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Leipziger Forscher Svante Pääbo erhält Medizin-Nobelpreis in Stockholm

Der Leipziger Wissenschaftler Svante Pääbo hat am Sonnabend in Stockholm den Nobelpreis übergeben bekommen - für die von ihm entdeckten Neandertaler-Gene.

Von Stephan Schön
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Jetzt hat er ihn, den Nobelpreis. Der wurde an Svante Pääbo vom schwedischen König persönlich am Sonnabend übergeben.
Jetzt hat er ihn, den Nobelpreis. Der wurde an Svante Pääbo vom schwedischen König persönlich am Sonnabend übergeben. © Screenshot SZ

Er ist einfach baden gegangen. Unfreiwillig. Mitten in seinem Institut wird Svante Pääbo an diesem Tag von seinen Kollegen in einen Zierteich geworfen. Ein neuer Nobelpreisträger ist getauft, so geht die Video-Botschaft aus Leipzig in die Welt. Am 3. Oktober hatte das Nobelkomitee in Schweden bekannt gegeben, dass Pääbo den Nobelpreis für Medizin erhält. Für die Erforschung uralter, bisher unbekannter Gene des Neandertalers.

Es sind die wohl ältesten Fragen der Menschheit, zu denen Svante Pääbo und seien Kollegen in Leipzig Antworten finden: Wo kommen wir her? Was macht den Menschen zum Menschen? In den vergangenen 30 Jahren ist so ein ganz neuer Forschungszweig entstanden, den der heute 67-jährige Schwede gegründet hat. Und anführt.

Der Neandertaler in uns

Was hat dieser Neandertaler, der Pääbo so fasziniert, mit uns Menschen heute zu tun? Sehr viel. Wir tragen schließlich seine Gene in uns. Zehntausende Jahre lebten Neandertaler und Neumenschen nebeneinander. Vor mehr als 50.000 Jahren paarten sie sich, bekamen gemeinsame Kinder. So entwickelte sich die Menschheit weiter. Und noch eine weitere Urmenschen-Art mischt damals in unserem heutigen Genom mit: der Denisova.

Bis heute kommt keine andere Forschergruppe an die Präzision zum Neandertaler-Genom heran, wie Pääbos Team sie erreicht hat. Lange war schon über den Nobelpreis für ihn spekuliert worden. Mehrfach war er nominiert, unter anderem auch von sächsischen Top-Forschern vorgeschlagen worden. Nun bekommt er tatsächlich die weltweit höchste wissenschaftliche Auszeichnung.

Unfreiwilliges Bad: Vielleicht wird´s eine neue Tradition für Nobelpreisträger, dass sie von Kollegen ins Wasser geworfen werden.
Unfreiwilliges Bad: Vielleicht wird´s eine neue Tradition für Nobelpreisträger, dass sie von Kollegen ins Wasser geworfen werden. © Getty Images/Jens Schlüter

Die Welt ist seitdem für Svante Pääbo nicht mehr dieselbe. Tausende Anfragen, natürlich auch Glückwünsche – Tag für Tag. Was macht Pääbo damit? Er geht in sein Büro wie sonst und forscht und forscht. Meetings mit Kollegen, Publikationen vorbereiten. Das andere um ihn herum: am besten vergessen, sich ablenken, nicht beachten. Keine Vorträge, keine Interviews. Nicht mal schwedische Journalisten bekommen Termine bei ihm, dabei sind sie so stolz auf den aus ihrem Land stammenden Forscher.

„Das ist ja eine extreme Situation, wenn man von Tausenden Leuten täglich angeschrieben wird“, sagt Johannes Krause. Er war Pääbos erster Leipziger Doktorand, ist heute so wie Pääbo Professor und einer der Direktoren des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie. Also unterwegs in Sachen Menschwerdung. Nur, Pääbo hat derzeit deutlich mehr Stress als Krause. „Auf so etwas kann niemand wirklich vorbereitet sein.“

© Screeshot

Termin beim König

Nur um die Nobel-Woche mit Vorträgen in Stockholm und um diesen einen Termin jetzt am Sonnabend kam Svante Pääbo nicht herum. Die Audienz beim schwedischen König Carl XVI. Gustaf. Die offizielle Preisverleihung in der Stockholmer Konzerthalle. Es ist dieselbe Prozedur wie seit über 120 Jahren. Ein Frack ist vorgeschrieben, auch wie er sitzen muss. Die Schritte auf die Bühne sind vorgegeben, bis zum Schriftzug auf dem Teppich der Bühne darf Pääbo schreiten. Dort hält er inne. Dort hat er nun den Nobelpreis entgegen genommen. In der wohl aufregendsten Zeremonie seines Lebens.

Damit gerechnet hatte er selbst nie, andere schon. Mal für die Chemie, mal in der Medizin. Eigentlich passt sein Fachgebiet, die von ihm neu erschaffene Paläogenetik, in keine dieser Schubladen. Wahrscheinlich ist das genau seine Stärke. Er ist weder Zellbiologe noch Spezialist der Gehirnentwicklung, auch kein Anthropologe oder Spezialist für die Bestimmung der Urmenschen-Knochen.

Als Genetiker hat er sich in diese für ihn eigentlich fremden Fächer zusätzlich hineingedacht mit seinen Kollegen, und sie auf Spur gebracht. Er kann bestens gute von schlechten Ideen unterscheiden und behält das Große im Blick. Dennoch, selbst als Max-Planck-Direktor begegnet er auch jetzt den Doktoranden auf Augenhöhe – oft ist das auch ganz wörtlich zu nehmen. Im Foyer, im Gang, mit den anderen schwatzend oder debattierend einfach auf dem Boden sitzend, die Beine über Kreuz an der Wand lümmelnd. Legerer geht’s nicht.

Svante Pääbo hat das eigentlich Unmachbare geschafft, das komplette Neandertaler-Genom zu entziffern.
Svante Pääbo hat das eigentlich Unmachbare geschafft, das komplette Neandertaler-Genom zu entziffern. © Friedrun Reinhold/Körber-Stiftung/dpa

Die Türen der Büros sind offen, da passiert nichts im Verborgenen. Geheimnistuerei ist ihm fremd. Was Pääbo wirklich hasst, sind Intrigen, Falschheit, das Agieren hinterrücks, wohl auch als eine Folge seiner Kindheit. Er musste viele Jahre mit Unwahrheiten und Vertuschungen leben, ja groß werden. Sein Vater, Sune Bergström, war Biochemiker und ein bekannter Mann in Schweden, der vor 40 Jahren auch schon einen Nobelpreis bekam. Doch es war nicht der erfolgreiche Forscher-Vater, der ihn prägte, sondern seine Mutter, bei der er als uneheliches Kind aufwuchs. Der Vater kam an den Wochenenden zu Besuch, kurz und im Geheimen. Weder in der Schule noch sonst irgendwo wusste jemand, wessen Sohn Svante Pääbo eigentlich war.

Erst die Mumien, dann die Neandertaler

Er studierte Medizin, ägyptische Mumien interessierten ihn aber mehr. Im schwedischen Uppsala und aus dem Pergamonmuseum in Ost-Berlin bekam er Gewebeproben für genetische Untersuchungen. Es gelang ihm, erstmals Erbgut aus Zellen der Mumienpräparate zu isolieren. In der Zeitschrift „Altertum“ der Akademie der Wissenschaften der DDR berichtete Pääbo 1984 darüber. Der öffentliche wissenschaftliche Durchbruch aber gelang ihm erst ein Jahr später, als genau dieses Thema die Titelgeschichte im renommierten Magazin „Nature“ wurde. Die alten Gene hatten es ihm jetzt angetan. Sie ließen ihn wissenschaftlich nie mehr los. Spektakulär wurde es schließlich in Leipzig, als er dort 1997 sein eigenes Institut bekam. Nun waren es nicht mehr die Mumien der alten Ägypter, sondern Neandertaler, die ihn verfolgten.

„Nie waren wir der Antwort näher“, sagte Svante Pääbo 2006 im SZ-Interview. Das stimmte so aber nicht. Er war damals noch unendlich weit weg vom Erfolg. „Wir werden das komplette Genom des Neandertalers sequenzieren“, kündigte er an. Da hatte er noch so gut wie nichts an Voraussetzungen für den Erfolg.

Nicht wenige hielten ihn, na, sagen wir mal, für etwas verrückt, zumindest für größenwahnsinnig. Damals, kurz nach der Jahrtausendwende, gab es eigentlich nichts, was für einen Erfolg beim Neandertaler-Genom notwendig war. Keine Materialien und keine Technologien. Das Geld für diese Forschung war auch nur bedingt vorhanden, die benötigten Neandertaler-Knochen nur rein theoretisch nutzbar. Aus denen wollte Pääbo ja die Gene herausholen. Nach dem damaligen Stand der Technik wären für ein Genom 35 Kilogramm Knochen nötig gewesen. Niemand hätte ihm je so viel Neandertaler zum Schreddern gegeben. Mal ganz abgesehen davon, hätte die Analyse der Neandertaler-Gene mit der damaligen Technik Jahrzehnte gedauert.

Svante Pääbo hat sein Projekt trotzdem begonnen. Und jede sich bietende Chance genutzt. Erst während der Umsetzung kam eins zum anderen. In den USA hatte das Biotech-Unternehmen 454 Life Sciences eine Technologie entwickelt, die aus winzigen Bruchstücken alter DNA das Genom zusammensetzen konnte. Pääbo schloss mit dem Unternehmen einen Vertrag. Nun hatte er die erste Technologie, die ihm seinem Ziel näher brachte.

Das Unmögliche gelang. Die Geschwindigkeit der Sequenziertechnik für das Lesen des Gencodes hat sich seit Beginn der Neandertaler-Forschung bis heute verhundertmillionenfacht. Aus Jahrzehnten, die für eine Analyse nötig waren, wurden erst Monate, dann Wochen. Heute sind es nur noch wenige Stunden. Aus kiloweise Knochenmaterial wurden wenige Milligramm.

Schließlich gelingt die Sensation im Jahr 2010: Der Beweis dafür, dass der Neandertaler in uns steckt. Bis zu vier Prozent des Genoms haben wir von ihm. Jeder Mensch, dessen genetische Wurzeln außerhalb Afrikas liegen, besitzt letztlich ein Stück Neandertaler im Erbgut.

Mit Zahnbohrern und unter Reinraumbedingungen wird winzig wenig Probenmaterial aus dem Knochen der Neandertaler herausgebohrt für die Genanalyse.
Mit Zahnbohrern und unter Reinraumbedingungen wird winzig wenig Probenmaterial aus dem Knochen der Neandertaler herausgebohrt für die Genanalyse. © MPI Eva

Das Team von Svante Pääbo hatte zunächst aus einem, später aus weiteren mehr als 50.000 Jahre alten Neandertalerknochen mit Zahnbohrern einige Milligramm Pulver herausgeholt. Damit wurden dann Gen-Analysen gemacht. Etwa 100 Proteine haben die Neandertaler uns Menschen vererbt. Einige machen uns robust, stärken das Immunsystem.

Risiko-Gen bei Corona stammt vom Neandertaler

Doch während der Corona-Pandemie schauten die Leipziger Forscher gemeinsam mit Medizinern genauer hin und erkannten: Es gibt eine Genvariante, die das Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf deutlich erhöht. Auch diese stammt vom Neandertaler. Mit dieser Genvariante ist das Risiko, auf die Intensivstation zu kommen, etwa doppelt so hoch. Wer wiederum über noch ein anderes Neandertaler-Gen verfügt, der ist besser vor Coronaviren geschützt. Einige, allerdings sehr wenige Menschen haben eine Genvariante vom Neandertaler, die Schmerzen stärker empfinden lässt. Öfter indes ist ein Neandertaler-Gen noch heute vorhanden, das vor Fehlgeburten schützt. Statistisch betrachtet haben Frauen mit diesem Gen auch mehr Kinder.

Diese für heutige Menschen bedeutsamen Erkenntnisse haben für das Nobelpreiskomitee mit den Ausschlag gegeben. Mehrmals im Jahr veröffentlicht Pääbo gemeinsam mit Kollegen spektakuläre Forschungsergebnisse. Die jüngsten erst vor wenigen Wochen gemeinsam mit Forschern vom Dresdner Max-Planck-Institut für molekulare Zellbiologie und Genetik. Wieland Huttner, Direktor an diesem Institut, beschäftigt sich mit der Hirnentwicklung des Menschen. Anders als bei Neandertalern lässt sich das menschliche Gehirn beim Wachsen sehr viel mehr Zeit. Es hat die bessere Qualitätskontrolle und macht so weniger Fehler beim Kopieren und Vermehren der Nervenzellen. Eine weitere bei Neandertalern nicht vorhandene Genveränderung des Neumenschen schafft im entscheidenden Areal des Gehirns mehr Zellen.

Beim Frühstück hatte der aus Schweden stammende Leipziger Max-Planck-Direktor Svante Pääbo von der Auszeichnung erfahren. Danach war nichts mehr wie davor.
Beim Frühstück hatte der aus Schweden stammende Leipziger Max-Planck-Direktor Svante Pääbo von der Auszeichnung erfahren. Danach war nichts mehr wie davor. © dpa

Eine messerscharfe Logik

Und die funktionieren bei Svante Pääbo besonders gut. Messerscharf seien seine Logiken, wie sein Kollege und guter Freund Wieland Huttner sagt. Ebenso messerscharf sei seine Kritik, berichtet sein Kollege Johannes Krause. Pääbo möge keine Ungenauigkeit. Er hasse Wörter wie „gegenwärtig“, „grundsätzlich“ oder „gelegentlich“. „Da bohrt er genau nach und versucht den Schwachpunkt zu finden“, sagt Krause. „Was ich als Doktorand damals schätzen und fürchten gelernt habe, das war seine Detailversessenheit.“ Nie unfair, nie beleidigend, aber doch manchmal schon wie beim Verhör. Ob das wiederum mit seiner Militärzeit zu tun, möglicherweise. Da war Pääbo während des Kalten Krieges bei einer Spezialeinheit, die im feindlichen Hinterland hätte kämpfen sollen. Russisch hat er dafür gelernt. Und auch Verhörmethoden.

Im Leipziger Büro von Svante Pääbo sind die Spuren der Nobelpreis-Party noch immer sichtbar: Die Fensterbank voller Luftballons, bunte Luftschlangen liegen zwischen den Blättern einer Pflanze, über seinem Schreibtisch hängt eine bunte Wimpelkette. Über acht Wochen ist es her, als er am Frühstückstisch von seiner Ehrung erfuhr. Jetzt bleiben ihm noch drei Tage. Es wird Zeit, an der Rede zu arbeiten. Das hat er aufgeschoben. Ein wenig aufgeregt vor der Verleihung sei er – klar – aber nur vor bestimmten Teilen: Er müsse „beim Bankett drei Minuten irgendwas sagen. Und dann gibt es eine Fernsehsendung, bei der die Preisträger auf einem Sofa sitzen und diskutieren. Das macht mich am meisten nervös, weil ich nicht weiß, was dort besprochen wird.“

Nach Stockholm fährt er gemeinsam mit seiner Frau, ebenfalls Wissenschaftlerin am selben Institut. Und seine zwei Kinder sind dann dabei. Nachdem Papa den Nobelpreis entgegengenommen hat, will die Familie in ihr Ferienhaus im Süden Schwedens. Und dann, hofft Pääbo, wird alles wieder ein bisschen ruhiger um ihn herum. Denn er will einfach weitermachen wie zuvor, und so wenig wie möglich bei seiner Arbeit gestört werden.