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Todesgarage in Pirna: Jetzt spricht ein Angehöriger

Die Garage der grauen Busse an der NS-Tötungsanstalt auf Pirnas Sonnenstein soll umgebaut werden zu Wohnungen. Der Urenkel eines Ermordeten macht einen Vorschlag.

Von Mareike Huisinga
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Ein Gesicht, ein Mensch. Einer von vielen, die auf dem Sonnenstein in Pirna von 1940 bis 1941 ermordet wurden. Er heißt Franz Molch.
Ein Gesicht, ein Mensch. Einer von vielen, die auf dem Sonnenstein in Pirna von 1940 bis 1941 ermordet wurden. Er heißt Franz Molch. © Rekonstruiertes Porträt: privat

Joerg Waehner kann nicht verstehen, was derzeit auf dem Sonnenstein in Pirna passiert. "Es ist für mich unbegreiflich", sagt der 61-Jährige und meint damit den Umbau und die geplante Nutzung der ehemaligen Busgarage der sogenannten Todesbusse.

Es handelt sich um eine frühere Scheune, die 1940 als Garage der berüchtigten grauen Busse genutzt wurde. Die grauen Busse waren die Todestransporte im Zuge der "Euthanasie-Aktion" der Nationalsozialisten. In der Geheimaktion "T4" wurden behinderte und kranke Menschen in sechs Tötungsanstalten vergast oder auf andere Arten ermordet. Allein in Pirna-Sonnenstein wurden rund 14.000 Menschen umgebracht, so auch mindestens 51 Personen aus der Stadt selbst. Die Garage soll jetzt zu modernen Wohnungen umgebaut werden.

Joerg Waehner ist der Urenkel von Franz Molch. Molch wurde in Pirna-Sonnenstein 1941 ermordet.
Joerg Waehner ist der Urenkel von Franz Molch. Molch wurde in Pirna-Sonnenstein 1941 ermordet. © Kathrin von Eye

Statt "Heil Hitler ein "Grüß Gott"

Eines der Opfer auf dem Sonnenstein war Franz Molch. "Er war mein Urgroßvater", sagt Joerg Waehner, der in Berlin wohnt. Der Urenkel, der Künstler ist, hat die Geschichte und die Tragik von Franz Molch akribisch recherchiert, auch für seine fünf Kinder und zwei Enkelkinder. "Mein Urgroßvater passte nicht in das Nazi-System und wurde quasi als Psychopath eingestuft. Dafür musste er sterben", sagt Waehner.

Franz Molch, geboren 1871, lebt in Chemnitz und erhält Wohlfahrtunterstützung. Es sind schwierige Zeiten, auch wirtschaftlich. Ab August 1936 besteht eine zweijährige Arbeits-Dienstpflicht. Franz Molch reagiert auf die veränderten Verhältnisse. Antwortet auf „Heil Hitler“ stets mit „Grüß Gott“ und bezeichnet den „Führer“ als „größenwahnsinnig“ und „geistesgestört“. Nachbarn denunzieren ihn. Franz wird von der Gestapo abgeholt, verhört, nach Burg Hoheneck/Stollberg im Erzgebirge gebracht und dort für ein Jahr in „Schutzhaft“ genommen. Hitlers Geburtstag am 20. April 1937 ist für viele Gefangene Entlassungstag. Jeder Häftling muss schriftlich erklären, dass er an der Behandlung im Lager nichts auszusetzen hatte und sich der nationalen Regierung gegenüber loyal verhalten wird. Die Entlassenen unterliegen polizeilicher Meldepflicht und Überwachung.

Franz Molch zieht zurück nach Chemnitz am Fuße des Stadtteiles Sonnenberg. Am 23. November 1939 kommt es wegen einer Rentenkürzung zu einem Vorfall im städtischen Wohlfahrtsamt. Franz sagt: „Ich habe Beschwerde geführt gegen einen mit dem Hakenkreuz, der mir wiederholt 50 Pfennige von der Rente abgezogen und in die eigene Tasche gewirtschaftet hat.“ Daraufhin wird Franz Molch "wegen ungebührlichen, frechen und drohenden Verhaltens in einem städtischen Amt polizeilich der Nervenklinik Chemnitz überwiesen". Am 4. Januar 1940 erfolgt von dort seine Überweisung in die Landesheilanstalt Zschadraß.

Fenster der Busse sind grau gestrichen

Am 12. August 1941, sein Todestag, wird Franz Molch in die sogenannte Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein verlegt. Zusammen mit anderen Patienten wartet er im Hof auf die Busse. Mit Tintenstift schreiben die Pfleger den Wartenden vor dem Abtransport deren Patienten-Nummern auf den Rücken oder in den Nacken. Seit dem Morgen stehen vier grau umgespritzte Post-Omnibusse für den Transport bereit.

"Nach anderthalb Jahren verlässt mein Urgroßvater zum ersten Mal die Anstalt. Halb verhungert schlottern ihm die Reste seines Anzugs um die Knie. Immer wieder haben sie ihn mit Tabletten vollgepumpt oder mit Spritzen 'ruhig' gestellt", hat sein Urenkel recherchiert. Vom Busfenster versucht Franz, die Farbe wegzukratzen, ein Guckloch nach draußen zu schaffen. Er hat kein Glück. Von außen sind die Fenster ebenfalls zu gestrichen.

Am Nachmittag treffen die Busse in Pirna ein. In zwei Räumen werden die Patienten nach Männern und Frauen getrennt und zur Kleiderablage gebracht. Sie müssen sich
bis auf Hemd und Schuhe ausziehen und ihre Wertsachen zur Aufbewahrung aushändigen. Franz wird die Tabakspfeife abgenommen, man zieht ihm die Ringe von den Fingern und führt ihn den Ärzten zur Begutachtung vor. In einem weiteren Raum werden die Patienten in zwei Ansichten fotografiert und anschließend in Gruppen in den Keller geführt. Hier müssen sie sich ausziehen. Man sagt ihnen, sie werden geduscht. Doch kein Wasser kommt aus den Anschlüssen, sondern tödliches Gas. Die Leichen von Franz Molch und den anderen werden verbrannt und die Asche den Abhang hinuntergeschüttet.

Wenige Tage später, erhält Frieda Molch, die frühere Ehefrau von Franz, die Mitteilung, dass ihr geschiedener Mann "unerwartet infolge eines Herzschlags" verstorben sei.

Urenkel plädiert für einen lebendigen Gedenkort

Mehr Menschenverachtung geht für Joerg Waehner nicht. Unverständlich ist für ihn der Plan, die frühere Busgarage zu Wohnungen umzubauen. "Gerade die Busgaragen der NS-Euthanasie habe ich immer als etwas Besonderes für das Gedenken angesehen, weil sie die Verbindung zwischen den Menschen draußen, die ja die grauen Busse sehen konnten, und den transportierten Patienten drinnen darstellen", sagt der Künstler. Deshalb macht er den Vorschlag, den Ort zu einem würdigen und gleichfalls lebendigen Gedenkort zu gestalten.

Seine Vorstellungen sind sehr konkret. "Eines der Tore der ehemaligen Busgarage wird zu einem Busfenster. Von beiden Seiten wird eine Sicherheitsglasscheibe eingesetzt und mit grauer Farbe bestrichen, sodass die Besucher sie freikratzen müssen, um einen Blick in die Garage zu bekommen. So wie damals mein Urgroßvater versucht hat, die Busfensterscheibe freizukratzen", schlägt Joerg Waehner vor.

Ob sein Vorschlag auf Zustimmung stößt? Der Bauherr selber, ein Unternehmen aus der Region Dresden, wollte sich jedenfalls bisher zu der anhaltenden Kritik am Umbau nicht äußern.

Joerg Waehner überlegt einen Moment und fügt dann hinzu: "Erst, wenn wir unsere Gleichgültigkeit überwinden und aktiv werden, werden Menschen wie mein Urgroßvater hinter der Scheibe des Vergessens wieder sichtbar."