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Der DDR-Künstler und sein Bruder: Zwei Autoren und ihre Sicht auf Willi und Rudolf Sitte

Den Maler Willi Sitte kennt jeder, der sich mit DDR-Kunst befasst. Doch da ist auch noch Rudolf, ein kaum bekannter Bruder. In Kamenz kommen die Leben beider nun auf die Bühne.

Von Torsten Hilscher
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Autor Reinhard Kärbsch (l.) trifft am 27. Januar im Stadttheater Kamenz auf einen Verwandten des DDR-Malers Willi Sitte: Aron Boks. Beide haben Buch-Biografien über die Sitte-Brüder Willi und Rudolf im Gepäck.
Autor Reinhard Kärbsch (l.) trifft am 27. Januar im Stadttheater Kamenz auf einen Verwandten des DDR-Malers Willi Sitte: Aron Boks. Beide haben Buch-Biografien über die Sitte-Brüder Willi und Rudolf im Gepäck. © Fotos: Matthias Schumann, Ken Yamamoto

Kamenz. "Lieber vom Leben gezeichnet als von Sitte gemalt." Reinhard Kärbsch aus Kamenz kann so gar nicht lachen über diesen Spaß aus der Endphase der DDR, als die Gags knapper und sarkastischer wurden und Lieber-als-Witze die Lage im Land präzise beschrieben. Kärbsch ist nicht nur ehemaliger NVA-Lehroffizier und steht noch heute treu zu seinen Idealen. Er ist als Publizist auch ein Kunstfreund, den Recherchen vor mehr als 25 Jahren zu einem Mann führten, von dessen Existenz damals nur Eingeweihte wussten: Rudolf Sitte, Bruder des einstigen Staatsmalers Willi Sitte und wohnhaft in Königsbrück.

"Erstmals habe ich ihn dort 1997 getroffen. Es ging um eine Ausstellung, von der ich vermutete, es würden Werke Willi Sittes gezeigt", erzählt Kärbsch. Aus diesem Missverständnis entwickelte sich bis zum Tod des Künstlers 2009 eine Freundschaft, aus der das Buch "Über Kunst, Katzen und Keramik: fiktive Gespräche mit Rudolf Sitte zum 100. Geburtstag" hervorgegangen ist.

Junger Nachfahre stieß zufällig auf Willi Sitte

"Und darauf stieß jüngst eine Verwandte der Sitte-Brüder in Rostock", sagt Kärbsch. Diese wiederum meldete das nach Berlin zu Aron Boks. Der junge Journalist ist ein Großneffe von Willi Sitte und hat zum berühmten und umstrittenen Großmaler, der 2013 in Halle starb, ein Buch verfasst. Nun haben Kärbsch und er zusammengefunden, am 27. Januar 2024 plaudern sie im Kamenzer Stadttheater. Moderiert wird der Abend vom Dresdner Kultursoziologen Karl-Siegbert Rehberg. Der Professor ist nach Einschätzung von Kärbsch jener Wissenschaftler, der Willi Sitte nach Jahren der Verfemung rehabilitierte.

Die Kamenzer Runde ist eine Premiere: Noch nie fand sich so viel Sach- und Fachverstand zur Sitte-Familie zusammen. Eine Ausnahme bildet die bis dato größte Willi-Sitte-Retrospektive "Sittes Welt" zwischen Oktober 2021 und Februar 2022 auf der Moritzburg in Halle/Saale, die alle drei selbstredend kennen.

Es gibt also eine Menge zu erzählen. Zum Beispiel das: Gleich dem Kamenzer Kärbsch stieß auch Boks eher zufällig auf Sitte, wie er im Vorgespräch erzählt. Denn aus der verzweigten Familie zu stammen, heißt noch lange nicht, Willi Sitte unbedingt zu kennen. "Ich bin zwar mit ihm verwandt. Aber er war nie ein Thema. Nicht, weil er verschwiegen worden wäre oder weil man das wollte. Es war ganz einfach so", sagt Boks.

Ein Bild von Sitte gab Anstoß zu einer Entdeckungsreise

Doch eines Tages stolperte er auf dem Dachboden über ein Bild, das Willi einem seiner anderen Brüder - Franz - geschenkt hatte. Das ist Arons Familienlinie. Das Bild hatte 1940 den Besitzer gewechselt, jetzt hielt es ein Enkel in der Hand. Und der fragte nun, wer denn dieser Willi Sitte war - der Beginn einer Entdeckungsreise.

Kannte doch Boks weder Sitte, noch sein Wirken und sein Werk. Auch die DDR und ihre vielfältige Kulturgeschichte mit allen Verwerfungen, an denen auch der Funktionär Genosse Sitte seinen Anteil hatte, waren ihm unbekannt. "Ich bin förmlich in DDR-Geschichte hineingestolpert", gesteht der junge Journalist. Kein Wunder, dass sein Buch den Titel "Nackt in die DDR" trägt. Auch darüber will er in Kamenz berichten.

1982 bei der IX. Kunstausstellung der DDR in Dresden: Willi Sitte (2.v.l.) beim Rundgang unter anderem mit DDR-Staatschef Erich Honecker (3.v.r.).
1982 bei der IX. Kunstausstellung der DDR in Dresden: Willi Sitte (2.v.l.) beim Rundgang unter anderem mit DDR-Staatschef Erich Honecker (3.v.r.). © Wikimedia/BArch Bild 183-1982-10

Wie ein junger Mensch, der aus Wernigerode stammt und heute in Berlin für die linksalternative Tageszeitung "taz" und das Musikmagazin "Rolling Stone" schreibt, sich ein Land erschließt, das es nicht mehr gibt. Und das alles entlang eines fernen Verwandten, der trotz Missgunst und Häme viel mehr malte als seine weltbekannten Rubens-Nackten. Der zum Beispiel ein Meister der Perspektive war und in manchen Jahren Ärger mit seiner Partei, der SED, hatte, bevor er selbst manchem jungen Künstler das Leben schwer machte.

Neue Familienmitglieder kennengelernt

"Ich habe sein Leben in der ganzen Ambivalenz kennengelernt. Seine ständige Zerrissenheit zwischen Gefühlen, politischen Idealen und dem Streben nach künstlerischer Unabhängigkeit", so der Nachfahr. Dafür sprach Boks mit zahlreichen Verwandten aus der großen Sippe, darunter der Witwe. Einige Familienmitglieder lernte er durch die Recherchen überhaupt erst kennen. Herausgekommen ist ein tiefer, aber unbefangener Blick auf ein Leben zwischen Nazi-Kunstförderschule, Wehrmacht, Partisanen-Freundschaft, Ateliers, SED-Leitungsstelle und deutsch-deutscher Wiedervereinigung.

Rudolf Sitte, Bruder des berühmten Malers Willi Sitte, wirkte unter anderem als Keramiker und Grafiker. Er starb 2009 in Königsbrück.
Rudolf Sitte, Bruder des berühmten Malers Willi Sitte, wirkte unter anderem als Keramiker und Grafiker. Er starb 2009 in Königsbrück. © Archivfoto: Veit Hengst

Kärbsch seinerseits hat Pionierarbeit in Sachen Rudolf Sitte geleistet. Der Bruder des bekannten Willi war selbst ein großer Kreativer. Er wirkte als Maler, Keramiker und Grafiker. Kärbsch zufolge war er erster Professor für baugebundene Kunst auf deutschem Boden, nachgewiesenermaßen in der DDR. Noch heute existieren viele seiner Werke im öffentlichen Raum, zum Beispiel ein Wandrelief im Dresdner "Haus der Presse".

Lesung mit Reinhard Kärbsch und Aron Boks „2 x Sitte“ am 27. Januar 2024, 19 Uhr, im Stadttheater Kamenz. Karten in der Kamenz-Information, Schulplatz 5, zu 15 Euro/ermäßigt 12,50 Euro, an der Abendkasse 16 Euro.