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Demos gegen Rechtsextreme: Die Macht des Straßenprotests

In Dresden und vielen anderen Städten demonstrieren Zigtausende gegen Rechts. Die Geschichte zeigt, warum Straßenprotest früher meist von links kam.

Von Marcus Thielking
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Bundesweit und auch in Dresden gehen Zigtausende Bürger gegen Rechtsextreme auf die Straße.
Bundesweit und auch in Dresden gehen Zigtausende Bürger gegen Rechtsextreme auf die Straße. © Foto: SZ/Veit Hengst

Eric hatte mit 15 sein erstes Mal. Es war der 25. Januar 1933, fünf Tage, bevor Hitler an die Macht kam. Eric war Jude und Kommunist. In Berlin rief die KPD zu einem letzten Massenprotest gegen die Nazis. Sein Leben lang sollte Eric den Marsch durch die düsteren Straßen nicht vergessen.

Jahrzehnte später erinnerte sich Eric Hobsbawm, der weltbekannte Historiker, wie ihn das Demonstrieren damals erregte: "Neben der sexuellen Begegnung", schrieb er in seinen Memoiren, "ist die Aktivität, bei der sich körperliches und seelisches Erleben in höchstem Maße verbinden, die Teilnahme an einer Massendemonstration in Zeiten starker öffentlicher Begeisterung. Im Unterschied zur sexuellen Intimität, die im Wesentlichen individueller Natur ist, wird sie kollektiv erlebt, und im Unterschied zum sexuellen Höhepunkt, jedenfalls bei Männern, kann hier das Hochgefühl stundenlang anhalten."

"Friedlich und ohne Waffen"

Die Demonstration auf der Straße, das war einmal der Gründungsmythos der Demokratie. Der ganze Stolz des freien Bürgers. Heute wirkt Straßenprotest manchmal wie ein Relikt aus Zeiten, als es noch keine freien Wahlen und Parlamente gab. Transparente, Fahnen, Megafone - braucht das noch jemand in Zeiten von Facebook, Instagram und Twitter? "Auf die Straße gehen", das kommt einem ein bisschen archaisch vor. Es hat immer auch etwas Rebellisches, Aufrührerisches, Kämpferisches, selbst wenn es "friedlich und ohne Waffen" geschieht, so wie es im Grundgesetz steht.

Aber warum steht es da überhaupt, das Recht auf Versammlungsfreiheit? Sogar als eines der Grundrechte, die nach der sogenannten Ewigkeitsklausel unantastbar sind und nie aufgehoben werden dürfen?

Demo-Plakate sind simpel und plakativ - das dürfen und müssen sie auch sein.
Demo-Plakate sind simpel und plakativ - das dürfen und müssen sie auch sein. © SZ/Veit Hengst

So war das alles nämlich nie gedacht: Das Demonstrationsrecht richtete sich nie nur an "Weltverbesserer" und Rebellen, die in ihrer Freizeit nichts Besseres zu tun haben. Es war auch nie nur für jene gedacht, die mit dem "System" unzufrieden sind. Sondern es gilt jedem einzelnen Bürger. Und es ist nicht nur ein Paragraf. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Die Demonstration gehört zur Demokratie wie der Asphalt zur Straße.

Demonstration, Demokratie - die Ähnlichkeit der beiden Wörter ist zunächst reiner Zufall: demonstrare ist Lateinisch für "hinweisen, verdeutlichen"; demokratia ist Griechisch für "Volksherrschaft". Die Wortstämme haben nichts miteinander zu tun. Wohl aber das, was sie bezeichnen. Die Geburtsstunde dieses Begriffspaars ist der 14. Juli 1789, als sich "die Begründung der Moderne durch einen politischen Akt auf der Straße vollzog". So beschreibt es der Historiker Daniel Schmidt. An diesem Tag begann mit dem Sturm auf die Bastille in Paris die Französische Revolution - und damit die Geschichte der aufgeklärten Demokratie.

Sturm auf die Bastille

Die Bastille war Gefängnis und zugleich Waffenlager. Auf der Suche nach Munition stürmte die Menge den Festungsbau, nachdem sie ihn auf den Straßen und Plätzen ringsum zu Tausenden belagert hatte. Es war ein erster symbolischer Sieg der Volksmassen im Kampf gegen die absolutistische Herrschaft. "Schlagartig", erklärt Daniel Schmidt, "waren zum einen der öffentliche Raum zur Arena und zum anderen die Massen zum Subjekt der Politik geworden."

Vielleicht ist es dieser Gründungsmythos, der jeder Demonstration auch heute noch etwas Erhabenes verleiht. Ein Hauch von Revolution weht dann durch die Straßen, auch wenn der Protest friedlich verläuft und die Versammlung ordnungsgemäß bei den Behörden angemeldet wurde.

"Es ist nicht die deutsche Art, die Politik auf die Straße zu tragen", meinte anno 1908 der Reichskanzler Bernhard von Bülow. Und die Berliner Polizei plakatierte 1910 in einer Bekanntmachung an den Litfaßsäulen: "Die Straße dient lediglich dem Verkehr." Auch wenn dieses Preußen-Gen noch heute in einigen Köpfen steckt: Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Protestkultur der Bundesrepublik durchaus lebendig. Im Westen gab es nicht nur die Achtundsechziger-Proteste, sondern auch die Friedensbewegung der Achtziger. Und im Osten begann die friedliche Revolution mit den Montagsdemonstrationen - mit diesem historischen Begriff schmückten sich im Jahr 2004 auch die Proteste gegen Hartz IV und später die Pegida-Aufmärsche in Dresden.

Die Protestkultur der Bundesrepublik war immer schon ziemlich lebendig.
Die Protestkultur der Bundesrepublik war immer schon ziemlich lebendig. © SZ/Veit Hengst

Die Zahl der Proteste ist seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs kontinuierlich gestiegen. Umfragen zeigen zudem, dass Jüngere eher bereit sind, auf die Straße zu gehen. Mit 60 Jahren nimmt die Lust dazu ab. Früher war die Straße traditionell eher ein "linkes" Terrain. Der Historiker Paul Nolte beschrieb es einmal so: "Konservative Politik bevorzugt Institutionen und Verfahren, linke Politik die 'Bewegung'." Das hängt auch mit der Geschichte der Arbeiterbewegung zusammen, die im 19. Jahrhundert mit Massenprotesten und großen Versammlungen ihre wachsende Macht demonstrierte. Seit der deutschen Wiedervereinigung haben aber auch Rechtsradikale die Straßendemo als Ausdrucksmittel für sich entdeckt, vor allem in Ostdeutschland. Das wiederum ruft immer mehr Gegendemonstranten auf den Plan.

Wer demonstriert, hat sich entschieden

Häufig wird Demonstranten von links wie rechts vorgeworfen, sie machten es sich zu einfach. Doch dieser Vorwurf widerspricht dem Wesen des Straßenprotests. "Gegen Komplexität kann man nicht protestieren", sagte der Soziologe Niklas Luhmann. Auf die Straße geht man nun mal mit simplen Parolen und Plakaten, auch wenn es hundert Argumente für oder gegen eine Sache gibt. Die Straße ist nicht der Ort, das auszudiskutieren. Wer demonstriert, hat sich entschieden. Genauso wie die Wähler in der Kabine nur ein Kreuzchen machen. Würde man ihnen entgegenhalten, die Wirklichkeit sei komplexer?

Auch wenn heute kaum noch jemand mit so glühender Leidenschaft auf die Straße geht wie damals der junge Eric Hobsbawm: Gerade bei Protesten gegen Rechtsextreme zeigt sich auch heute noch der Urtrieb des Demonstrierens. Wer mit anderen loszieht, bringt damit eine Haltung zum Ausdruck: "Es ist mir nicht egal!" Nirgends sonst lässt sich Demokratie körperlicher und räumlicher erleben, als in der Versammlung mit Gleichgesinnten auf Asphalt und Pflastersteinen. Der Bürger, sonst oft nur als Steuernummer existent, tritt mit einem "Hier bin ich" in Erscheinung. Zugleich ist es eine wichtige gegenseitige Vergewisserung: "Wir sind nicht allein!"

Hinweis: Die ursprüngliche Version dieses Textes ist am 8.2.2014 in der Sächsischen Zeitung erschienen.