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Unvergessen: Die Weltrekordtage im Dresdner Steyer-Stadion

Renate Stecher sorgt vor 50 Jahren für einen Zuschauer-Ansturm in Dresden - und spielt die Hauptrolle beim Weltrekord-Festival im Steyer-Stadion. Inzwischen genießt die Frau, die einst der ganzen Welt davonlief, gemütlich unterwegs zu sein.

Von Jochen Mayer
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Renate Stecher bei ihrem Weltrekordlauf im Heinz-Steyer-Stadion. Mit 10,8 Sekunden unterbot sie ihre erst zwei Wochen alte Bestmarke über 100 Meter.
Renate Stecher bei ihrem Weltrekordlauf im Heinz-Steyer-Stadion. Mit 10,8 Sekunden unterbot sie ihre erst zwei Wochen alte Bestmarke über 100 Meter. © dpa/PA/Werner Schulze

Dresden. Es gibt Tage, die sind plötzlich sehr besonders, sie bleiben Ewigkeiten im Gedächtnis und für immer in Chroniken. So ein Tag war der 20. Juli 1973. Da begannen die DDR-Meisterschaften der Leichtathleten in Dresden – der Auftakt für ein Weltrekord-Festival im Heinz-Steyer-Stadion. Im Mittelpunkt: Renate Stecher.

Die damals zweifache Olympiasiegerin hatte zwei Wochen zuvor in Ostrava als erste Frau überhaupt auf der Welt die 11-Sekunden-Marke über 100 Meter durchbrochen. Im Dresdner Zwischenlauf stellte die Jenaerin ihren Rekord von 10,9 Sekunden ein. Und im Finale unterbot sie die Marke noch einmal um eine Zehntelsekunde. Das sorgte für einen Zuschauer-Ansturm an den nächsten zwei Meisterschaftstagen. „Bitte rücken Sie etwas zusammen, draußen stehen noch Tausende“, hieß es per Lautsprecher-Durchsage im vollen Stadion.

Die Besucher wurden am 21. Juli belohnt mit einem weiteren Stecher-Weltrekord über 200 Meter: 22,1 Sekunden. Einen Tag später gab es den vierten Weltrekord. Die Magdeburgerin Annelie Erhardt verewigte sich über 100 Meter Hürden in 12,3 Sekunden. „Ein Fest der Leichtathletik“, titelte das Fachblatt Der Leichtathlet.

„Die Zuschauer saßen fast mit am Startblock"

Stecher erinnert sich gern an jene Tage. „Ich fühlte mich gut vorbereitet“, sagt die 73-Jährige im Interview mit sächsische.de. „Bei meinem Ostrava-Weltrekord war es regnerisch, kühl, die Zeit deshalb fast unglaublich. Dagegen herrschten in Dresden beste Bedingungen.“ Und sie schwärmt über das damalige Stadion, das sei „klein, bescheiden, rustikal“, gewesen. „Die Zuschauer saßen fast mit am Startblock, waren dicht dran an der Zielgeraden. Die Nähe zum Publikum war etwas Besonderes. Sie konnten alles genau verfolgen, Begeisterung sprang schnell über.“

Der Weltrekord über 100 Meter lag in der Luft, die Bedingungen passten, das Stadion wurde voller, die Konkurrenz machte Druck. „So kamen 10,8 Sekunden raus“, sagt Stecher, und sie erzählt, wie Fotografen auf die Startnummer verwiesen. „Ich trug die 108. Das passte, sicher ein Zufall.“ Weniger zufällig folgte noch ein Weltrekord über die doppelte Distanz: „Die 200 Meter bin ich gern gelaufen. Wenn ich wusste, dass ich in Form war, rannte ich die ersten 100 Meter scharf an und das letzte Stück musste ich mich nicht quälen.“

Die Stimmung von damals hat sie nicht mehr so genau im Ohr. „Das ist 50 Jahre her“, sagt sie und meint, ihre Ohren seien nicht mehr so hellhörig. Dann klingt die einst schnellste Frau der Welt wieder ernst: „Egal, wo wir angetreten sind in unserem Land, die Stadien waren meist voll, die Leute tolle Zuschauer, sportinteressiert, applaudierten immer. Dresden ragte dabei noch heraus, weil dort alles relativ zentral und kompakt über die Bühne ging. Ich bin gerne auf der schnellen Bahn gelaufen. Das ging nicht nur mir so. Das sieht man auch an der Weltrekord-Tafel am Stadion.“

Sie kehrt gern an ihre einstige Erfolgsstätte zurück. Renate Stecher beim DSC-Jugendmeeting 2017.
Sie kehrt gern an ihre einstige Erfolgsstätte zurück. Renate Stecher beim DSC-Jugendmeeting 2017. © Ronald Bonß

14 Weltrekorde in der Leichtathletik sind dort verewigt. Den Anfang machte Stecher. „Das Stadion und das Publikum, das einen gepusht hat, das vergisst man nicht. Da fühlten sich Athleten zu Hause, man wurde angenommen, spürte den Enthusiasmus der Zuschauer, die sich begeistern konnten. Die Leute standen einem zur Seite. Das war wie eine große Familie“, sagt sie. Dazu hätte auch das kleine Holztreppchen für die Siegerehrungen gepasst. „Da wirkte nichts kalt und steif wie in manch anderem Stadion.“ Nach der Wende war Stecher dann erschrocken, als sie mit ihren Töchtern das Stadion besuchte. „Das machte alles einen runtergekommenen Eindruck“, sagt die vierfache Europameisterin und weiß, dass sie damit untertreibt. „Das alte Siegertreppchen stand noch da. Meine Töchter stellten sich für ein Foto drauf.“

Einen besseren Eindruck bekam sie 2017. Da gehörte die Jenaerin zur Sportprominenz bei der Einweihung der neuen Nord-Tribüne. Der Neubau ersetzte die marode und baupolizeilich gesperrte Holztribüne. „Ich traf auf einige Sport-Oldies wie Täve Schur, das war sehr bewegend. Jeder hatte gute Erinnerungen an das Stadion. Und alle freuten sich, dass es langsam wieder aufwärts ging. Schön, dass Dresden so viel Kraft und Mut hat, das Leichtathletik-Stadion jetzt gänzlich neu aufzubauen.“

"So wurde auch die Leichtathletik in Jena tot gemacht“

Dieses Lob hat eine Kehrseite. „Das alles ist nicht vergleichbar mit Jena“, sagt Stecher und meint: „Da haben sie die schöne Leichtathletik-Anlage zum reinen Fußball-Stadion umfunktioniert. Den Leichtathleten blieb nur ein kleines Trainingsobjekt. Das ist tragisch. Die Fußballer vom FC Carl Zeiss Jena bekamen dagegen ein beachtlich großes Stadion für einen Regionalligisten. So wurde auch die Leichtathletik in Jena tot gemacht.“ 2004, 2011 und 2015 gab es noch deutsche Jugendmeisterschaften im Ernst-Abbe-Sportfeld. „Damit ist jetzt Schluss, Leichtathletik und Fußball sind traurige Kapitel in Jena.“

Stecher kennt die Anlage am Fuße der Kernberge seit ihrer Jugend. Das Mädchen aus Süptitz hatte einst im nahen Torgau angefangen mit dem Sport. Ein Vereinskamerad war nach Bad Blankenburg an die Sportschule gewechselt, ebnete damit den Weg zu einem Sichtungstermin. Dann ging alles schnell, lockte die Sportschule, obwohl Torgau zum Leipziger Sichtungsreich gehörte. „Ich war ein Mädchen vom Dorf, wollte nicht in die Großstadt“, erklärt Stecher ihren ungewöhnlichen Karrierestart. Sie war als Einzelkind aufgewachsen, durch den Sport lebte sie in einer Gemeinschaft. „Das hat mir immer gefallen.“

Das Staffel-Drama bei den Spielen von München

Stecher ist mit sechs Olympiamedaillen eine der erfolgreichsten Leichtathletinnen. Den beiden Olympiasiegen 1972 in München über 100 und 200 Meter fügte sie in Montreal noch einen kompletten Medaillensatz hinzu: Staffel-Gold, 100-m-Silber, 200-m-Bronze. Doch gefühlt wirkt Stecher nach der Wende wie eine ewige Zweite. Immer wieder muss sie sich bei Münchner Olympia-Filmen ansehen, wie sie als Schlussläuferin in der Staffel gegen die Westdeutsche Heide Rosenthal verliert – und Silber gewinnt. Es wurde eine der Kernszenen der Sommerspiele 1972.

„Das lässt sich alles nicht mehr ändern. Aber wer weiß, wie es anders ausgegangen wäre“, fragt sich Stecher noch heute und betont: „Die Staffel war ja falsch besetzt. Ich bin sonst nie am Schluss gelaufen. Meine Position war immer die zweite. Da konnte ich mich am besten einbringen. Aber in München musste ich am Ende ran. Wir waren ja nur Athleten, hatten kein Mitsprache-recht.“ Bei den vier Staffel-Weltrekorden nach München 1972 und beim Olympiagold-Rennen in Montreal 1976 stand Stecher dann auf ihrer Lieblingsposition zwei.

Die einstige Weltklasse-Sprinterin mit der enormen Trittfrequenz hat inzwischen ihren Frieden gemacht mit manchem Ärger. Wenn ihr Rosenthal über den Weg läuft bei Veranstaltungen, gehen sie unverkrampft miteinander um: „Da gibt es keine Brandmauer, das ist ein normales Verhältnis.“ Stecher trauert auch dem versagten Comeback nach der Geburt ihrer Tochter Cornelia 1977 nicht nach.

Mit Kinderwagen auf dem Sportplatz

Die junge Mutter sah sich nicht am Ende ihrer Möglichkeiten, war mit Kinderwagen auf dem Sportplatz. Doch ihr Trainer Horst-Dieter Hille betreute mit Marlies Göhr damals die nächste aufstrebende junge Sprinterin in Jena – die 1977 als erste Frau die 100 Meter elektronisch gestoppt unter elf Sekunden gerannt war: 10,88 Sekunden – im Dresdner Steyer-Stadion. „Im Nachhinein bereue ich nichts. Unsere drei Töchter, die Familie, das war für mich wichtiger geworden“, sagt Stecher. Eine schwere Zeit hatte die Oma von vier Enkeln, als vor elf Jahren ihr Mann Gerd 63-jährig nach schwerer Krankheit starb.

Stecher blieb aktiv als Sportlehrerin an der Uni Jena, arbeitete nach der Wende als Angestellte im Jenaer Studentenwerk. Ihr Mittun bei den Leichtathleten war nicht mehr gefragt, und aufdrängen wollte sie sich nicht. Ihre Sportart, in der sie Grenzen durchbrach, reduziert sich für sie längst auf das Fernsehen, wenn Höhepunkte anstehen. „Das ist eine andere Welt geworden. Der ganze Saisonaufbau stimmt nicht mehr. Ich kann die Systematik bei den Deutschen leider nicht erkennen“, sagt Stecher, die nach einem Oberschenkelhalsbruch gehandicapt ist. Sie war auf Glatteis gestürzt. Dennoch fährt sie weiter alpin Ski, spielt Basketball, fährt Rad, am liebsten an der Ostsee. Die Frau, die einst der ganzen Welt davonlief, genießt es jetzt, gemütlich unterwegs zu sein.