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Sachsen, das Land der Mathe-Asse

Warum eigentlich sind Sachsens Schüler in Mathematik im Vergleich zu den Schülern in anderen Bundesländern so gut? Ein Unterrichtsbesuch bei der 8c in der Oberschule Bischofswerda.

Von Henry Berndt
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Pädagogische Freiheiten im Lehrplan: Juliane Bretschneider-Geburek lässt ihre Schüler an der Oberschule Bischofswerda mitdenken.
Pädagogische Freiheiten im Lehrplan: Juliane Bretschneider-Geburek lässt ihre Schüler an der Oberschule Bischofswerda mitdenken. © SZ/Uwe Soeder

Der geleierte Morgengruß ist mehr Running Gag als Respektsbekundung. „Guten Moooorgen, Frau Bretschneider-Geburek“, antworten die Schüler im Chor, und die so Gegrüßte muss schmunzeln. „Das möchte ich bis zur 10. Klasse durchziehen“, sagt sie. „Mit der Klasse 8c kann ich so was machen.“ Im Zimmer 319 der Oberschule Bischofswerda steht eine Blockstunde Mathematik an. Das hört sich nun gar nicht spaßig an. Mit Juliane Bretschneider-Geburek kann es aber durchaus unterhaltsam werden.

Wie so viele Mathestunden in deutschen Klassenzimmern beginnt die Stunde mit einer „täglichen Übung“. Bestimmt werden muss der Umfang eines Rechtecks, dessen Seitenlängen vorgegeben sind. Außerdem der Flächeninhalt eines Dreiecks. Insgesamt sind es sechs Aufgaben, für die es zehn Minuten Zeit gibt. An einer Uhr, die neben der Tafel hängt, zieht die Lehrerin eine rote Markierung auf, die immer kleiner wird. Dann piept es. „Bitte holt eure Korrekturstifte raus.“

Das hört sich zunächst nach einer ziemlich vertrauten Form von Wissensvermittlung an – und weniger nach Vorsprung durch Innovation. Warum eigentlich, fragt man sich da unweigerlich, sind Sachsens Schüler in Mathematik im Vergleich zu den Schülern in anderen Bundesländern dermaßen gut? Das sind sie doch, oder?

Im Unterricht von Juliane Bretschneider-Geburek müssen sich die Achtklässler selbst organisieren.
Im Unterricht von Juliane Bretschneider-Geburek müssen sich die Achtklässler selbst organisieren. © SZ/Uwe Soeder

Die Bildung ist in Deutschland Hoheitsgebiet der Länder. Im gerade veröffentlichten Vergleich durch das Institut für Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) landeten Sachsens Viertklässler im Mathe und Lesen auf dem ersten Platz. Auch der sogenannte INSM-Bildungsmonitor sah den Freistaat zuletzt wieder ganz vorn. Zum 17. Mal in Folge. Beim ersten Mal 2006 feierten wir mit Deutschlands Fußballern bei der Heim-WM unser Sommermärchen und Helene Fischer brachte ihr Debütalbum heraus. Ist das sächsische Bildungssystem – anders als die deutschen Fußballer – also einfach unschlagbar?

Bei der jüngsten Mathematikolympiade holten sächsische Schülerinnen und Schüler insgesamt sieben Medaillen. Einmal Gold, viermal Silber und zweimal Bronze. Das ist ordentlich. Wer schneller rechnet und weniger Fehler macht, der gewinnt Gold in der Olympiade. Daran gibt es nichts zu rütteln. Bei einem Wettstreit der Bildungssysteme sieht das schon etwas anders aus, denn was erfolgreiche Bildung ist, darüber gibt es höchst unterschiedliche Meinungen.

Für den INSM-Bildungsmonitor bedeutet erfolgreich in erster Linie leistungsstark und wettbewerbsfähig. INSM steht für „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, eine Lobbyorganisation, die von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektroindustrie finanziert wird. Für die sächsischen Unternehmen sollen möglichst viele schlaue Nachwuchskräfte herangezogen werden. Welche Werte den jungen Menschen in der Schulzeit vermittelt werden, wie sie sich sozial entwickeln und die Welt kennenlernen, das ist aus dieser Perspektive zweitrangig. Das sollte man beim Vergleichen im Hinterkopf behalten.

Zwei Jahre Vorsprung

Beim Bildungsmonitor wurden diesmal 98 Indikatoren in 13 Handlungsfeldern bewertet. In der Förderinfrastruktur hatte Sachsen einen klaren Vorteil: Fast 90 Prozent der Grundschüler besuchten 2020 eine Schule mit Ganztagsangeboten. Deutschlandweit ist es im Schnitt nicht mal jeder zweite. Wer an die Qualität von Bildung denkt, dem fällt aber womöglich zuerst die Schulausbildung ein, und da kommt das IQB ins Spiel, das regelmäßig bundesweit die Leistungen von Schülern testet und vergleicht. Gerade waren es die Grundschüler, für den aktuellen Bildungsmonitor wurden wiederum die Ergebnisse von Neuntklässlern herangezogen, die zuletzt 2018 durch das IQB überprüft wurden. Auch hier auf Platz eins: Sachsen.

Im Fach Mathematik erreichten die sächsischen Neuntklässler 65 Leistungspunkte mehr als das Schlusslicht Bremen, was in etwa einem durchschnittlichen Lernvorsprung von zwei Schuljahren entspricht. Während in Bremen über 40 Prozent der Neuntklässler an den Mindestanforderungen in Mathematik scheitern, sind es in Sachsen nur 14 Prozent, wobei man bedenken muss, dass ein Jahr vor dem Abschluss getestet wurde, was die Ergebnisse verzerrt. Nachteil des auf Spitzenleistungen getrimmten Systems: Überdurchschnittlich viele sächsische Schüler müssen Klassen wiederholen oder brechen die Schule gar ab.

Die Oberschule in Bischofswerda ist bei Digitalisierung und Qualitätskontrolle Vorreiter in Sachsen.
Die Oberschule in Bischofswerda ist bei Digitalisierung und Qualitätskontrolle Vorreiter in Sachsen. © SZ/Uwe Soeder

Davon will sich Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) aber nicht die Feierstimmung verderben lassen. „Ich danke der gesamten Schulfamilie, die zu diesem Spitzenplatz beigetragen hat“, sagt er. Positive Nachrichten kann der Minister gerade gut gebrauchen. Werden die Schlagzeilen doch schon seit Längerem vom chronischen Lehrermangel und damit einhergehender Überlastung der Lehrkräfte dominiert. Piwarz weiß denn auch, wem er den Pokal zu widmen hat: „Vor allem unseren Lehrerinnen und Lehrern sowie Erzieherinnen und Erziehern haben wir diesen Erfolg zu verdanken.“

In ihrer Oberschule in Bischofswerda hat Juliane Bretschneider-Geburek die Entwicklung der Lehre besonders im Blick. Seit zwei Jahren ist die 42-Jährige die Qualitätsmanagerin an ihrer Schule. An sächsischen Gymnasien gibt es diese Funktion schon länger. Für die Oberschulen gehört die Einrichtung in Bischofswerda zu den Vorreitern. Im 13-seitigen Schulprogramm ist wenig über die Jagd nach guten Noten und dafür viel über die Entwicklung von jungen Menschen zu lesen. Es geht um Verantwortung, Eigeninitiative, Toleranz, um Engagement, Empathie, Selbstständigkeit und Höflichkeit. All jene Dinge, die der Bildungsmonitor nicht abbildet.

"Lasst euch nicht abschrecken"

Die Schule im Zentrum von Bischofswerda hat eine lange Tradition. 1864 wurde das erste Gebäude eingeweiht, 1901 und 1914 folgten Erweiterungen. Zur DDR-Zeiten wurde hier in der Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule gelehrt. Heute teilen sich eine Grundschule und die Oberschule das hübsche Gebäude. An der staatlichen Oberschule werden in diesem Schuljahr 543 Schülerinnen und Schüler in 22 Klassen von 35 Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet.

In der Mathestunde in Zimmer 319 ist die tägliche Übung inzwischen ausgewertet. Kommende Woche steht die erste Klassenarbeit an, erfahren die Schüler. Bevor es an die gezielte Vorbereitung geht, kommt noch neuer Stoff dazu: das Umstellen der Formeln zur Berechnung von Umfang und Flächeninhalt bei Dreieck und Quadrat. „Ich weiß, wenn die Buchstaben in die Mathematik kommen, geht das Chaos los“, sagt Juliane Bretschneider-Geburek, „aber lasst euch nicht abschrecken.“

Nach und nach kitzelt sie die richtigen Schritte aus ihren Schützlingen heraus:

„Diego, meldest du dich?“ – „Nein.“ – „Schade, ich würde so gern deine Stimme hören.“

„Willy, Mathe ist keine Ratestunde.“

„Sehr schön erklärt, Maximilian.“

Juliane Bretschneider-Geburek lehrt seit acht Jahren Mathematik und Ethik an der Oberschule Bischofswerda.
Juliane Bretschneider-Geburek lehrt seit acht Jahren Mathematik und Ethik an der Oberschule Bischofswerda. © SZ/Uwe Soeder

Jetzt werden die Merkhefter aufgeschlagen und die Lösungswege abgeschrieben. Weit über die Hälfte der 90-minütigen Einheit ist vorbei. „Ich könnte das alles viel schneller durchziehen“, sagt die Lehrerin. „Ich könnte alles vorgeben. Dann würde ich aber auf den Denkprozess der Schüler verzichten.“

Juliane Bretschneider-Geburek hat an der TU Dresden Mathematik und Ethik auf Lehramt studiert. Nach ihrem Referendariat lehrte sie sieben Jahre an einer Dresdner Oberschule und zog nach der Geburt ihres Sohnes zurück in die Heimat aufs Land. Seit acht Jahren lehrt sie an der Oberschule Bischofswerda. Sie weiß noch genau, warum sie damals Lehrerin geworden ist. „Die Antwort liegt in den Augen und Herzen der Schüler, wenn sie sich mitreißen lassen und begeistert sind von Unterricht, Fragen stellen, eigene Ideen entwickeln und diese selbstbewusst präsentieren.“ Gerade die Mathematik sei ein Feld, das nicht nur in der Schule zu einer bestimmten Stunde am Tag in den Mittelpunkt rücke, sondern immer und überall gebraucht werde. „Wie könnten wir uns eine Welt ohne Zahlen erschließen?“

Nun ist es Zeit, dass sich die 8c für die Klassenarbeit fit macht. Doch Juliane Bretschneider-Geburek gibt nicht einfach Übungen vor, auch Hausaufgaben verteilt sie nicht. Stattdessen sollen die 27 Schüler ihre Vorbereitung selbstständig organisieren und strukturieren. Sie sollen entscheiden, in welchen Bereichen sie noch Probleme haben, ob sie sich Dutzende Rechenaufgaben vorknöpfen oder lieber noch einmal in ihren Hefter schauen. An der Tafel hängen farbige Zettel mit Übungsaufgaben in verschiedenen Schwierigkeitsgraden. Auch Partnerarbeit ist erlaubt. Den Rest der Stunde und die gesamte nächste Stunde haben die Schüler dafür Zeit.

Sie kennen dieses Prinzip von ihrer Lehrerin. Dennoch schauen sich einige nun zunächst ein wenig fragend um, kratzen sich am Kopf. Nach und nach findet jeder seinen Einstieg. Die Freunde Jadon und Luis sitzen in der Mitte ganz hinten und haben sich eben noch mit ihren Ellbogen bearbeitet. „Die Gleichungen mit Klammer können kompliziert sein“, sagt Jadon. Deswegen fängt er dort an.

Laptop und Beamer gehören an der Oberschule Bischofswerda zur Grundausstattung.
Laptop und Beamer gehören an der Oberschule Bischofswerda zur Grundausstattung. © SZ/Uwe Soeder

Die Powerpointpräsentation, die an die Wand über die Tafel geworfen wird, fasst alle wichtigen Lerninhalte zusammen. Beamer und Laptop gehören hier zur Grundausstattung jedes Klassenzimmers. Über Wlan haben die Lehrer alle Möglichkeiten, ihren Unterricht vorzubereiten und zu managen. Eine solche technische Ausstattung ist an sächsischen Schulen keinesfalls selbstverständlich. Im Punkt „Digitalisierung“, der in diesem Jahr neu in den Bildungsmonitor aufgenommen wurde, landete Sachsen nur auf Rang 12. Dabei weist Petra Müller, Vizevorsitzende des Sächsischen Lehrerverbandes, darauf hin, dass es in diesem Punkt nicht nur um die Ausstattung gehen darf. „Es reicht nicht, jedem Schüler ein iPad hinzulegen“, sagt sie. Vielmehr müssten Kompetenzen im Umgang mit digitalen Medien trainiert werden.

Die entscheidende Frage ist noch immer unbeantwortet: Warum bringt das sächsische Bildungssystem offensichtlich leistungsfähigere Schüler hervor, als das in Bremen oder Niedersachsen? Eine erste sinnvolle Erklärung sieht Petra Müller in der mathematisch-naturwissenschaftlichen Schultradition der DDR. An den Polytechnischen Oberschulen lag ein Schwerpunkt auf genau diesen Fächern.

Heute ist auffällig, dass vor allem die CDU-regierten Bundesländer beim Bildungsmonitor regelmäßig auf den vorderen Rängen landen. Die Unions-Hochburgen Sachsen und Bayern führen, dahinter liegt Thüringen, das bis 2014 von CDU-Bildungspolitik geprägt wurde. In Bremen, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg, die alle schlecht abschnitten, dominierte dagegen in den vergangenen Jahrzehnten meist die SPD. Bis heute taucht auf sächsischen Stundenplänen mehr Mathematik auf als anderswo. In vielen Ländern ist Mathe kein Pflichtfach im Abitur und anderen Abschlussprüfungen – in Sachsen schon. Die vergleichsweise starken Ergebnisse der sächsischen Schüler bei Leistungsvergleichen kommen daher nicht überraschend.

Raum für pädagogische Freiheit

Für Petra Müller vom Lehrerverband ist vor allem die Kontinuität der Schlüssel zum Erfolg. „Die Schularten, die 1992 entstanden, sind bis heute erhalten geblieben und konnten sich entwickeln“, sagt sie. So habe sich auch die Oberschule, die früher Mittelschule hieß, über die Jahre von ihrem schlechten Image als Resterampe befreien können. Juliane Bretschneider-Geburek kennt zwar die anderen 15 Bildungssysteme in Deutschland nicht, schwärmt aber vom sächsischen Weg: „Sachsens Lehrpläne sind klar strukturiert, einheitlich, verständlich aufgebaut, bieten Vernetzungsmöglichkeiten zwischen den einzelnen Fächern und Raum für pädagogische Freiheit“, sagt sie. Diesen Freiraum nutzt sie möglicherweise stärker als viele ihrer Kolleginnen und Kollegen.

Die Noten in der Klassenarbeit und auf dem Zeugnis sind für sie mehr Fingerzeig als Urteil. Vor allem möchte sie ihren Schülern helfen, zu selbstständig denkenden und sozialen Menschen heranzureifen. Für sie ist es das, was am Ende zählt.