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Wie sich eine Flut verhindern lässt: Der Stolz des Staumeisters

Sebastian Rieß ist verantwortlich für das neue Rückhaltebecken bei Niederpöbel im Erzgebirge. Er könnte verhindern, dass es dort künftig noch einmal eine Katastrophe gibt wie vor 20 Jahren.

Von Olaf Kittel
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Als junger Mitarbeiter der Landestalsperrenverwaltung hat Sebastian Rieß die Flutkatastrophe 2002 selbst erlebt. Heute hat der 41-Jährige die Verantwortung als Staumeister für die Talsperre Malter sowie für das neue Rückhaltebecken bei Schmiedeberg.
Als junger Mitarbeiter der Landestalsperrenverwaltung hat Sebastian Rieß die Flutkatastrophe 2002 selbst erlebt. Heute hat der 41-Jährige die Verantwortung als Staumeister für die Talsperre Malter sowie für das neue Rückhaltebecken bei Schmiedeberg. © Jürgen Lösel

2002 verwüstete Wasser Teile des Erzgebirges. Wie kann das in Zukunft verhindert werden? Wir wagen einen Blick in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Der Blick in die Zukunft

Wir schreiben das Jahr 20xx. Seit Tagen schüttet es im Erzgebirge, das Regenwasser fließt über die Berghänge, die Bäche schwellen an. Bald sind die Alarmwerte überschritten. Sachsen löst Katastrophenalarm aus.

Bei Staumeister Sebastian Rieß klingelt daheim das Telefon, er hatte schon damit gerechnet. Er springt in seine Arbeitskluft – Shirt, Weste mit dem Logo der Landestalsperrenverwaltung, kurze Hosen, Wanderstiefel – und startet sein Auto. Zunächst fährt er so schnell es geht zur Talsperre Malter, in seine Zentrale. Hier informiert er sich rasch über die Pegelstände der Flüsse. Er braucht nicht lange für die Erkenntnis: Die Lage ist ernst. Vergleichbar mit der vor vielen Jahren, am 12. August 2002.

Nach Anweisungen für die Talsperre Malter steigt er mit einem Kollegen in ein geländegängiges Auto – es kann sein, dass sie überflutete Straßen verlassen und Waldwege nutzen müssen. Mit hohem Tempo fährt er zum Rückhaltebecken Niederpöbel bei Schmiedeberg, das nach der Flutkatastrophe von 2002 geplant und bis 2019 im idyllischen Pöbeltal gebaut wurde.

Aus dem Auto heraus stellt Staumeister Rieß digitale Verkehrszeichen um und erklärt damit die Straße durchs Tal auf beiden Seiten zur Sackgasse. Vor dem Damm und einen Kilometer dahinter an der Wahlsmühle lässt er per Fernbedienung Schranken herunter. Am Staudamm angekommen, fährt sein Kollege den einen Kilometer langen potenziellen Stauraum allein ab, um zu prüfen, ob auch der letzte Pilzsammler wirklich das Gebiet verlassen hat. Rieß selbst stiefelt den klatschnassen Weg auf die 28 Meter hohe Dammkrone, schließt das Steuerhaus auf und fährt die Computer hoch.

Auf seinem großen Bildschirm kann er jetzt Pegelstände abrufen und mithilfe mehrerer Überwachungskameras die Lage genau einschätzen. Der sonst kleine, leise murmelnde Pöbelbach hat sich bereits zu einem reißenden Fluss entwickelt. Sebastian Rieß ist sofort klar, dass er schnell handeln muss.

Sobald sein Kollege vom Pilzsammlerverjagen zurück ist, verschließt er über große Schutzsysteme mit zwei 40 Tonnen schweren Flutschutztoren die Straße durch den Damm. Es ist eine in Deutschland einmalige Konstruktion, die die Straße erhalten hat, aber auch für einen erheblichen Teil der 50 Millionen Euro Baukosten gesorgt hat. Auch, weil jedes Fluttor und jedes dazugehörige System sicherheitshalber doppelt vorhanden ist. Und wenn die digitale Steuerung ausfallen sollte, gibt es auch noch eine analoge Steuertafel mit einem großen roten Knopf.

Als Nächstes versperrt Rieß mit einem kleineren Fluttor dem Pöbelbach den Weg ins Tal. Der Stau beginnt, schon in wenigen Stunden wird der Wasserstand gestiegen sein. Die Straße verschwindet zuerst in den Fluten, dann nach und nach tauchen die Wälder und Wiesen unter. Die Natur soll sich davon ganz gut erholen – wenn sie nach 72 Stunden wieder Luft bekommt.

Der Staumeister regelt jetzt an seinem Computer, wie viel Wasser noch durch den Damm gelassen wird. Zehn Kubikmeter pro Sekunde wären ideal. Dann führt der Pöbelbach zwar Hochwasser, aber größere Schäden im Tal und unten in Schmiedeberg können vermieden werden.

1,2 Millionen Kubikmeter fasst der Stauraum, werden es mehr, wird Wasser durch einen Überlaufkanal ins Tal gelassen. 2002 hätte der Stauraum aber wahrscheinlich ausgereicht. Sebastian Rieß bleibt jetzt nur konzentriertes Überwachen der Pegelstände und Kamerabilder – und banges Warten. Wenn Holz und Sperrmüll den Wasserdurchlauf zu verstopfen drohen, muss er womöglich über eine abenteuerliche Stiege kerzengerade vom Damm herunterklettern und versuchen, den Weg des Wassers irgendwie freizubekommen.

Der Blick in die Vergangenheit

Wir schreiben den 12. August 2002. Im Erzgebirge schüttet es, das Regenwasser fließt über die Berghänge, die Bäche schwellen an. Bald sind die Alarmwerte überschritten.

Christine Gärtner beobachtet seit Stunden ängstlich, wie der Pöbelbach steigt, der an ihrem Schmiedeberger Grundstück vorbeiführt. Die 41-Jährige ist mit ihrer Mutter allein im großen zweistöckigen Haus, ihr Lebensgefährte arbeitet in Stuttgart, seit es für ihn im Erzgebirge keine Arbeit mehr gibt. Der neunjährige Sohn Tommy ist in der Schule.

In diesem Haus in Schmiedeberg lebte Christine Gärtner mit ihrer Mutter.
In diesem Haus in Schmiedeberg lebte Christine Gärtner mit ihrer Mutter. © Jürgen Lösel

Die beiden Frauen bringen zunächst die Gartenmöbel in den Schuppen. Dann versuchen sie, den Keller mit Eimern auszuschöpfen. Aber es kommt immer mehr Wasser, bald geben sie auf. Christine Gärtner erfährt noch, dass ihr Sohn bei einer Schulfreundin sicher unterkommt, der Weg heim ist schon zu gefährlich. Ein Nachbar fährt ihr Auto weg. Dann müssen die Frauen hilflos mit ansehen, wie erst die Garage mit den Gartenmöbeln wegschwimmt und dann das Waschhaus zusammenbricht. Es wird lebensgefährlich.

Christine Gärtner ruft die Feuerwehr, über die Leiter werden die Frauen über das Küchenfenster herausgeholt. Für die Nacht erhalten sie in einem Pflegeheim Asyl. Auch das wird bald im Wasser stehen, die Frauen müssen mit ihrem Nachtlager eine Etage höher.

Am nächsten Morgen will Christine Gärtner unbedingt rasch zum Haus zurück. Aber der Pöbelbach hat das Tal samt Straßen und Wegen bis ins Schmiedeberger Zentrum, wo er in die Rote Weißeritz mündet, unpassierbar gemacht. Der einzig mögliche Weg zum Haus führt über den Viadukt der Kleinbahn.

Am 12. August 2002 wurde der Pöbelbach zu einem reißenden Fluss, und zerstörte das Gebäude in Schmiedeberg..
Am 12. August 2002 wurde der Pöbelbach zu einem reißenden Fluss, und zerstörte das Gebäude in Schmiedeberg.. © Jürgen Lösel

Die erste Passantin, die Christine Gärtner trifft, meint: „Du, Christine, ich glaube, heute Nacht ist deine Küche bei uns vorbeigeschwommen.“ Wie bitte? Das muss ein Irrtum sein. Dann kommen ihr Bekannte entgegen, die gerade an ihrem Grundstück vorbei sind. „Dein Haus ist nicht mehr da!“ Christine Gärtner will es immer noch nicht glauben. Als sie dort ankommt, wo einst das massive Haus stand, gibt es tatsächlich nur noch ein riesiges steiniges Flussbett. Keine Spur mehr von Haus und Garten, vom Hab und Gut zweier Familien. Alles weg, auch fast alle Erinnerungsstücke. Wolfgang Legler hat das Drama aus seiner Wohnung gegenüber miterlebt.

Er schildert es so: „Als die Garage weg war, traf ein Baum oder ein anderer großer Gegenstand eine Ecke des Hauses. Sie brach weg, das Wasser strömte ins Haus, nach und nach stürzte es ein. Bis 23 Uhr war das zweistöckige Haus komplett verschwunden.“

Drei Häuser in Schmiedeberg sind total zerstört, berichtet der stellvertretende Bürgermeister Peter Hofmann, mehrere Schmiedeberger müssen noch am Morgen des 13. August per Hubschrauber aus ihren Häusern gerettet werden. Die Schäden an vielen Gebäuden sind enorm, die Brücken zerstört, es gibt kein Wasser, kein Gas, keinen Strom. Die Lebensader B 170 bleibt lange unpassierbar.

Die Wassermassen aus Pöbelbach und Roter Weißeritz sind weiter talwärts getobt, haben in Dippoldiswalde Schäden angerichtet und, vereint mit der Wilden Weißeritz, erst Freital und dann Dresden unter Wasser gesetzt. Man kann durchaus sagen, dass der Pöbelbach auch durch den Hauptbahnhof und den Dresdner Zwinger geflossen ist.

Christine Gärtner braucht mit ihrer Familie wieder ein Dach über dem Kopf. Als sie später vom Staudammprojekt hört, denkt sie noch einmal daran, ihr Haus an derselben Stelle wieder aufzubauen. Aber wie lange würde es wohl dauern, bis der Damm steht? Sie entscheidet sich für einen Neubau, sicherheitshalber hoch genug gelegen und weit genug weg vom Pöbelbach.

Der Blick auf die Gegenwart

Wir schreiben Anfang August 2022. Die Sonne scheint im Pöbeltal, der Bach plätschert leise vor sich hin, als wäre es nie anders gewesen. Hochwasser ist in diesem besonders trockenen und heißen Sommer kaum vorstellbar.

20 Jahre nach der Katastrophe wirkt Christine Gärtner gelassen und froh über ihr neues Haus, auch wenn der Bau trotz aller Hilfen viel Geld und Nerven gekostet hat. „Es ist gut, dass es jetzt den Damm gibt“, meint sie. „Eine solche Katastrophe braucht niemand noch einmal.“

Staumeister Sebastian Rieß hat solche Geschichten oft gehört. Der 41-Jährige, seit 2001 bei der Landestalsperrenverwaltung, erlebte die Flutkatastrophe 2002 als junger Mitarbeiter selbst hautnah an der Talsperre Malter, auch die Aufregung um den angeblichen Dammbruch. Ihm muss niemand mehr was erzählen. Heute hat er die Verantwortung als Staumeister für Malter sowie die Rückhaltebecken Niederpöbel und Reinhardtsgrimma, das den Lockwitzbach zähmt. Wäre allerdings gut, meint er, wenn auch das noch immer in der Planung befindliche Becken für die Rote Weißeritz in Waldbärenburg bald gebaut würde.

Und fertig wäre, wenn das Jahr 20xx kommt.