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Wie gefährlich wäre eine Durchseuchung mit Omikron?

Die Regierung ändert ihre Corona-Strategie. Eine generelle Eindämmung der Pandemie scheint nicht mehr möglich. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

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Zahlreiche Menschen mit Mund-Nasen-Schutz sind auf einer Einkaufsmeile in Berlin unterwegs.
Zahlreiche Menschen mit Mund-Nasen-Schutz sind auf einer Einkaufsmeile in Berlin unterwegs. © Christophe Gateau/dpa (Symbolbild)

Von Dana Bethkenhagen, Richard Friebe, Ingo Bach und Farangies Ghafoor

Die massive Corona-Welle mit der Omikron-Variante führt zu immer neuen Rekordzahlen an Neuinfizierten. Laut Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach könnte dieser Wert in Deutschland noch 400.000 Fälle pro Tag erreichen. Trotzdem sagte der SPD-Politiker am Freitag in Berlin: "Wir haben die Omikron-Welle gut unter Kontrolle." Das Ziel, mit so wenig schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen durchzukommen, sei bisher erreicht worden.

Der Präsident des Robert Koch-Instituts, Lothar Wieler, erklärte, man könne in der jetzigen Phase "aufgrund der extrem hohen Fallzahlen eine Eindämmung nur noch auf die wichtigsten Bereiche" konzentrieren. Die Strategie ziele nun darauf ab, in erster Linie vulnerable Menschen vor einer Infektion zu schützen.

Was das für Kinder und Jugendliche bedeutet, bei denen die Sieben-Tage-Inzidenz deutlich über dem Bundesdurchschnitt liegt, zeigte Jana Schroeder auf. An den Schulen passiere derzeit "eine Durchseuchung der Kinder", wurde die Chefärztin am Institut für Krankenhaushygiene und Mikrobiologie im nordrhein-westfälischen Klinikverbund Mathias-Spital am Freitag vom "Spiegel" zitiert: "Jeder in der Schule wird sich infizieren, das lässt sich, so scheint es, nicht mehr aufhalten."

Was ist die neue Strategie der Regierung?

"Die Summe der Fallzahlen ist nicht mehr das Entscheidende", sagte Wieler am Freitag in Berlin. Man müsse jetzt auch auf die Krankheitslast und die Krankheitsschwere schauen. Die bislang verfolgte Corona-Strategie der generellen Eindämmung der Pandemie, des Schutzes und der Abmilderung, könne so nicht mehr weitergeführt werden, sagte der RKI-Chef. "Wir befinden uns in einer neuen Phase der Pandemie."

Lauterbach betonte, die Regierung verfolge das Ziel, mit so wenigen schweren Krankheitsverläufen und Todesfällen wie möglich durch die Omikron-Welle zu kommen. Ein Erfolg wäre, bei den hohen Fallzahlen wenig Sterbefälle zu haben. In Deutschland müsse besonders die vulnerable Gruppe der Älteren geschützt werden, weil es so viele Ungeimpfte gebe, beispielsweise viermal so viele wie in Großbritannien und dreimal so viele wie in Italien.

Wie gefährlich ist eine Durchseuchung für Kinder?

Für kleine Kinder gibt es keine Impfempfehlung bisher, auch bei älteren Kindern sind die Impfraten bisher vergleichsweise niedrig. Kinder haben deshalb – und weil Omikron besonders ansteckend ist und sich Kinder häufig und lang relativ eng mit anderen Menschen zusammen aufhalten – ein besonders hohes Ansteckungsrisiko.

Bekannt sind die Befunde, dass Kinder seit Beginn der Pandemie zu den durch alle bisherigen Varianten im Mittel weniger Gefährdeten gehören und dass die Omikron-Variante insgesamt im Mittel weniger schwere Verläufe verursacht. Dem entgegen stehen Daten, die unter anderem aus Südafrika und Teilen der USA stammen und zeigen, dass zumindest in absoluten Zahlen die Hospitalisierungen von Kindern stark zugenommen haben. Das könnte aber allein an der hohen Durchseuchung liegen.

Die Frage, ob Kinder im Mittel nach Infektion mit der Omikron-Variante vielleicht tatsächlich sogar schwerere Verläufe zu erwarten haben als bei früheren Varianten, ist bislang unmöglich zu beantworten. Es gibt aber Fachleute wie etwa den Gesundheitswissenschaftler Eric Feigl-Ding von der Federation of American Scientists, die hierfür Anzeichen sehen.

Sicher ist, dass auch Kinder nach Infektion mit der Omikron-Variante schwer erkranken können und dass mehr Infektionen auch mehr schwere Erkrankungen bedeuten. Hinzu kommt, dass die optimale Behandlung der Betroffenen schwerer wird, desto mehr bei unveränderter Personal- und Bettensituation im Krankenhaus aufgenommen werden müssen.

Bei älteren Kindern sind die Impfraten bisher vergleichsweise niedrig.
Bei älteren Kindern sind die Impfraten bisher vergleichsweise niedrig. © Jorge Gil/EUROPA PRESS/dpa (Symbolbild)

Ein anderer Aspekt: Bei früheren Varianten erkrankten nach der akuten Infektion Kinder teilweise an ernsthaften körperweiten Gefäßentzündungen. Dieses als PIMS bezeichnete, schwerwiegende und meist intensivmedizinisch behandelte Syndrom wurde in Deutschland bislang etwa 600 Mal gemeldet. Wie die Erkrankungsrate hier bei Omikron ist, ist noch unbekannt, denn das Syndrom tritt erst Wochen nach der akuten Infektion auf.

Zu den direkten Risiken der Infektion kommen zudem auch indirekte, etwa aufgrund von pandemiebedingten Stresssituationen in Schule, Kita und privatem Umfeld, mangelnder Betreuung und trotz objektiv erschwerter Lernbedingungen weiterhin herrschendem Leistungsdruck.

Was bedeutet eine Durchseuchung für besonders Vulnerable?

Menschen mit einem geschwächten Immunsystem bauen einen geringeren – und manchmal auch gar keinen relevanten – Immunschutz nach der Impfung auf. Die Immunantwort kann geschwächt sein durch Krebsbehandlungen, Autoimmunerkrankungen, Transplantationen und vieles mehr. Meist ist der Grund, dass diese Personen auf Medikamente, die das körpereigene Abwehrsystem unterdrücken – etwa, um Abstoßungsreaktionen zu vermeiden – angewiesen sind.

Trotz Impfung bilden sie zu wenige Antikörper und Abwehr-Zellen. Eine Studie mit Transplantierten, die zweifach mit einem mRNA-Impfstoff geimpft wurden, ergab ein 82-fach höheres Ansteckungsrisiko und ein 485-fach höheres Risiko für einen sehr schweren Verlauf im Vergleich zur geimpften Allgemeinbevölkerung.

Omikron ist für Immungeschwächte derzeit besonders problematisch, weil es hoch ansteckend und weit verbreitet ist. Zudem geht es zwar im Mittel mit "milderen Verläufen" einher. Dass dies in relevantem Maß auch für Menschen mit einer geschwächten Immunabwehr gilt, ist aber unwahrscheinlich. Booster-Impfungen können laut Studien zumindest bei einem teil der Betroffenen helfen, die wenigen Zellen, die Antikörper bilden können, zu stimulieren und sich vermehren zu lassen – und so doch noch einen relevanten Immunschutz aufzubauen.

Die amerikanische Gesundheitsbehörde stellt Immungeschwächten sechs Monate nach der ersten Boosterimpfung eine weitere in Aussicht. In Deutschland ist dazu noch nichts bekannt. Eine Maßnahme, die auch von einer Fachgruppe des Robert-Koch-Instituts empfohlen wird, ist eine Antikörpertherapie. Den Betroffenen werden die Antikörper, von denen sie zu wenig bilden, zugeführt. Allerdings ist die Datenlage widersprüchlich, wie gut diese gegen Omikron wirken.

Hochrisikopatient:innen sind auch indirekt von höherer Hospitalisierung betroffen. Wichtige Operationen werden verschoben, weil Bett- und Pflegekapazitäten von Covid-19-Kranken beansprucht werden. Oder Patienten entscheiden sich aus Angst vor Infektion im Krankenhaus selbst gegen solche oft eigentlich lebensnotwendige Eingriffe.

Zudem könnte eine hohe Durchseuchung auch dazu führen, dass es in Zukunft noch mehr schwer organgeschädigte und Personen mit beeinträchtigtem Immunsystem geben wird: "Leber und Herz können Schäden davontragen und es ist zu befürchten, dass nach der Pandemie mehr Menschen eine Organtransplantation brauchen”, sagt Mario Schiffer, Nierenspezialist, in einer Pressemitteilung der Deutsche Transplantationsgesellschaft. Dies würde "den jetzt bereits bestehenden, eklatanten Organmangel noch weiter verschärfen".