SZ + Görlitz
Merken

"Wir waren das glücklichste Volk der Erde"

Peter Stosiek und Rainer Müller waren um die 50, als die Mauer fiel. Nun blicken der Görlitzer und der Münchener auf 30 Jahre deutsche Einheit zurück.

Von Ines Eifler
 11 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Peter Stosiek (links) und Rainer Müller im Gespräch über die deutsche Einheit.
Peter Stosiek (links) und Rainer Müller im Gespräch über die deutsche Einheit. © Nikolai Schmidt

Der Pathologe Peter Stosiek (83) war als Bürgerrechtler Mitbegründer des Neuen Forums in Görlitz. Rainer Müller (80) kam 1990 aus Bayern nach Görlitz, um als Leiter der Deutschen Bank beim Aufbau der Wirtschaft zu helfen. Heute ist er Vorsitzender des Aktionskreises Görlitz. Die SZ bat sie zum Einheits-Interview.

Herr Stosiek, wofür sind Sie bei der Friedlichen Revolution eingetreten und haben sich Ihre Hoffnungen erfüllt?

Stosiek: Zunächst einmal: Es war keine Revolution. Dort würde etwas Neues das Alte ersetzen. Wir wollten mit einer Reform das Alte verändern. Stefan Waldau, mit dem ich das Neue Forum gründete, schrieb damals: "Wir wollen nicht über die Wiedervereinigung diskutieren. Das Neue Forum will den Sozialismus nicht abschaffen, sondern demokratisieren." Die "Revolution" wurde nachgeschoben, vom Westen.

Müller: Aber Revolution klingt viel eindrucksvoller!

Stosiek: Das stimmt auch wieder. Und natürlich war die Wende ein Riesenglück, für alle! Eine Riesenfreude, paradiesisch. Als 1989 der Boden unter den Füßen der Mächtigen weich wurde, wir uns in der Frauenkirche versammelten und mit den Kerzen durch Görlitz gingen – da gab es eine große Hoffnung auf Freiheit und Veränderung. Kurz nach dem Mauerfall rief der Leiter des Wiesbadener Krankenhauses bei mir im Pathologischen Institut an: "Herr Stosiek, die Grenzen sind offen, kommen Sie mit ihren Kollegen nach Wiesbaden." In Frankfurt empfing uns ein riesiger Bus, die "egoistischen Wessis" umarmten uns, küssten uns, tischten uns ein herrliches Mahl auf und öffneten ihre Häuser für uns. Wir liefen mit federnden Schritten und waren stolz, Deutsche zu sein, das kannten wir gar nicht. Die Wende war eine Verheißung, jetzt werde alles, alles gut.

Herr Müller, haben Sie die Wende mitverfolgt?

Müller: Ich habe sie nicht hautnah, aber ebenso emotional erlebt. Ich saß in Regensburg nächtelang vorm Fernseher, zunächst ungläubig, dann aber voll freudigen Staunens. Für mich als konservativ geprägten Menschen war der Verlust der Deutschen Einheit immer eine Demütigung. Und die Wiederherstellung eines geeinten Deutschlands ein ferner Wunschtraum. Die Ostdeutschen hatten im Vergleich zu den Westdeutschen das schlechtere Los gezogen, und ich empfand großen Respekt für Menschen wie Sie, Herr Stosiek, die diesen Unrechtsstaat aus eigener Kraft, ohne Blutvergießen überwanden.

Welche Hoffnungen hatten Sie, als Sie in den Osten kamen?

Müller: Die Ostdeutschen brauchten zum Aufbau neuer Strukturen Unterstützung, und verdienten sie! Daran wollte ich mitwirken, in Solidarität und mit einem durchaus patriotischen Impuls. Die Deutsche Bank hatte wesentliche Teile der Staatsbank der DDR übernommen und plötzlich über 250 Filialen zu besetzen, das war mein Glück. Dass ich nach Görlitz kam, war reiner Zufall. Im September 1990 war die Stadt in einem bedauernswerten Zustand, aber ihre Architektur und die Atmosphäre schlugen mich sofort in ihren Bann. Für diese Stadt wollte ich mich einsetzen.

Sie sahen die Görlitzer Zukunft optimistisch?

Müller: Mir war nicht bange. Das Bestreben der Deutschen Bank war es, der lokalen Wirtschaft beim Neustart zu helfen. An Geld würde es nicht scheitern, aber die Hauptschwierigkeit sah ich in der Mentalität der Einwohner. Viele hatten resigniert. Das erklärte ich mir damit, dass sie miterlebt hatten, wie ihre schöne Stadt heruntergekommen war und wie viele aktive Menschen weggegangen waren. Sie hatten auch erlebt, wie hochnäsig alle anderen auf Görlitz schauten.

Herr Stosiek, teilen Sie diese Meinung?

Stosiek: Ich stimme der Diagnose von Herrn Müller nicht zu, dass die Menschen resigniert hatten, auch in Görlitz nicht. Der DDR-Bürger hatte sich eingerichtet, war zufrieden. Er wusste, dass er keinen Widerstand leisten darf, doch er hatte ein Dach überm Kopf, konnte essen und trinken, alles war billig. Die meisten waren denkfaul. Mich haben sie ausgelacht und gesagt, ich sei verrückt, widerständige Briefe an die Oberen zu schreiben.

Wäre eine Reform mit den Menschen von damals möglich gewesen?

Stosiek: Was herausgekommen wäre, weiß ich nicht, aber für mich als Bürgerrechtler gibt es schon Frustrationen, weil es zu dieser Reform nicht kam. Einer der entscheidenden politischen Fehler der Wende war der massive Einsatz des Westens im DDR-Wahlkampf im März 1990. Der Runde Tisch hatte beschlossen, im Sinne der Chancengleichheit auf Gastredner aus der BRD zu verzichten. Das wurde ignoriert, der Westen rollte mit seiner Wahlmaschine wie mit einer Panzerrolle über Görlitz hinweg. Es hieß sinngemäß: "Ihr kriegt euer Westgeld, aber über Verfassung wird nicht diskutiert, die Bundesrepublik wird auf das Territorium der DDR ausgedehnt."

Müller: Aber gewählt haben die Görlitzer. Sie haben das Neue Forum abgewählt.

Stosiek: Gewählt haben sie, aber die Chancen waren ungleich. Wenn sich der Westen im Wahlkampf zurückgehalten hätte, wären wir nicht einfach vom Fenster weggewesen. Im Stadtparlament bekamen wir 7,5 Prozent. Wir konnten uns nicht artikulieren. So konnte ein Prozess des Sich-selbst-Findens der Menschen in der DDR nicht stattfinden.

Müller: Es wäre der mühsamere Weg gewesen.

Stosiek: Richtig, aber im Rückblick ist es schade, weil einiges verpasst wurde. Ich hätte mir gewünscht, dass ein paar Gemüsebrocken aus der DDR in der gesamtdeutschen Suppe hätten schwimmen können. Es wäre gesünder gewesen.

Müller: Ja, für das Selbstwertgefühl der Menschen.