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Corona sorgt für Ladensterben im Zeitraffer

Laut einer Studie verschwindet bis 2030 jedes vierte Geschäft, vor allem in Kleinstädten. Das liegt aber nicht nur an der Pandemie.

Von Michael Rothe
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Wird der jetzige Corona-Zustand in Kleinstädten wie Pirna bald dauerhaft zum Straßenbild gehören?
Wird der jetzige Corona-Zustand in Kleinstädten wie Pirna bald dauerhaft zum Straßenbild gehören? © Norbert Millauer

Deutschland muss sich auf ein dramatisches Ladensterben einstellen – nicht nur wegen Corona, vor allem wegen geänderter Kaufgewohnheiten und des boomenden Internethandels. Während Onlinegeschäfte von Apotheken, Lebensmittel-, Mode-, Bau- und Möbelhändlern zulegen, verheißt eine Studie des Instituts für Handelsforschung in Köln (IFH) der stationären Branche wenig Gutes. Die Experten skizzieren vier Szenarien. Alle gehen für stationäre Läden von einem Umsatzeinbruch aus. In der Folge sei bis 2030 deutschlandweit mit dem Verlust von 26.000 bis 64.000 Unternehmen zu rechnen. Das ist im Extremfall mehr als jedes vierte Geschäft. Und weil der Analysezeitraum im Februar endete, sind die Folgen der Epidemie nicht mal eingepreist. 

Seit Tagen sind die Läden dicht – außer jenen für Brot, Milch, Klopapier. Corona könnte dafür sorgen, „dass die Entwicklung im Zeitraffer abläuft“, warnt IFH-Geschäftsführer Boris Hedde. Seit 2005 sei die Zahl der Händler von Mode, Büchern, Spielzeug & Co. bereits um 39.000 auf knapp 226.000 gesunken.

© Norbert Millauer

Das Ladensterben in den Innenstädten werde relevanter, heißt es in dem Papier, das auch Bevölkerungsentwicklung, Altersstruktur, Online-Affinität und Einzelhandelsstruktur berücksichtigt. Abnehmende City-Attraktivität, stadtinterner und städtischer Wettbewerb würden durch immer mehr Schließungen befeuert. Um aus dem Teufelskreis von weniger Besuchern und schließenden Läden auszubrechen, müsse sich der Handel neu positionieren, fordert Hedde. Es gehe darum, „Handel immer mehr als Freizeitgut zu verstehen und so in der Branche eine komplett andere Wertewelt und ein neues Leistungsversprechen zu erschaffen“.

Schon vor fünf Jahren hatte eine ähnliche Erhebung des Instituts Sachsen als Alarmregion ausgewiesen. Einige Landkreise müssten sich auf 27 Prozent weniger Einzelhandelsumsatz einstellen, hieß es. Besonders bedroht seien ländliche Regionen, Kleinstädte, Mittelzentren. Experten sehen Dresden weniger betroffen. Auch Bautzen, Görlitz und Zittau könnten sich behaupten, müssten aber stärker auf Kunden aus Polen und Tschechien zugehen. Kleinstädte wie Bischofswerda, Hoyerswerda, Löbau und Weißwasser seien die Verlierer. 

Die jüngste Studie analysiert die vergangenen und die kommenden zehn Jahre des deutschen Handels. Ihre Botschaft: Wachstum im Einzelhandel ist nur bedingt erkennbar. Dabei hatte das Geschäft dort zwischen 2010 und 2019 um 134 Milliarden Euro zugelegt – aber vor allem im Großhandel, mit Dienstleistungen und im Ausland. 

Auch in Riesa sind viele Läden derzeit geschlossen.
Auch in Riesa sind viele Läden derzeit geschlossen. © Sebastian Schultz

Der Handelsverband Sachsen sieht die Untersuchung kritisch. „Eine Statistik ist schnell veröffentlicht, dahinter stehen aber Existenzen und stadtbildprägende Geschäfte“, reagiert Hauptgeschäftsführer René Glaser. Es habe schon immer einen Wandel im Handel gegeben und so Geschäfte, die entstehen oder aus dem Markt austreten, antwortet er auf eine SZ-Anfrage. Darauf Einfluss hätten neben den Firmen vor allem die Kunden, aber auch Entscheider in Politik und Verwaltung, die die Rahmenbedingungen setzten. Er stelle ernüchtert fest, dass die gesellschaftliche Bedeutung des Einzelhandels für Städte und Regionen kaum erkannt werde, und spricht von „überbordenden bürokratischen Hürden“ und Ungleichbehandlung gegenüber anderen Branchen.

Es habe jahrelange Überzeugungsarbeit gebraucht, dass auch Einzelhändler 30 Prozent Zuschuss für Neuinvestitionen benötigen, um vor Ort am Markt zu bleiben, nennt Glaser ein Beispiel. Nachdem erst kein Bedarf gesehen worden sei, habe es 2019 das Förderprogramm „Regionales Wachstum“ gegeben – kurzfristig für fast alle Branchen, so dass der Topf schnell leer gewesen sei. Wegen vieler Ausschlusskriterien für den Handel seien dort nur wenige Bewilligungen gekommen.

Ob die vom IFH entworfenen Szenarien eintreten, hängt laut Glaser davon ab, „inwieweit verantwortliche Entscheidungsträger den Handel vor Ort in unseren Städten und Regionen als relevant erkennen“. Unternehmen mit über einer Million Euro Jahresumsatz oder zehn Beschäftigten seien von der Soforthilfe von Bund und Land ausgenommen. Dabei sind laut dem Verbandschef „70 bis 80 Prozent des Umsatzes im Handel allein der Wareneinsatz, also die Einkaufspreise“. Das heiße nicht, dass Unternehmen auch jenseits der Million Umsatz über entsprechende Gewinne oder Rücklagen verfügten. Noch könnten Weichen für den Erhalt gesunder Unternehmen gestellt werden, sagt Glaser, „denn die kleinen und mittleren Unternehmen bis 249 Beschäftigte spielen eine Schlüsselrolle in der sächsischen Wirtschaft“.

Initiative zur Hilfe für den Handel

Der Ruf nach Hilfen für den Handel wird immer lauter. Die Linksfraktion im Landtag verlangt ein Landes-Programm „Dorfläden in Sachsen“. Bürgerschaftliche Eigeninitiative solle langfristig unterstützt werden, um die Nahversorgung zu verbessern, so die Forderung. „Der Markt versagt in vielen Bereichen – auch bei der Nahversorgung. Nicht mal die Hälfte der Gemeinden mit weniger als 2.000 Einwohnern haben noch ein Lebensmittelgeschäft mit Vollsortiment“, sagt Fraktionssprecherin Antje Feiks. 

Die Zahl der Dorfläden habe sich von 2010 bis 2017 fast halbiert. Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein würden bereits Bürgern helfen, die sich vor Ort für die Versorgung engagieren.

Auch im Freistaat formieren sich Initiativen zur Unterstützung des regionalen Handels – wie #ddvlokalhilft, eine Aktion der DDV Mediengruppe, die auch die SZ herausgibt. „Wir rufen die Leser auf, statt bei Amazon & Co. bei ihrem Händler vor Ort zu kaufen“, sagt Denni Klein, Verlagschef der Sächsische Zeitung GmbH. „Wir bieten den Unternehmen kostenlose Anzeigen und unsere digitale Infrastruktur – bis hin zur technischen Abwicklung des Verkaufs.“ Täglich gebe es 50 bis 80 Neuanmeldungen. 

Auch Dresdens Stadtoberhaupt Dirk Hilbert (FDP) hofft, dass dieses digitale Kaufhaus hilft, den Einzelhandel durch die Krise zu manövrieren. So bleibe das Geld in der Region. Auch die Initiative „Kauf in Pirna“ offeriert ein digitales Schaufenster. Eine Idee: Gutscheine, die den Händlern jetzt helfen, Miete und Löhne zu bezahlen, und die später eingelöst werden – in der Hoffnung, dass die Läden über die Runden kommen.

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