SZ + Bautzen
Merken

Corona-Stau: Gefangen auf der A 4

Kein Essen, keine Toilette, kein Schlaf: Hunderte Lkw-Fahrer hängen an der Grenze zu Polen fest. Mehr als 100 Helfer kümmern sich um sie.

Von Theresa Hellwig
 7 Min.
Teilen
Folgen
NEU!
Auf einer Längen 60 Kilometern stauen sich Lkw auf zwei Fahrspuren auf der A 4: eine Folge der Corona-Kontrollen an der polnischen Grenze.
Auf einer Längen 60 Kilometern stauen sich Lkw auf zwei Fahrspuren auf der A 4: eine Folge der Corona-Kontrollen an der polnischen Grenze. © SZ/Uwe Soeder

Bautzen. Die Auffahrt auf die A 4 Bautzen-West ist gesperrt, doch René Wagner lässt sich nicht stoppen. Mit Schwung lenkt der 40-Jährige am Mittwochmittag den Einsatzwagen in den Gegenverkehr, um auf die Autobahn aufzufahren. Er lässt das Martinshorn aufjaulen, umkurvt zwei Autos, die ihm im Weg stehen. Die Plastik-Wasserflaschen im Kofferraum quietschen und knirschen. Julia Gornig klammert sich mit der Hand am Griff über der Tür fest, dreht sich dann nach hinten um. „100 Leute kriegen wir versorgt“, erklärt sie mit ruhiger Stimme.

Denn René Wagner und Julia Gornig arbeiten ehrenamtlich beim Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) und sind an diesem Tag auf besonderer Mission. Eine wie diese hat zumindest noch keiner von den beiden mitgemacht: Die beiden versorgen gemeinsam mit etwa 100 anderen Helfern von DRK, ASB, Maltesern und Feuerwehr die vielen Lastwagen-Fahrer, die zum Teil seit Dienstag auf der A 4 im Stau stehen. Denn Polen hat die Grenzen dicht gemacht: Ohne Formular und Fiebermessung kommt niemand durch, bis zu 60 Kilometer war der Stau am Dienstag lang, sagt die Polizei. Noch am Nachmittag standen sie bis Uhyst.

Julia Gornig verteilt Bockwurst und Brötchen an einen Lastwagenfahrer.
Julia Gornig verteilt Bockwurst und Brötchen an einen Lastwagenfahrer. © SZ/Uwe Soeder

Verständigung mit Händen und Füßen

Geladen hat der Wagen von Wagner und Gornig Nudeln, Kaffee, Wasser, Brötchen und Bockwurst – die wollen die Helfer nun an die Leute bringen. Gemeinsam mit noch einer anderen Helferin brausen Gornig und Wagner deshalb durch die Reihen Lkw. „Heute klappt es endlich mal mit der Rettungsgasse“, sagt René Wagner. „Gestern sah das noch anders aus.“ Es geht vorbei an Lastwagen in gelb mit dem Aufdruck eines Paketboten, grün, weiß, blau mit Eiscreme in vielen Farben aufgedruckt. Schnauze reiht sich an Heck, reiht sich an Schnauze, reiht sich an Heck. Und es geht vorbei an Kraftwagenfahrern, die rauchend neben ihren Sattelzügen stehen und an anderen, die auf dem Grünstreifen sitzen und in Zeitschriften blättern.

Die Lastwagen, an denen sie vorbeifahren, die sind bereits von Kollegen versorgt worden. Halt macht der Trupp erst, als ein anderer Wagen des Arbeiter-Samariter-Bundes vor ihnen auftaucht. Julia Gornig öffnet die Tür, springt aus dem Wagen, läuft vor zu den Kollegen. „Wurst ist bei denen alle“ berichtet die 32-Jährige, als sie wiederkommt und lädt ein paar Reste des Vorgänger-Trupps in den Kofferraum. Auch ihre Mutter hat sie mitgebracht – auch die hilft beim Verteilen und will sich dem Trupp von Julia Gornig anschließen. Denn der Trupp, auf den die Gruppe jetzt getroffen ist, fährt jetzt zurück auf die Feuerwehr-Wache in Bautzen, holt Nachschub. Für den Trupp von Julia Gornig heißt es jetzt: austeilen.

Kaffee für die nächste Versorgungsfahrt: Lara Reupert (vorn) und Julia Gornig füllen die Kannen.
Kaffee für die nächste Versorgungsfahrt: Lara Reupert (vorn) und Julia Gornig füllen die Kannen. © SZ/Uwe Soeder

Ein Lastwagenfahrer lehnt sich aus dem Fenster, fragt mit gerolltem „R“ „Brrrot?“ Julia Gornig fragt: „Eins oder zwei?“, zeigt mit den Fingern, was sie meint. Auch zwei Würstchen nimmt der Mann, bedankt sich höflich. Am nächsten Lastwagen will der Fahrer „maybe zwei“ Brötchen, keine Wurst. Auch er scheint sich über die Hilfe zu freuen. Coffee, hotdog, pasta, „moloko“ für Milch auf Russisch: Nicht selten muss die Truppe sprachlich kreativ werden. Die meisten Lkw-Fahrer sind aus Polen, aber auch Kennzeichen aus Russland, Tschechien und Kasachstan sind darunter. Sabine Krüger, Gornigs Mutter, versucht es immer wieder über Russisch – ein Mann lacht, bringt ihr das polnische Wort für Senf bei: „musztarda“.

Die Zentrale der Feuerwehr in Bautzen: Hier  laufen alle Informationen für den Einsatz der Helfer von ASB, DRK und Maltesern zusammen.
Die Zentrale der Feuerwehr in Bautzen: Hier  laufen alle Informationen für den Einsatz der Helfer von ASB, DRK und Maltesern zusammen. © SZ/Uwe Soeder

Wurst um Wurst überreichen die Helfer den Lastwagenfahrern, bekommen dafür viele „Dangeschon“, Daumen hoch und oftmals ein Lächeln. Ein Mann neigt den Kopf zum Dank, ein anderer reagiert schüchtern. Wieder ein anderer will gar nichts haben, dankt aber trotzdem für die Hilfe. „Die Leute sind alle sehr dankbar“, sagt Julia Gornig.

Zwölf Tage mit dem Lkw unterwegs

Einer, der von Julia Gornig Wurst und Kaffee bekommt, ist Oleg aus Weißrussland. Müde sieht er aus, der Blick angestrengt, Ringe zeichnen sich unter seinen Augen ab. Nur zaghaft hebt er die Mundwinkel zum Lächeln. „Ich komme aus Valenzia in Spanien“, sagt er in gebrochenem Deutsch, „ich will nach Russland“. Zwölf Tage, sagt er, arbeitet er ununterbrochen.

René Wagner hat sich zum Ziel gesetzt, diejenigen, die frustriert sind, aufzuheitern. Im Einsatzwagen dreht er die Musik laut, Julia Gornig tanzt nebenher. Zwei Männer am Straßenrand grinsen, heben ihre Kaffeebecher zum Gruß.

Schilder in deutscher und polnischer Sprache hängen im Heck der Versorgungsfahrzeuge. Sie warnen davor, den Fahrzeugen zu folgen.
Schilder in deutscher und polnischer Sprache hängen im Heck der Versorgungsfahrzeuge. Sie warnen davor, den Fahrzeugen zu folgen. © SZ/Uwe Soeder

Das Coronavirus jedenfalls scheint an diesem Ort sehr fern. Viele Grüppchen haben sich zusammengefunden. Auch die Helfer tragen keinen Mundschutz. „Firlefanz“, sagt René Wagner danach gefragt. „Es ist wichtig, Kinder und Alte zu schützen – aber der Ausbreitungsherd ist schon zu groß“, schätzt er.

Ein Lastwagenfahrer erzählt, dass er nach Katowice in Polen will. Er steht mit vier anderen Männern zusammen, sie haben den Helfern kurz zuvor zugewunken und fröhlich gelacht. Alles bierernst zu nehmen – das hilft auch nicht über die lange Wartezeit hinweg. Stattdessen hat sich der Mann kurzfristig Freunde gesucht, um sich die Zeit zu vertreiben. Jetzt steht er mit den anderen Lastwagenfahrern zusammen in der Sonne, sie trinken Kaffee, unterhalten sich. Wenn der Verkehr doch mal ein Stück rollt, wollen sie zusammenbleiben, sich wiederfinden. „Irgendwie müssen wir uns ja die Zeit vertreiben“, sagt der Mann, der seinen Namen nicht nennen will.

Ein Kaffee und ein Imbiss: Fahrer Oleg aus Weißrussland steht seit mehr als 10 Stunden im Stau.
Ein Kaffee und ein Imbiss: Fahrer Oleg aus Weißrussland steht seit mehr als 10 Stunden im Stau. © SZ/Uwe Soeder

„Ich bin nicht verärgert“, sagt er auf Englisch, „aber meine Familie, meine Kinder warten zu Hause auf mich“. Weil ihm durch den Stau Zeit verloren geht, weiß er nicht, ob er sie vor seiner nächsten Fahrt sehen kann. „Ich verstehe, warum sie die Grenzen zumachen, die Kontrollen durchführen“, sagt er, die Sache mit der Ausbreitung des Coronavirus. „Aber warum so?“, fragt er. Er rechne damit, etwa 35 Stunden in diesem Stau zu verbringen – etwa acht Stunden hat er schon hinter sich. Schwierig sei es dann, wenn jemand aufs Klo müsse. „Ich warte dafür bis nachts“, sagt der Mann, grinst ein wenig verlegen. „Anders geht es ja nicht.“

Medizinische Notfälle in der Nacht

Es sieht alles sehr geordnet aus an diesem Tag, die Lastwagenfahrer stehen in der Sonne, die Rettungsgasse ist frei. Mehrere Tausend Essen sind im Laufe des Einsatzes an die Lastwagenfahrer verteilt worden. Doch in der Nacht noch haben sich andere Szenen abgespielt, erzählt René Wagner – und das erzählt auch Kai Kranich, Pressesprecher des DRK-Landesverbandes Sachsen.

Bereits am Mittwochmorgen sprach er im Zusammenhang mit dem Stau auf der A 4 vor der polnischen Grenze von einer „humanitär bedenklichen Situation“. In der Nacht seien die Temperaturen auf zwei Grad gesunken. Die Hilfs-Trupps haben Decken, Suppen und Getränke verteilt. Zwei Leute im Stau mussten medizinisch versorgt werden. Weil der Verkehr nicht komplett ruhte, sondern sehr langsam voranging, konnten sich viele Fahrer auch in der Nacht nicht richtig ausruhen. Mehrfach sei es zu Zwischenfällen gekommen, in denen Leute versuchten, über die Rettungsgasse ihre Vor-Fahrer zu überholen und so die Gasse blockierten. „Teilweise haben die Einsatzkräfte für eine Strecke von drei Kilometern bei der Versorgung deshalb eine ganze Stunde gebraucht“, berichtet Kranich vom Nacht-Einsatz.

Auch die Bautzener Helfer erzählen, dass sie in der Nacht einige Familien mit kleinen Kindern aus dem Stau begleiten mussten. Ziemlich leise ist es auf dem Rückweg zur Feuerwache in Bautzen im Wagen, alle scheinen in ihre Gedanken vertieft. Die gute Laune, die Energie – die haben die Helfer an die Lastwagenfahrer im Stau weitergebenen, Zeit für eine Verschnaufspause. „Wir haben alle nur etwa drei Stunden geschlafen“, erklärt Julia Gornig. Kurz nach acht am Vorabend sei der Pieper gegangen, ab 23.30 Uhr haben die Trupps Getränke und Essen verteilt. „Ich bin um drei nach Hause gefahren, gegen halb acht bin ich wieder los“, sagt sie. „Andere sind nach der Schicht direkt zur Arbeit gefahren.“

Bundeswehr hat sich angekündigt

Denn die Helfer arbeiten ehrenamtlich, Gornig ist eigentlich Altenpflegerin, Wagner Rettungssanitäter. Die Autofahrt – es ist der Moment am Tag, an dem sie sich kurz ausruhen können. Sind sie erst einmal an der Feuerwache angekommen, geht es gleich weiter: Neue Würstchen müssen ins Auto geladen werden, Brötchen, Kaffee und Wasser. „Es weiß ja keiner, wie lange das hier noch geht“, sagt René Wagner, „es gibt noch einiges zu tun“. Etwas Aufatmen ist am Nachmittag immerhin angesagt: Die Bundeswehr hat sich angekündigt. Mit 50 Mann wollen die Kameraden aus Frankenberg anrücken – und ebenfalls Essen und Getränke verteilen.

Mehr Nachrichten aus Bautzen lesen Sie hier. 

Mehr Nachrichten aus Bischofswerda lesen Sie hier. 

Mehr Nachrichten aus Kamenz lesen Sie hier.