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Kommentar zum Fachkräftemangel: Arbeitskräfte wollen sich willkommen fühlen

Das neue Gesetz zur Fachkräfteeinwanderung wird den Mangel von Arbeitskräften allein nicht beheben. Dazu muss an vielen anderen Punkten angepackt werden. Ein Kommentar von Nora Miethke.

Von Nora Miethke
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Die Schweiz ist Sachsens Problem. Zum einen wirbt uns die Alpenrepublik bitter benötigte Fachkräfte ab: Seit 2010 ziehen jedes Jahr bis zu 1.000 Sachsen zum Arbeiten dorthin. Zum anderen zeigt uns das Land, worauf es ankommt, wenn man ein industrieller Hotspot etwa in der Pharmaindustrie sein will – auf die Gewinnung der besten Talente weltweit. Die Schweiz wurde erst kürzlich wieder zum innovativsten Land der Welt gekürt. Aus der eigenen Bevölkerung heraus wäre das nicht zu schaffen. Der Ausländeranteil in der Schweiz liegt bei 26 Prozent. Im Freistaat liegt er bei sechs Prozent.

In Dresden schlägt das Herz der europäischen Chipindustrie immer lauter. Statt sich darüber freuen zu können, müssen sich Ministerpräsident Michael Kretschmer und Wirtschaftsminister Martin Dulig dem Vorwurf stellen, die Großansiedlungen nähmen den kleineren Betrieben die besten Arbeitskräfte weg.

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An jedem Zipfel des Personal-Tischtuchs wird kräftig gezogen. Dadurch wird es nicht größer. Im Gegenteil, es wird weiter schrumpfen. Nach Berechnungen der Landesarbeitsagentur werden bis zum Jahr 2030 rund 150.000 erwerbsfähige Menschen fehlen. Das gefährdet die wirtschaftliche Entwicklung in Sachsen. Aktuelle Umfragen in der Unternehmerschaft zeigen: Die Sorge Nummer eins ist der Mangel an Arbeitskräften, noch vor Digitalisierung und Energiepreisen.

Ist die Wirtschaft also auf die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte angewiesen? Rechnerisch gibt es durchaus Potenzial, das nicht ausgeschöpft ist. So gibt es im Freistaat rund 132.000 Arbeitslose, von denen jeder Zweite als Fachkraft vermittelt werden könnte. Über 150.000 Menschen pendeln in andere Bundesländer zur Arbeit. Jeder zwölfte Jugendliche in Sachsen verlässt die Schule ohne Abschluss, jeder vierte Azubi beendet seine Lehre vorzeitig. Das dürfen wir uns nicht mehr leisten.

Visumsbeantragung dauert zu lange

Rechnerische Potenziale schmelzen schnell zusammen, sobald man Qualifikationen und Altersstruktur berücksichtigt. Es bleibt eine freiwillige Entscheidung, ob und wie man arbeitet. Rollende Woche oder Nachtschichten sind bei Deutschen nicht beliebt. Experten schätzen, dass es pro Jahr 400.000 Zuwanderer in den Arbeitsmarkt braucht, um den Wohlstand in Deutschland zu halten.

Doch bisher funktioniert die Anwerbung schlecht. Zentrale Hemmnisse sind der Verwaltungsaufwand und die Bürokratie. Auch wenn das neue Fachkräfteeinwanderungsgesetz einige der Auflagen lockert, werden kurzfristig nur wenige Inder oder Kasachen die Job-Einladung nach Deutschland annehmen können. Sie bekommen kein Visum, denn es fehlt an Fachkräften in den Botschaften. Häufig dauert es bis zu zwölf Monate, bis ein Visum ausgestellt wird. Solange wartet kein Arbeitgeber, um eine Stelle zu besetzen.

Weniger und einfachere Regelungen sind auch Teil einer Willkommenskultur und an der hapert es. Natürlich gibt es auch hier viele Menschen, die freundlich und hilfsbereit sind. Doch das gesellschaftliche Klima ist ablehnend. Dass der Freistaat auf dem Weg in eine Migrationsgesellschaft ist, wie erstmalig im Entwurf des sächsischen Integrationsgesetzes festgehalten wird, will die Mehrheit nicht wahrhaben. In einer Umfrage des Bundeskanzleramts unter 2.000 ostdeutschen Unternehmenslenkern, stimmt trotz des bekundeten Arbeitskräftemangels nur einer von drei Unternehmern der Aussage zu, es sei „gut für Deutschland, das hierzulande viele aus dem Ausland zugewanderte Menschen leben.“ Diese ablehnende Haltung gilt es zu überwinden. Wer das nicht will, muss sich Gedanken machen, wie er mit weniger Mitarbeitenden auskommt.

Mehr Vielfalt, um Jugend zu halten

Damit eine echte Willkommenskultur wächst, reicht es nicht, nur gesetzliche Hürden zu senken. Statt Intel mit zehn Milliarden Euro Subventionen nach Magdeburg zu locken, sollte ein Teil dieses Steuergeldes in mehr Kita-Plätze, mehr bezahlbaren Wohnraum, mehr Lehrkräfte und Sprachkurse fließen, damit internationale Fachkräfte willkommen sind und der soziale Friede gesichert bleibt.

Der im Fachkräfteeinwanderungsgesetz ermöglichte Spurwechsel ist sinnvoll. Asylbewerber erhalten ein Aufenthaltsrecht, wenn sie einen Job haben, der die Kriterien des Gesetzes erfüllt. Für Arbeitgeber lohnen sich Investitionen in die Qualifizierung von Flüchtlingen, der Staat muss keine Transferleistungen mehr bezahlen und Arbeitsangebot wird ausgeweitet. Die Kritik der Union, der Spurwechsel schaffe Anreize, das Asylsystem für die Arbeitsmigration auszunutzen, stimmt nicht. Er gilt nur für Flüchtlinge, die schon da sind. Wer in Zukunft kommt, kann ihn nicht nutzen.

Wenn das industrielle Herz Sachsens künftig nicht nur in hochautomatisierten Fabriken schlagen soll, kommt es in erster Linie nicht darauf an, ausländische Arbeitskräfte zu gewinnen, sondern die eigenen jungen Leute hierzuhalten und Menschen aus anderen deutschen Gegenden zu gewinnen. Dazu müssen sich Arbeitgeber und Belegschaften stärker öffnen auch für andere Lebensweisen. Das Lebensgefühl muss bunter und vielfältiger werden, nicht nur wegen unterschiedlicher Nationen, auch unter den Deutschen selbst. Leipzig etwa ist schon sehr divers, andere Städte in Sachsen müssen das noch stärker werden.


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