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Strukturwandel-Tagung in Leipzig: Klagen über deutsche "Planwirtschaft"

Es geht kaum voran beim Ausbau erneuerbarer Energien und bei der Digitalisierung – eine Tagung in Leipzig zeigte einmal mehr die massiven Defizite.

Von Irmela Hennig
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Dieses Warnschild, das auf Arbeiten an Stromleitungen hinweist, wird viel zu selten aufgestellt. Der Infrastrukturausbau kommt nur schleppend voran. Foto: dpa
Dieses Warnschild, das auf Arbeiten an Stromleitungen hinweist, wird viel zu selten aufgestellt. Der Infrastrukturausbau kommt nur schleppend voran. Foto: dpa © dpa

Leipzig. Fußball – Holger Lösch, stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), findet in der Sportart ein Bild, um die Probleme der deutschen „Planwut“ bei Bau- und Energievorhaben zu umschreiben. „In den USA sagt man: Jungs, schießt ein Tor. Bei uns heißt es: Jungs, schießt ein Tor. Aber bitte als Fallrückzieher, mit dem linken Fuß, in die obere rechte Ecke und nur an ungeraden Wochentagen.“ Die eher bitteren Lacher hatte er kürzlich bei einer Tagung in Leipzig damit auf seiner Seite.

Das Kompetenzzentrum Öffentliche Wirtschaft, Infrastruktur und Daseinsvorsorge an der Uni Leipzig hatte dazu in den Neubau der Sächsischen Aufbaubank (SAB) eingeladen. „Zukunft der Infrastrukturentwicklung“ lautete die Überschrift. In Podiumsgesprächen ging es um den Ausbau erneuerbarer Energien, Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft. Deutlich wurde, oft geht nur schleppend voran, was schnell gehen müsste.

Erneuerbare Energien: See- und Geothermie als kleine Hoffnung

Acht Kilometer Stromleitungen konnte der Verteilnetzbetreiber Mitnetz Strom 2022 ersetzen. Um das von der Politik gesetzte Ziel zu erreichen – bis 2030 sollen 80 Prozent Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen kommen – hieße für Mitnetz, ab heute bis 2030 mindestens 1.500 Kilometer Freileitungen zu bauen. „Das sind 16 Kilometer pro Monat“, rechnete Dirk Sattur vor, technischer Geschäftsführer von Mitnetz Strom und Mitnetz Gas.

„Das ist nur zu schaffen, wenn die Investitionsbedingungen verbessert werden, ausreichend Fachkräfte und Material zur Verfügung stehen und die Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigt werden“, so Sattur. Die Politik habe dazu erste Weichen gestellt. Das reiche aber noch nicht.

Das Unternehmen müsse zudem bis 2030 mindestens 900 Windkraftanlagen und 133.000 Photovoltaik-Anlagen ans Stromnetz anschließen. Das Beispiel macht deutlich, wie groß die Aufgabe ist, vor der Deutschland steht. Laut einer Forsa-Umfrage sehen 70 Prozent der Behörden die Bürokratie als größtes Hemmnis der Energiewende, wie Katrin Leonhardt, Vorstandsvorsitzende der SAB, berichtete. Doch Lösungsvorschläge gab es höchstens in Ansätzen in Leipzig. Neben der umstrittenen Windkraft und Photovoltaik könnten Geothermie und Seethermie künftig eine Rolle spielen. Dabei wird Energie aus dem Boden beziehungsweise aus Seewärme gewonnen.

Digitalisierung: Onlinezugangsgesetz gescheitert

Noch schleppender als der Ausbau Erneuerbarer Energien scheint die Digitalisierung voranzukommen. Sachsen stehe zwar minimal besser da, als einige andere Bundesländer, so Ulf Heinemann. Er ist Chef des Dresdner Unternehmens Robotron Datenbank Software und Landessprecher des Branchenverbandes Bitcom Sachsen. Man könne beispielsweise digital in Dresden einen Hund an- und ein Auto abmelden.

Doch es sei viel Luft nach oben. „Mit mehr Digitalisierung könnte man dem Fachkräftemangel entgegentreten.“ Zudem verliere die Verwaltung über analoge Prozesse viel Zeit. Doch ein wichtiges deutsches Gesetzesvorhaben sei gescheitert, so weitgehend der Tenor in der Gesprächsrunde zur „Smarten Kommune“. Gemeint ist das Onlinezugangsgesetz. Danach sollten 575 Bündel an Verwaltungsdienstleistungen bis Ende 2022 online verfügbar sein. Doch bislang werden lediglich wenige Dutzend flächendeckend angeboten, so hatte die Plattform „eGovernement“ berichtet.

Kreislaufwirtschaft: Vieles ist technisch möglich, wird aber nicht gemacht

Gerold Münster war „schon als kleiner Junge der ,Speckitonne‘ verfallen“, dem Abfallkübel für Speisereste in der DDR. Münster wollte Müllmannwerden. Heute ist er Geschäftsführer bei Becker Umweltdienste in Chemnitz, einem Unternehmen einer bundesweit tätigen Entsorgungs- und Recyclingfirma mit Standorten in Sachsen. „Wir machen aus Speisebrei Gas zur Energieerzeugung“, so Münster.

Man habe beispielsweise zuletzt 30.000 Tonnen Holzreste für die Spanplattenherstellung bereitgestellt und 50.000 Tonnen Altpapier zur Wiederverwertung. Es sei sehr viel möglich beim Thema Kreislaufwirtschaft. „Aber wir bleiben da noch deutlich hinter unseren Möglichkeiten“, so Münster. Allein beim Beton, wenn er wiederaufbereitet und verwertet würde, könne Deutschland drei Prozent seiner Kohledioxidemissionen einsparen. Doch derzeit sei es bei mineralischen Produkten meist billiger, Rohstoffe neu abzubauen, als Recyclate zu nutzen. Münster forderte eine Änderung in der Vergabe-Praxis der öffentlichen Hand bei Bauvorhaben. Da müsse ein Recyclingvorrang kommen.

Lausitzzukunft: Gigawattprojekt der Leag lockt Fachkräfte an

Schon vor 2038 aus der Kohle aussteigen – für den Bergbau- und Kraftwerksbetreiber Leag sei das derzeit nicht wirklich eine Option. Das sagte Markus Binder, Finanzvorstand des Unternehmens, in der vierten Diskussionsrunde unter der Überschrift „Schaufenster Strukturwandel“. Moderator Sebastian Beutler von der Sächsischen Zeitung hatte angemerkt, dass andere Kohle-Verstromer wie RWE den früheren Rückzug aus dem fossilen Energieträger entweder beschlossen haben oder erwägen. Zudem gebe es Studien, die 2026 oder 2028 als Schlusspunkt für die Kohlenutzung in Deutschland für nötig halten, um die Klimaziele zu erreichen.

Binder verwies darauf, dass die Leag mit dem Projekt „Gigafactory“ bis 2040 insgesamt Kapazitäten von 14 Gigawatt installierter Leistung aus erneuerbaren Quellen aufbauen will. „Das entspricht in etwa unserer Größenordnung von heute“, so Binder. „Aber, wir brauchen die Zeit bis 2038, um Projekte zu stemmen.“ Binder betonte, dass man mit dem Gigawatt-Projekt positiv für Aufmerksamkeit sorge. Das ziehe überregional Führungskräfte an.

Eine Herausforderung sind die Kosten: Laut einer Erhebung der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) sind Investitionen in Höhe von rund 500 Milliarden Euro notwendig, um die deutschen Klimaziele bis 2045 zu erreichen. „60 Prozent davon entfallen auf Landkreise, Städte und Gemeinden“, sagte SAB-Chefin Katrin Leonhardt. „Dafür braucht es privates Kapital, die öffentliche Hand kann das nicht finanzieren.“

www.kowid.de