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Klassenkampf im Europacup: Warum Dynamos Abwehrchef gegen Bayern München fehlte

50 Jahre Bayern München gegen Dynamo Dresden: Im Herbst 1973 trafen erstmals die beiden deutschen Fußballmeister aufeinander. Stammspieler Klaus Sammer musste bei beiden Partien zuschauen - das hatte vor allem politische Gründe.

Von Timotheus Eimert
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Klaus Sammer blickt auf den ersten deutsch-deutschen Vergleich im Europacup vor 50 Jahren zwischen Bayern München und Dynamo Dresden zurück. Obwohl der heute 80-Jährige damals der Dresdner Abwehrchef war, durfte er nicht mitspielen.
Klaus Sammer blickt auf den ersten deutsch-deutschen Vergleich im Europacup vor 50 Jahren zwischen Bayern München und Dynamo Dresden zurück. Obwohl der heute 80-Jährige damals der Dresdner Abwehrchef war, durfte er nicht mitspielen. © Jürgen Lösel

Dresden. Es ist eine Sensation. Am 5. Oktober 1973 wird im Züricher Hotel Atlantis das Achtelfinale im Europapokal der Landesmeister ausgelost. Gleich die erste gezogene Paarung ist ein absoluter Kracher: Bayern München gegen Dynamo Dresden, West gegen Ost, der Fußballmeister der Bundesrepublik Deutschland trifft auf den der Deutschen Demokratischen Republik.

Doch in Dresden bekommt man davon einen Tag später nur wenig mit. Die Überschrift in der Wochenendausgabe der Sächsischen Zeitung am 6./7. Oktober lässt nicht darauf schließen, dass es etwas Besonderes zu vermelden gibt: "Pokalspiele ausgelost", heißt es nüchtern. Fast beiläufig wird erwähnt: "Im Europapokal der Landesmeister spielt Dynamo Dresden gegen Bayern München."

Dynamos Abwehrchef Klaus Sammer freut sich über das Los. "Wir haben damals gegen absolute Weltmannschaften gespielt. Die Europapokalnächte waren immer besonders", sagt der heute 80-Jährige 50 Jahre nach dem ersten deutsch-deutschen Vergleich im Europacup im Gespräch mit Sächsische.de. "Wir haben den FC Porto geschlagen, sind gegen Juventus Turin weitergekommen. Gegen Ajax Amsterdam, Bayern und Liverpool haben wir knapp verloren. Wir waren gar nicht so weit weg von der europäischen Spitze."

Sensation: Dynamo schaltet Juventus Turin aus

Dass Dynamo dennoch nie ein Finale erreicht, hat auch etwas mit den beiden Spielen gegen die Bayern im Herbst 1973 zu tun. Eigentlich sind die Dresdner damals nicht in der besten Verfassung. Nach der dritten Meisterschaft der Vereinsgeschichte in der Vorsaison rangieren die erfolgsverwöhnten Schwarz-Gelben in der DDR-Oberliga nur auf Platz sechs – zu wenig für die Ansprüche des Dresdner Kreisels, der sich in dieser Saison nur wenig gedreht hat. Im Europacup ist das alles vergessen.

Denn auch der Gegner hat damals seine Probleme. In der ersten Runde des Landesmeister-Wettbewerbs, dem Vorläufer der heutigen Champions League, zittern sich die Bayern gegen den schwedischen Meister Atvidaberg FF im Elfmeterschießen in die nächste Runde. Die Generalprobe vier Tage vor dem Hinspiel gegen Dynamo verliert das Starensemble um Franz Beckenbauer, Gerd Müller, Sepp Maier und Uli Hoeneß in der Bundesliga gegen Kaiserslautern nach 4:1-Führung sogar mit 4:7.

"Die Bayern waren damals angeschlagen. Wir brauchten uns nicht verstecken", sagt Vorstopper Sammer, der mit Dynamo in der ersten Runde überraschend den Vorjahresfinalisten Juventus Turin ausgeschaltet hatte. Vor der damaligen Rekordkulisse von 70.000 Zuschauern in Turin verloren die Dresdner zwar 2:3 gegen den italienischen Meister, der mit Weltstars wie Torhüter Dino Zoff oder Mittelfeldspieler Fabio Capello gespickt war. Der 2:0-Vorsprung vom Hinspiel in Dresden reicht der Sportgemeinschaft jedoch fürs Weiterkommen.

Sammer und sein schwieriges Verhältnis zu Trainer Fritzsch

Klaus Sammer erhält von Trainer Walter Fritzsch danach ein ungewöhnliches Extra-Lob. "Herausheben möchte ich aus unserer Mannschaft den fleißigen Heidler, Kapitän Klaus Sammer, der sich in der zweiten Halbzeit wesentlich steigerte, und auch Ganzera, der auf der Position des verletzten Kreische seine taktischen Aufgaben durchaus erfüllte", sagte Dynamos Meistertrainer damals der Sächsischen Zeitung.

Eigentlich pflegten Sammer und Fritzsch kein gutes Verhältnis. "Ich war über 30 Jahre alt und alle, die über 30 Jahre alt waren, hat der Fritzsch rausgeschmissen – mit zwei Ausnahmen: Gert Heidler und mich", sagt Sammer heute. Hoch angesehen ist er unter Fritzsch damals dennoch nicht. Er steht unter besonderer Beobachtung – besonders vor dem Aufeinandertreffen mit Bayern München.

Denn Sammer hat eine Tante am Tegernsee, seine Schwiegermutter lebt in Hamburg. "Beide sind offiziell ausgereist und nicht abgehauen", sagt Sammer. Westverwandtschaft wird dennoch nicht gern gesehen beim Ministerium für Staatssicherheit. "Wenn es zu Fußballspielen nach England oder Frankreich ging, durfte ich mit. Immer wenn wir mit Dynamo oder der DDR-Auswahl in der BRD gespielt haben, durfte ich nicht mit", erzählt er. Wegen vermeintlicher Fluchtgefahr darf er nicht zu den Olympischen Spielen 1972 in München und zur Weltmeisterschaft 1974 in die Bundesrepublik fahren.

Klaus Sammer trickst die westdeutschen Journalisten aus

Umso überraschter ist Sammer, dass er die Reise zum Europapokal-Hinspiel am 24. Oktober 1973 nach München mit antreten darf. Beim Stadtbummel durch die bayerische Landeshauptstadt wecken er und seine Teamkollegen vor allem die Neugier der westdeutschen Journalisten.

"Wir durften uns knapp zwei Stunden im Kaufhaus bewegen", erzählt er. "Wir wurden mehrmals angesprochen und nach einem Interview gefragt. Aus Erfahrung wussten wir aber, dass wir besser den Mund halten. Deswegen haben wir sie mehr oder weniger verarscht."

Die Dynamo-Spieler sagen, dass sie nach ihrem Einkauf zum Interview kommen. "Wir haben sie dann stehen lassen. Wir mussten immer vorsichtig sein", sagt Sammer, der sich von den Fahrten ins nichtsozialistische Ausland meist ein Rasierwasser mitnimmt.

1860-München-Fans singen Dynamo-Lied

Das Duell zwischen Dresden und den Bayern hat eine hohe politische Brisanz. Erstmals seit 1956 duellieren sich die beiden deutschen Fußballmeister, erstmals treten sie in einem offiziellen internationalen Wettbewerb gegeneinander an. Um mögliche Nebengeräusche zu unterbinden, startet die Stasi eine groß angelegte Operation mit dem Titel "Vorstoß".

Zum Hinspiel am 24. Oktober 1973 sollen 1.000 ausgewählte "Touristen" mit zwei Sonderzügen nach München reisen, um die Schwarz-Gelben im Olympiastadion anzufeuern. Natürlich dürfen nur Personen in den Westen, die als vertrauenswürdig gelten, wobei eine nicht geringe Anzahl der Plätze sowieso an hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter der Stasi vergeben wird.

Unterstützt werden die Schlachtenbummler von einigen Anhängern des TSV 1860 München, die zur Verblüffung der Gäste-Delegation im Münchner Olympiastadion das "Dynamo-Lied" anstimmen. Vereinsrivalität sticht in diesem Fall weltanschauliche Differenzen.

Walter Fritzsch verzichtet auf Stammspieler Klaus Sammer

Sammer sitzt zunächst nur auf der Ersatzbank. Dass vor dem deutsch-deutschen Duell seine Tante und seine Schwiegermutter plötzlich im Hotel der Dresdner auftauchten, ist aber nicht der Grund für seine ungewohnte Reservistenrolle. „Ich bin richtig erschrocken und dachte, um Gottes willen. Die Parteifunktionäre aus Berlin waren mit, wenn sie das gesehen hätten“, erinnert er sich 50 Jahre danach.

Klaus Sammer (2.v.r.) sieht das Hinspiel gegen Bayern von der Ersatzbank. Neben ihm sitzen Mannschaftsleiter Siegfried Gumz, Co-Trainer Gerhard Prautzsch, Trainer Walter Fritzsch, Mannschaftsarzt Dr. Wolfgang Klein, Stürmer Rainer Sachse (v.l.) und Ersatz
Klaus Sammer (2.v.r.) sieht das Hinspiel gegen Bayern von der Ersatzbank. Neben ihm sitzen Mannschaftsleiter Siegfried Gumz, Co-Trainer Gerhard Prautzsch, Trainer Walter Fritzsch, Mannschaftsarzt Dr. Wolfgang Klein, Stürmer Rainer Sachse (v.l.) und Ersatz © PA/dpa

Die Verwandtschaft wird vom Hotel dennoch zu ihm vorgelassen. "Meine Tante hat mir in einer dunklen Ecke noch schnell 100 D-Mark zugesteckt", sagt der Verteidiger. Seine Verwandten verfolgen die Partie live im Stadion. "Nach dem Spiel hatten wir leider keinen Kontakt mehr."

Obwohl Sammer damals ein wichtiger Spieler ist und gegen Juventus Turin noch zu Dynamos Besten gehörte, fehlt der Abwehrchef in der Startelf. "Es war sehr ungewöhnlich, weil ein Stammspieler damals fast immer gespielt hat und selten herausgenommen wurde. Das ist heute natürlich etwas anders, da wird mehr rotiert", erklärt er. Interveniert habe damals dennoch keiner – zu groß war die Autorität des Trainers im Allgemeinen und von Walter Fritzsch im Speziellen.

Rund 48.000 Zuschauer sind am 24. Oktober 1973 im Münchner Olympiastadion beim deutsch-deutschen Duell im Europapokal dabei. Die Bayern mit Uli Hoeneß am Ball gewinnen mit 4:3 gegen Dynamo und Eduard Geyer (rechts).
Rund 48.000 Zuschauer sind am 24. Oktober 1973 im Münchner Olympiastadion beim deutsch-deutschen Duell im Europapokal dabei. Die Bayern mit Uli Hoeneß am Ball gewinnen mit 4:3 gegen Dynamo und Eduard Geyer (rechts). © dpa

Dynamo hält gegen den großen Favoriten auch ohne Sammer, für den Eduard Geyer spielt, gut mit. Bis zur 70. Minute führen die Dresdner 3:2. "In den Schlussminuten haben die Bayern die Bälle nur hoch hineingespielt", erinnert sich Sammer, der aber weiter auf der Ersatzbank schmoren muss. Walter Fritzsch verzichtet darauf, den kopfballstarken Verteidiger einzuwechseln. "Ich durfte weiter draußen auf der Laufbahn rennen und mich warm machen", sagt Sammer, der wegen seiner 1,91 Meter von seinen Mitspielern „der Lange“ genannt wird. Am Ende drehen die Bayern die Partie, Dynamo verliert 3:4.

Sammer zählt zu den schnellsten Verteidigern der DDR

Auch das Rückspiel in Dresden verfolgt Klaus Sammer von draußen. Früh führen die Bayern durch zwei Tore von Hoeneß, der seinem Gegenspieler Eduard Geyer mehrmals entwischt. "Geyer war damals nicht der Langsamste", meint Sammer. "Er wollte Hoeneß vor der Ballannahme stören. Mit ein bisschen Erfahrung hätte man gesehen, dass das schwierig wird."

Viermal läuft der spätere Bayern-Manager und -Präsident in der ersten Halbzeit davon, trifft zweimal. Als Hoeneß sein erstes Tor erzielt, sagt Fritzsch zu Sammer: "Wärme dich auf!" Dynamos Top-Torjäger Hansi Kreische, der damals verletzt ist und noch heute zu Sammers Freunden zählt, entgegnet dem Trainer daraufhin: "Ach, wenn der Kahn untergeht, ist der alte Mann gut genug." Sammer bleibt draußen.

Es ist der entscheidende Zweikampf im deutsch-deutschen Duell: Bayern-Stürmer Uli Hoeneß (links) läuft Dynamo-Verteidiger Eduard Geyer davon - und erzielt zwei Tore.
Es ist der entscheidende Zweikampf im deutsch-deutschen Duell: Bayern-Stürmer Uli Hoeneß (links) läuft Dynamo-Verteidiger Eduard Geyer davon - und erzielt zwei Tore. © imago sportfotodienst

Eigentlich gehört er damals zu den schnellsten Verteidigern der DDR-Oberliga. "Das war ja das Kuriose. Ich war damals topfit und bin die 100 Meter in 11,4 Sekunden gelaufen", sagt er selbst. Ob diese Zeit für den schnellen Hoeneß gereicht hätte? "Auf alle Fälle", meint er und lacht.

Damals muss er von draußen mit ansehen, wie sein Team zwar den 0:2-Rückstand durch Tore von Siegmar Wätzlich und Hartmut Schade aufholt und die Partie durch einen Treffer von Reinhard Häfner sogar dreht. Doch den Schlusspunkt setzen wieder die Bayern. Der "Bomber der Nation", Gerd Müller, erzielt das 3:3. Die Sensation bleibt aus.

"Für mich war das eine Katastrophe. Wir hätten gegen die Bayern weiterkommen können. Meiner Meinung nach haben wir nur aus taktischen Gründen verloren", sagt Sammer.

Klaus Sammer kritisiert: "Walter Fritzsch hat versagt"

Am Ende gewinnen die Bayern den Europapokal. Auf dem Weg zum Titel bezwingen sie anschließend den bulgarischen Meister ZSKA Sofia, den ungarischen Champion Újpesti Dózsa SC und im Finale Atlético Madrid. Dass auch Dynamo in diesem Endspiel hätte stehen können, behaupten heute nicht wenige Zeitzeugen.

Klaus Sammer ist diese Debatte schon seit einigen Jahren egal. "Mich nicht spielen zu lassen, das war Fritzschs größter Fehler", sagt der heute 80-Jährige dennoch. "Ich habe vorher zwei Jahre lang nicht verloren. Immer wenn Dynamo verloren hatte, fehlte ich." Begründet hat Fritzsch seine Entscheidung von damals nie – vermutlich, weil sie nicht nur sportliche Gründe hatte.

"Ich wollte es auch eigentlich gar nicht wissen. Er hätte sich nie einen Fehler eingestanden", meint Sammer. Unter Fritzsch kommt Dynamo im Europapokal nie über das Viertelfinale hinaus. "Er hat vor allem trainingsmethodisch sehr gute Sachen gemacht", sagt Sammer. "Aber immer, wenn es international um etwas ging, hat Walter Fritzsch versagt." Sammer bleibt der ganz große Titel somit verwehrt. Sein Sohn Matthias stattdessen gewinnt 1997 im Münchner Olympiastadion mit Borussia Dortmund die Champions League gegen Juventus Turin.