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Wie die Elbe Sachsen zu Olympiasiegern macht

Seit etwa 200 Jahren wird auf der Elbe gerudert – seit 1882 auch in Meißen. Hier wurden Olympiasieger groß, die ihrem Verein über den Ruhm hinaus treu bleiben.

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Wolfgang Kussatz rudert auch noch mit 73 Jahren auf der Elbe. Zudem schreibt er die Chronik des Meißner Ruderclubs Neptun 1882 an der Siebeneichener Straße fort.
Wolfgang Kussatz rudert auch noch mit 73 Jahren auf der Elbe. Zudem schreibt er die Chronik des Meißner Ruderclubs Neptun 1882 an der Siebeneichener Straße fort. © Matthias Schumann

Von Thomas Schade

Ein Hüne steht zwischen den Sportbooten, die man Einer, Zweier mit, Vierer oder Achter nennt. Gewandt umkurvt der Fast-2-Meter-Mann die Ausleger, erklärt Freizeitsportlern, wie man seine Körperkraft optimal beim Rudern einsetzt. Alle im Bootshaus des Meißner Ruderclubs Neptun 1882 wissen: Nur wenige könnten folgen, wenn der 66-Jährige auf der Elbe in die Riemen greift.

Aber Walter Dießner steigt nicht mehr jeden Tag ins Rennboot. An diesem Nachmittag betreut er eine Hobbymannschaft, die unter seinen Fittichen ein paar Fahrten auf der Elbe absolviert und bei der 12. Neptun-Freunde-Regatta antreten will. Die Freizeitsportler lauschen den Tipps, es sind die Erfahrungen eines ganz Großen des Meißner Rudersports. Walter Dießner ist Olympiasieger und mehrfacher Weltmeister.

Sein Wort zählt, wenn es ums Rudern geht: Olympiasieger Walter Dießner. Er ist dem MRC Neptun treu geblieben.
Sein Wort zählt, wenn es ums Rudern geht: Olympiasieger Walter Dießner. Er ist dem MRC Neptun treu geblieben. © Matthias Schumann

Er und sein Zwillingsbruder Ullrich sind Sportlegenden – nicht die einzigen, die der MRC Neptun anzubieten hat. Sportler wie Dieter Grahn, Frank Forberger, Karin Metze, Beatrix Schröer, Jörg Dießner und Anna Forberger haben eine goldene Ära im Rudersport auf der Elbe geprägt. Diese Ära reicht über mehrere Generationen. In seiner fast 140-jährigen Geschichte schaut der Ruderclub an der Siebeneichener Straße auf mehr als 1.000 Siege. Den ersten verzeichnet die Vereinschronik im Frühjahr 1904, als vier Meißner auf der Deutsch-Böhmischen Regatta in Pirna die beste Zeit des Tages erreichten.

In den Annalen des Rudersports

Seit wann auf der Elbe gerudert wird, kann keiner genau sagen. Schon seit über tausend Jahren bewegen sich Menschen rudernd auf dem Wasser fort. Im 14. Jahrhundert ermittelten in Venedig die Gondolieri ihre Besten und nannten die Wettkämpfe „Regatta“.

Man nimmt an, dass Kaufleute aus England in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Rudern nach Hamburg auf die Elbe gebracht haben. Nach 1836 veranstaltete der „Hamburger Ruderclub“ erste Wettfahrten gegen die Engländer, wie der Vereinsseite im Internet zu entnehmen ist. Es brauchte Zeit, bis Schiffer die Kunde vom sportlichen Rudern elbaufwärts trugen.

In Meißen wurden Anfang 1882 Männer rudernd auf der Elbe beobachtet. Sie hatten bei einem Fischer einen Kahn geliehen. Wenig später saßen ein paar Blaumaler der Königlichen Porzellanmanufaktur im Gasthaus „Zu den Akazien“ beim Bier und beschlossen, einen Ruderverein zu gründen. Sie kauften in Wehlen für 66 Mark ein altes Fährboot, nannten es „Neptun“, ließen acht eschene Riemen anfertigen und starteten am 13. Juni 1882 zur ersten Clubfahrt. Es war die Geburtsstunde des Vereinsruderns in Meißen.

Die Garage der Roten Armee

Wolfgang Kussatz hat fast sieben Jahrzehnte dieser Geschichte miterlebt. Schon mit einem Jahr habe er im Bootshaus im Kinderwagen gelegen. Sein Vater Fritz gehört zu denen, die den Rudersport auf der Elbe nach 1945 wieder aufgebaut haben. Fritz Kussatz trug sich 1950 mit einem dritten Platz im Vierer bei den DDR-Meisterschaften in Grünau sportlich in die Annalen des Rudersports ein. Mitte der 1960er-Jahre schrieb er die Geschichte des Rudersports auf der Elbe in einer Festschrift zur 75. Dresdner Ruder-Regatta auf.

Sohn Wolfgang schreibt diese Chronik fort. Er sitzt auf der Terrasse des Meißner Bootshauses und erinnert sich, wie er 1961 zum ersten Mal ins Ruderboot gestiegen ist. Als Schüler hat er zunächst die Boote der Großen gesteuert. Dann ruderte er selbst zwei Jahre. „Aber als kleiner Kerl hatte ich keine Chance gegen die langen Lulatsche“, erzählt er. Ein-, zweimal habe er mit Frank Forberger im Boot gesessen. Forbergers legendärer Vierer mit Frank Rühle, Dieter Grahn und Dieter Schubert gewann von 1966 bis 1972 fast jeden großen Wettkampf, wurde Weltmeister, Europameister und Olympiasieger. Ohne Kussatz.

Anfang der 1960er-Jahre sei Meißen Trainingszentrum für den Leistungssport geworden. „Wir hatten Glück“, erzählt Wolfgang Kussatz. Das Bootshaus und die Boote hatten den Krieg gut überstanden. Lediglich zwei Achter mussten als Reparationsleistung an die Sowjets abgegeben werden. Die Rote Armee hatte das Bootshaus als Garage genutzt und Posten aufgestellt. „So wurden die verbliebenen Boote gut bewacht.“ Zudem herrschte Aufbruchstimmung, erzählt er. „Die Leute wollten was machen. Wir hatten 1938 über 300 Mitglieder und bereits ein Vierer-Ruderbecken.“ Nach Kriegsende sei Rudern verboten worden. „Aber 1946 durften wir den Neptun neu gründen.“ Mit 247 Mitgliedern, auch aus anderen Vereinen, sei Neptun in den Nachkriegsjahren gut aufgestellt gewesen.

Beckenrudern ist stupide

Die große Erfolgsgeschichte klingt bei Wolfgang Kussatz anscheinend so einfach: „Da kamen Anfang der 60er ein paar Schüler, einige vom Meißner Gymnasium, die waren außergewöhnlich ehrgeizig. Die konnten sich im Boot richtig schinden.“ Der ehrenamtliche Trainer Gotthard Kücklich, ein ehemaliger Meißner Ruderer, musste die Jungs eher zügeln als antreiben. „Sie gewannen bald bei den DDR-Juniorenmeisterschaften gegen die großen Clubs.“

Als Traditionsverein ist der MRC immer auf der Suche nach Nachwuchs für den Ausdauersport Rudern.
Als Traditionsverein ist der MRC immer auf der Suche nach Nachwuchs für den Ausdauersport Rudern. © Matthias Schumann

Fortan dominiert der Leistungssport das Vereinsleben. „Aber als Betriebssportgemeinschaft Einheit Meißen blieben wir immer eine Nachwuchsschmiede“, sagt Kussatz, „sobald große Potenziale bei unseren Talenten entdeckt wurden, klopften die Clubs an die Tür.“

Da hilft auch nicht, dass 1975 hinter dem Bootshaus ein großes Achter-Becken gebaut wird. „Da waren wir schon in Dresden, wo es auch so ein Becken gab“, erzählt Walter Dießner. „Das Beckenrudern war so stupide, dass wir die Kacheln an der Wand gezählt haben. Eigentlich wollten wir auf der Elbe unsere Kilometer schrubben“, witzelt er. Im Becken werde jetzt nur an der Technik gearbeitet. Das Ruder-Ergometer sei heute das modernere Trainingsgerät.

Mit dem Olympiasieg von Beatrix Schröer im Achter 1988 in Seoul enden die ruhmreichen Meißner Ruderzeiten. Walter Dießners Sohn Jörg und Frank Forbergers Tochter Anna gelingt es um die Jahrtausendwende noch einmal, in die Weltspitze vorzustoßen und internationale Titel zu gewinnen. Insgesamt gewinnen 15 Männer und Frauen aus dem MRC Neptun 39 Medaillen bei Olympia, Welt- und Europameisterschaften, davon 25-mal Gold. Der Neptun gehört damit zu den erfolgreichsten Rudervereinen an der Elbe.

Aber die Zeiten ändern sich. Im Sommer 1990 gründet sich der MRC Neptun 1882 zum dritten Mal neu und legt den Namen BSG Einheit ab. „Bis dahin hatten wir bis zu drei hauptamtliche Trainer, die gingen alle weg“, erinnert sich Wolfgang Kussatz. Der Verein musste sich eine neue Existenzgrundlage schaffen. „Wir sollten das Bootshaus, das der Verein 1914 erbaut hatte, von der Stadt für 1,2 Millionen D-Mark zurückkaufen. Für uns unerschwinglich.“ Man einigte sich auf eine Erbbaupacht.

Pokale, Medaillen, Porzellanvasen

Das markante Bootshaus ist seit mehr als einhundert Jahren Zentrum des Vereinslebens. Sein Interieur verrät einiges über Charakter und Geist des MRC Neptun 1882. So hat der Porzellanmaler William Bahring, ein Ruderer, im Vereinssaal ein Wandbild hinterlassen. Drei junge Männer im weißen Sportdress sind darauf zu sehen. „Rudern war lange Männersache“, sagt Wolfgang Kussatz. Erst 1930 ist in der Meißner Vereinschronik der erste Sieg einer Damenmannschaft verzeichnet.

Bleiglasfenster und Teichertsche Ofenkacheln verraten, dass städtische Handwerker seit jeher dem Rudersport zugetan sind. Anfangs sei Rudern „schon etwas elitär“ gewesen, sagt Kussatz. „Als Arbeitersportverein hat sich der Neptun nicht gegründet.“ Jahrzehntelang liegen die Geschicke in den Händen von Manufakturisten, Kaufleuten, Baumeistern, einem Apotheker und einem Generalmajor a. D. Sie steuern den Neptun um alle Klippen, denen ein Ruderverein begegnen kann.

An einer Wand hinter Glas drängeln sich die Vereinserfolge aneinander – Pokale, Medaillen, Porzellanvasen. „Es sind die kleineren Trophäen, die der Neptun heute einfährt“, sagt Wolfgang Kussatz. Clubmitglieder rudern in Seniorenwettbewerben des Deutschen Rudervereins, Masters genannt, und in den Jugend-Altersklassen.

Fünfmal nach Hamburg gerudert

Für diese Erfolge wird täglich am Bootshaus trainiert. „Unsere ehrenamtlichen Übungsleiter gehen auch heute in die Schulen, um Kinder fürs Rudern zu begeistern“, sagt er. Aber ihre Erfahrung dabei: Heute füllen Computer und Handy eher die Freizeit junger Leute aus als ein Ausdauersport wie das Rudern. So sind Rudererfamilien, deren Leben seit Jahrzehnten mit dem Neptun verbunden ist, heute eine wichtige Stütze des Vereins. Ihre Enkel trainieren heute an der Siebeneichener Straße.

Zeitzeugen im Vereinshaus: Bild des Porzellanmalers William Bahring, Bleiglasfenster mit Namensgeber Neptun.
Zeitzeugen im Vereinshaus: Bild des Porzellanmalers William Bahring, Bleiglasfenster mit Namensgeber Neptun. © Matthias Schumann

Zwei von ihnen sind die Enkelinnen von Ullrich Dießner, Walters Bruder. Etwa einhundert Mitglieder habe der Verein jetzt. 25 bis 30 Ruderer trainieren in der Jugendabteilung und für die Masters. Ebenso viele sind aktive Wanderruderer. Der Neptun besinne sich wieder auf seine Wurzeln, sagt der 73-jährige Rudersenior Wolfgang Kussatz. Er war über 30 Jahre in Sachsen Ruderwart für das Wanderrudern, besitzt selbst den „Äquatorpreis“, der ihm zertifiziert, dass er quasi einmal um die Welt gerudert ist. „Da bin ich nur einer von fünf im Club.“ Wanderrudern könne man bis ins hohe Alter, sagt er. So trainiert Walter Dießner eine Seniorengruppe von Quereinsteigern. „Die sind 60 und älter, wenn sie anfangen“, sagt der Ex-Olympiasieger. „Wir machen eben Genussrudern.“

Wolfgang Kussatz ist fünfmal nach Hamburg gerudert, hat schon eine Kirchentagsfahne auf der Elbe in die Hansestadt gebracht. Aus Erfahrung sagt er: „Nur Verrückte machen die Strecke von 600 Kilometern in fünf Tagen.“ Im Wanderboot werde gemütlich und gesellig gerudert. „Ohne abzunehmen“, fügt er schmunzelnd hinzu.

"Ein Geschenk, auf der Elbe zu rudern"

Aus dem reinen Männerverein sei ein echter Familienclub geworden, sagt Wolfgang Kussatz. „Und wir besinnen uns auf das, was die Gründerväter vor fast 140 Jahren in die Satzung geschrieben haben. Der Club pflege den Rudersport und die Geselligkeit, heißt es in der Satzung von 1885.

Von dieser Idee wird auch die 12. Neptun-Freunde-Regatta getragen, die der MRC am vorletzten Wochenende veranstaltet hat. Es war der Höhepunkt des Jahres, sagt Walter Dießner. Sein Team hat nicht gewonnen. „Siege sind an so einem Tag nicht alles“, sagt er, „wir haben Sport getrieben und mit unseren Familien und vielen Meißnern ein Fest gefeiert.“ Und der Verein hat das Rudern in Meißen im Pandemiejahr ins Gespräch gebracht. „Vielleicht hat ja einer Lust bekommen, wir trainieren schließlich an der frischen Luft“, hofft Dießner.

Vier Tage später gleitet ein Vierer des MRC in der Abenddämmerung lautlos an den Bootssteg in Siebeneichen. Walter Dießner sitzt auf Schlag. Eine Stunde zuvor waren sie losgefahren zur Gauernitzer Insel. Hin und zurück sind es etwa 13 Kilometer. Auf Kommando gehen die Männer an Land, heben ihr Boot aus dem Wasser.

Drei- bis viermal in der Woche fahre er mit Senioren die Strecke, sagt Dießner. Am liebsten frühmorgens, vor dem Brötchen holen. Da sei das Wasser ganz glatt und alles ganz still. „Man hört nur das Eintauchen der Blätter. Dann weißt du, es ist ein Geschenk, auf der Elbe zu rudern“, schwärmt der Olympiasieger von 1980 in Moskau.

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