ist er Vorsitzender des Aktionskreises Görlitz. Die SZ bat sie zum Einheits-Interview.
Herr Stosiek, wofür sind Sie bei der Friedlichen Revolution eingetreten und haben sich Ihre Hoffnungen erfüllt?
Stosiek: Zunächst einmal: Es war keine Revolution. Dort würde etwas Neues das Alte ersetzen. Wir wollten mit einer Reform das
Alte verändern. Stefan Waldau, mit dem ich das Neue Forum gründete, schrieb
damals: "Wir wollen nicht über die Wiedervereinigung diskutieren. Das
Neue Forum will den Sozialismus nicht abschaffen, sondern demokratisieren." Die "Revolution" wurde nachgeschoben, vom Westen.
Müller: Aber Revolution klingt viel eindrucksvoller!
Stosiek: Das stimmt auch wieder. Und natürlich war die Wende ein Riesenglück, für alle! Eine Riesenfreude, paradiesisch. Als 1989 der Boden unter den Füßen der Mächtigen weich wurde, wir uns in der Frauenkirche versammelten und mit den Kerzen durch Görlitz gingen – da gab es eine große Hoffnung auf Freiheit und Veränderung. Kurz nach dem Mauerfall rief der Leiter des Wiesbadener Krankenhauses bei mir im Pathologischen Institut an: "Herr Stosiek, die Grenzen sind offen, kommen Sie mit ihren Kollegen nach Wiesbaden." In Frankfurt empfing uns ein riesiger Bus, die "egoistischen Wessis" umarmten uns, küssten uns, tischten uns ein herrliches Mahl auf und öffneten ihre Häuser für uns. Wir liefen mit federnden Schritten und waren stolz, Deutsche zu sein, das kannten wir gar nicht. Die Wende war eine Verheißung, jetzt werde alles, alles gut.
Herr Müller, haben Sie die Wende mitverfolgt?
Müller: Ich habe sie nicht hautnah, aber ebenso emotional erlebt. Ich saß in Regensburg nächtelang vorm Fernseher, zunächst ungläubig, dann aber voll freudigen Staunens. Für mich als konservativ geprägten Menschen war der Verlust der Deutschen Einheit immer eine Demütigung. Und die Wiederherstellung eines geeinten Deutschlands ein ferner Wunschtraum. Die Ostdeutschen hatten im Vergleich zu den Westdeutschen das schlechtere Los gezogen, und ich empfand großen Respekt für Menschen wie Sie, Herr Stosiek, die diesen Unrechtsstaat aus eigener Kraft, ohne Blutvergießen überwanden.
Welche Hoffnungen hatten Sie, als Sie in den Osten kamen?
Müller: Die Ostdeutschen brauchten zum Aufbau neuer Strukturen Unterstützung, und verdienten sie! Daran wollte ich mitwirken, in Solidarität und mit einem durchaus patriotischen Impuls. Die Deutsche Bank hatte wesentliche Teile der Staatsbank der DDR übernommen und plötzlich über 250 Filialen zu besetzen, das war mein Glück. Dass ich nach Görlitz kam, war reiner Zufall. Im September 1990 war die Stadt in einem bedauernswerten Zustand, aber ihre Architektur und die Atmosphäre schlugen mich sofort in ihren Bann. Für diese Stadt wollte ich mich einsetzen.
Sie sahen die Görlitzer Zukunft optimistisch?
Müller: Mir war nicht bange. Das Bestreben der Deutschen Bank war es, der lokalen Wirtschaft beim Neustart zu helfen. An Geld würde es nicht scheitern, aber die Hauptschwierigkeit sah ich in der Mentalität der Einwohner. Viele hatten resigniert. Das erklärte ich mir damit, dass sie miterlebt hatten, wie ihre schöne Stadt heruntergekommen war und wie viele aktive Menschen weggegangen waren. Sie hatten auch erlebt, wie hochnäsig alle anderen auf Görlitz schauten.
Herr Stosiek, teilen Sie diese Meinung?
Stosiek: Ich stimme der Diagnose von Herrn Müller nicht zu, dass die Menschen resigniert hatten, auch in Görlitz nicht. Der DDR-Bürger hatte sich eingerichtet, war zufrieden. Er wusste, dass er keinen Widerstand leisten darf, doch er hatte ein Dach überm Kopf, konnte essen und trinken, alles war billig. Die meisten waren denkfaul. Mich haben sie ausgelacht und gesagt, ich sei verrückt, widerständige Briefe an die Oberen zu schreiben.
Wäre eine Reform mit den Menschen von damals möglich gewesen?
Stosiek: Was herausgekommen wäre, weiß ich nicht, aber für mich als Bürgerrechtler gibt es schon Frustrationen, weil es zu dieser Reform nicht kam. Einer der entscheidenden politischen Fehler der Wende war der massive Einsatz des Westens im DDR-Wahlkampf im März 1990. Der Runde Tisch hatte beschlossen, im Sinne der Chancengleichheit auf Gastredner aus der BRD zu verzichten. Das wurde ignoriert, der Westen rollte mit seiner Wahlmaschine wie mit einer Panzerrolle über Görlitz hinweg. Es hieß sinngemäß: "Ihr kriegt euer Westgeld, aber über Verfassung wird nicht diskutiert, die Bundesrepublik wird auf das Territorium der DDR ausgedehnt."
Müller: Aber gewählt haben die Görlitzer. Sie haben das Neue Forum abgewählt.
Stosiek: Gewählt haben sie, aber die Chancen waren ungleich. Wenn sich der Westen im Wahlkampf zurückgehalten hätte, wären wir nicht einfach vom Fenster weggewesen. Im Stadtparlament bekamen wir 7,5 Prozent. Wir konnten uns nicht artikulieren. So konnte ein Prozess des Sich-selbst-Findens der Menschen in der DDR nicht stattfinden.
Müller: Es wäre der mühsamere Weg gewesen.
Stosiek: Richtig, aber im Rückblick ist es schade, weil einiges verpasst wurde. Ich hätte mir gewünscht, dass ein paar Gemüsebrocken aus der DDR in der gesamtdeutschen Suppe hätten schwimmen können. Es wäre gesünder gewesen.
Müller: Ja, für das Selbstwertgefühl der Menschen.
Herr Müller, hatten Sie in den 1990ern privaten Kontakt zu Görlitzern?
Müller: Ich habe damals den Rotaryclub begründet, darin waren vor allem Görlitzer. Manchmal habe ich Leute zu mir nach Hause eingeladen. Aber niemals luden sie mich ein. Mir kam es vor, als glaubten viele, sich dafür entschuldigen zu müssen, aus Görlitz zu sein. Allerdings habe ich auch mutige, nach vorn strebende Menschen getroffen. Sie engagierten sich im Aktionskreis, dem ich im Januar 1991 beitrat – Mitgliedsnummer 35. Das war eine gute Entscheidung.
Herr Stosiek, welche Dinge aus der DDR vermissen Sie heute genau?
Stosiek: Das sind für mich als Arzt viele Dinge im Gesundheitswesen: Staatliche Polikliniken und Betriebsambulanzen – wurden abgeschafft. 50-jährige Ärzte mussten sich niederlassen, die waren verzweifelt. Die Trennung zwischen ambulant und stationär, die jetzt durch Verdienstinteressen bestimmt ist, gab es nicht. Auch keine Privatkliniken und -versicherungen. Eine Krankenkasse, nicht 300. Es gab ein Pflichtjahr für junge Ärzte an einem zugeteilten Ort, wo manche blieben. Das war hilfreich, es gab keinen Ärztemangel auf dem Lande. Dass diese und andere Dinge nicht diskutiert wurden, war ein Fehler. Es ist bis heute Grund von Unmut und Unzufriedenheit. Das Ergebnis der Einheit sehe ich also nicht ganz so rosig.
Und Sie, Herr Müller?
Müller: Das wirtschaftliche Ergebnis sehe ich rosig. Das mentale nicht. Ich weiß, dass das glänzende Bild nach außen nicht alles ist, sondern dass manche Menschen im Zuge der Wende unter die Räder und nie wieder ins Laufen gekommen sind. Da sind viele Fehler passiert, daran habe ich auch mitgewirkt. Aber ich habe kein Verständnis für die generelle Unzufriedenheit, besonders mit dem demokratischen System. Es wird ja heute alles infrage gestellt.
Stosiek: Vieles, ja.
Müller: Zu Zeiten der Wende waren wir das glücklichste Volk der Erde. Das war eine kurze Phase, und jetzt sind wir in wesentlichen Teilen unzufrieden und missmutig. Und stellen Dinge infrage, die ich verteidige – die Demokratie. Dass das im Osten wesentlich stärker ausgeprägt ist als im Westen, ist für mich schwer zu erklären. Natürlich hat das System im Osten gegen die Marktwirtschaft verloren, es war nicht so leistungsfähig. Die Demokratie hat sich verglichen mit der autoritären Führung auch als attraktiv erwiesen. Aber das Gefühl, übernommen worden zu sein, nagt wohl in den Menschen bis heute.
Stosiek: Strukturfehler aus der Wende wirken immer noch fort, das war eine Art Kolonisierung: In den Leitungspositionen hatten wir ab 1990 plötzlich überall Westleute.
Müller: Ja! Denn eine Bank konnte ohne Unterstützung nicht arbeiten.
Stosiek: Aber wir hatten sie auch in den Universitätskliniken, Instituten und Kultureinrichtungen: überall Westleute, auch in den Görlitzer Museen. Da ist keiner rangekommen von Ostleuten, dabei waren die gut!
Haben Sie sich persönlich zurückgesetzt gefühlt?
Stosiek: Ich hatte mich im Osten habilitiert und gehörte zu den Leuten aus der zweiten Reihe, die nicht befördert wurden. Die aus der ersten Reihe wurden wegen Systemnähe beseitigt. Aber ich bekam keinen Ruf, konnte mich bewerben, wo ich wollte. Die Leute aus dem Westen waren alle vorher da. Bis jetzt gibt es diese Dominanz des Westens. Da fühlen sich viele betrogen, schlecht behandelt.
Müller: Das verstehe ich, aber auch der Eigenanteil spielt eine Rolle. Die Ostler drängen sich in der großen Mehrheit nicht nach führenden Positionen, wo sie Verantwortung haben. Sie sind nicht so ehrgeizig, sie waren auch nicht so geschickt, sich durchzusetzen. Ich appelliere an den Stolz auf das, was geleistet wurde, Selbstbewusstsein.
Stosiek: Aber es darf nicht nur bei der Lebensleistung bleiben und beim grünen Pfeil. Einiges muss auch mehr anerkannt werden. Aber vielleicht ist das inzwischen vorbei.
Müller: Es ist auch ein Verkennen der Wirklichkeit. Ich frage mich manchmal: Leute, seid ihr blind? Seht ihr nicht, wie sich alles entwickelt hat? Manche wollen einfach Missmut verbreiten. Mit Argumenten ist ihnen nicht beizukommen. Das ist es, was ich traurig finde. Ansonsten können wir glücklich sein, dass alles so gekommen ist.
Wie lange blieben Sie damals in Görlitz?
Müller: Die Wirtschaft nach 1990 ins Laufen zu bringen, war viel mühsamer als gedacht, weil die etablierten DDR-Betriebe infolge der falschen Währungsumstellung schlagartig nicht mehr konkurrenzfähig waren. Und die neuen Unternehmer fielen reihenweise den unbekannten Risiken der Marktwirtschaft zum Opfer. Ausnahmen waren Arztpraxen, Zahnärzte und natürlich Autohäuser. Die Banken verloren viel Geld, weil Kredite nicht zurückgezahlt wurden, Konsequenz: Kreditsperre. Ich konnte vor Ort also nichts mehr bewegen. So wurde ich 1995 nach Warschau versetzt, mit dem Auftrag, die Deutsche Bank in Polen zu etablieren. Die fünf Jahre dort erwiesen sich als Höhepunkt meiner beruflichen Laufbahn.
Wären Sie ohne die Wende nach Warschau gekommen?
Müller: Nein, da war der Eiserne Vorhang, Planwirtschaft. Auch ohne Görlitz wäre ich nicht nach Warschau gekommen, denn ich hatte – mit mäßigem Erfolg – für meine Görlitzer Belegschaft Polnischunterricht eingeführt. Das fiel jemandem in der Zentrale in Frankfurt auf, und der schlug mich für Warschau vor. Die Wende war für mich also auch in beruflicher Hinsicht ein Glück.
Herr Stosiek, 1990 in Wiesbaden fühlten Sie sich erstmals als Deutscher. Wie ist das heute?
Stosiek: Aus diesem Hochgefühl bin ich natürlich wieder auf den Teppich zurückgekommen. Vorher hatte ich kein Gefühl als Deutscher, es gab zwei Länder und keiner ahnte, dass unsere Enkel mal die Mauer nicht mehr kennen würden. Jetzt habe ich ein Gefühl, Deutscher zu sein, aber anderer Klasse. Die Grenze ist noch in meinem Kopf. Selbst wenn ich versuche, sie zu relativieren, im Osten fühle ich mich wohler.
Herr Müller, Sie bezeichnen sich manchmal als „Wossi“.
Müller: Das ist Spaß, ich fühle mich als Deutscher, meine Herkunft aus dem Westen hat mich geprägt. Meine Hoffnung ist, dass sich die Grenze in den Köpfen relativiert. 1990 dachte ich, es dauere zehn Jahre, aber Ost und West haben sich auseinanderentwickelt mit der Tendenz, dass Ossis als Opfer und Wessis als Täter stilisiert werden. Das freut mich natürlich nicht, denn ich kam mit idealistischen Absichten her. Auch was Sie, Herr Stosiek, in Wiesbaden erlebten, kam aus dem Herzen.
Wann haben Sie sich zum zweiten Mal für Görlitz entschieden?
Müller: 2007 kam ich zurück, um hier meinen Lebensabend zu verbringen. Die Stadt war aufgeblüht, und die Görlitzer, die erst so verzagt waren, hatten ihren Bürgerstolz wieder entdeckt. Görlitz wird immer schöner und liebenswerter, und ich bin glücklich, in dieser wunderbaren Stadt eine neue Heimat gefunden zu haben.
Stosiek: Ich bin letzten Endes auch optimistisch, weil ich mir sage, wir müssen aus Diskrepanzen und Disharmonien wieder herausfinden. Es kommen so viele Herausforderungen auf uns zu. Wenn ich nur an die Klimakatastrophe denke! Da ist unsere Situation in Deutschland doch Kleinkram, Buddelkasten.
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