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Demos in Sachsen: Diesen Bürgersinn brauchen wir jetzt!

Wenn selbst in kleinen Städten Hunderte gegen Rechtsextremismus demonstrieren, dann ist etwas in Bewegung geraten. Machen wir mehr daraus! Ein Kommentar.

Von Ulli Schönbach
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Die große Stimmungswende, die manche Beobachter erkennen wollen, sind die Demos sicher nicht. Aber es dreht sich etwas im Land.
Die große Stimmungswende, die manche Beobachter erkennen wollen, sind die Demos sicher nicht. Aber es dreht sich etwas im Land. © SZ/Veit Hengst

Erinnern Sie sich noch an Ihren letzten Urlaub? Und auch an den ersten Arbeitstag danach? Ungefähr so fühlt sich die politische Stimmung in Sachsen gerade an. Auf Hochgefühl folgt grauer Alltag.

Dabei ist es noch nicht einmal eine Woche her, da ging ein ungläubiges Staunen durchs Land. Nicht nur wenige Hundert Menschen wie sonst – nein, Tausende – waren am Wochenende auf der Straße gegen Rechtsextremismus und die AfD. Das waren Bilder, die zu Beginn eines schwierigen Wahljahres wohl niemand auf dem Zettel hatte. Schon gar nicht aus Sachsen.

Wenige Tage später folgte die Ernüchterung: der Sachsen-Monitor. Die repräsentative Umfrage im Auftrag der Staatsregierung offenbarte erschreckend hohe Zustimmungswerte zu Kernsätzen rechtsradikaler Ideologie. Knapp zwei Drittel der Befragten meinen, das Land sei in gefährlicher Weise von Ausländern „überfremdet“. Mehr als die Hälfte wünscht sich eine Politik der „starken Hand“. Mehr als 40 Prozent glauben, Deutschland wäre besser dran, mit einer einzigen national gesinnten Partei.

Da verkehrt sich der beliebte Demo-Ausruf „Wir sind mehr“ rasch in sein Gegenteil. Vielleicht nicht die Mehrheit, aber doch eine große Gruppe der Wähler in Sachsen teilt Überzeugungen, die mit den Prinzipien einer liberalen Demokratie nur schwer überein zu bringen sind.

Parolen sind keine Lösungen

Wahlumfragen in Sachsen und anderen ostdeutschen Bundesländern spiegeln daher nicht nur den Unmut über das Heizungsgesetz, steigende Preise oder einen Kanzler, der sich nicht zu erklären weiß, wider. Sie sind auch Ausdruck eines Meinungsklimas, in dem kommunal- und landespolitische Themen immer weiter in den Hintergrund treten, während die AfD selbst Landrats- und Bürgermeisterwahlen zu Volksabstimmungen stilisieren kann. Weniger Ausländer, Grenzen dicht, deutsches Geld zuerst für Deutsche, lautet das Wahlprogramm, das für jede Wahl und auf jeden Bierdeckel passt.

Dass dies Parolen sind, aber keine Lösungen, stört die Mehrheit der AfD-Anhänger nicht. Ebenso wenig wie die Einstufung der Partei als rechtsextrem. Studien zeigen: Ein Viertel der AfD-Wähler teilt dieses Weltbild, drei Viertel nehmen es zumindest hin.

Was bleibt also von der Empörung der vielen, die es seit dem Postdamer Geheimtreffen auf die Straße treibt? Kann ein deutschlandweites Demo-Wochenende mehr sein als Darstellung der eigenen Haltung? Mehr als eine populäre Losung, die man bei Instagram oder auf Facebook teilt, um zu zeigen: Schaut her, ich bin einer von den Guten! Und dann läuft alles so weiter wie bisher?

So kann es kommen, muss es aber nicht. Denn so viel Bewegung wie in den vergangenen Tagen hat es in Sachsen lange nicht mehr gegeben. So viele Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, an so vielen Orten, und so viel Zuspruch selbst in kleinen und kleinsten Städten: Pirna, Görlitz, Meißen, Döbeln, Radeberg. Also dort, wo es viel schwerer ist, sich gegen die AfD zu bekennen, weil Gesicht zeigen, tatsächlich Gesicht zeigen heißt.

Demokratie ist kein Zuschauersport

Die große Stimmungswende, die manche Beobachter hier schon erkennen wollen, ist das sicher nicht. Aber es dreht sich etwas im Land. Das darf Mut machen. Gerade jenen, die vielleicht mutlos geworden sind, weil trotz ihres Engagements die AfD von Umfragehoch zu Umfragehoch eilt. Doch wenn eines jetzt falsch wäre, dann Fatalismus.

Die Landtagswahlen in Sachsen sind noch lange nicht entschieden und selbst wenn die AfD dort stärkste Kraft wird, ist sie noch lange nicht an der Macht. Die Wähler des demokratischen Spektrums haben es nach wie vor in der Hand, ihren Einfluss auf die Zukunft des Landes klar zu begrenzen.

Bundespolitisch bedarf es dafür eines Neustarts der Ampel. Auch wäre es klüger, Verbotsdebatten fürs Erste zurückzustellen. Wichtiger sind überzeugende Antworten auf die Fragen der Wähler. Das ist klar. Doch auch jeder Einzelne kann entscheiden, was er aus dem Schwung der vergangenen Woche macht.

Demokratie ist kein Zuschauersport. Sie findet nicht nur am Wahltag statt und nicht nur in den Parteien. Auch dafür sind die Kundgebungen der letzten Tage ein Beleg. Organisiert wurden sie überwiegend aus der Zivilgesellschaft heraus, von Vereinen und Initiativen, die sich vor Ort an vielen Stellen engagieren: Nachbarschaftshilfe, Flüchtlingsarbeit, Kultur, politische Bildung. Hier ist Platz für viele, die sich jetzt vielleicht fragen, was ihr Beitrag sein kann.

In wenigen Monaten sind in Sachsen Kommunalwahlen. Nicht jeder ist dafür gemacht, sich selbst zur Wahl zu stellen. Doch die kleine Mühe, wählen zu gehen, sollte am 9. Juni niemand scheuen. Und wer keine Zeit für ein Ehrenamt hat, kann vielleicht spenden. Und wenn im Sportverein oder am Gartenzaun mal wieder die „Lautsprecher“ das große Wort führen, dann genügt es mitunter schon zu sagen „Das sehe ich anders“, um sie etwas leiser zu drehen.

Das freundliche Sachsen hat sich in den vergangenen Tagen an vielen Orten gezeigt. Das Thema der Demonstrationen war ernst, die Stimmung war es nicht. Die Menschen waren fröhlich, die Plakate hatten Witz. Das war lebendiger Bürgersinn. Schaffen wir es, ihn wachzuhalten?