"Wir hatten so viele Träume" - drei Ukrainerinnen zwischen Zorn und Zukunft
Zum Tee gibt es Konfekt Marke "Roshen". Die Süßigkeiten haben ihr die Eltern aus der Ukraine geschickt, erzählt Yevheniia, indem sie die Schokoröllchen anbietet. "Das schmeckt sehr gut, hm?" Ein Satz, der beiläufig klingt. Für Yevheniia ist er eine Errungenschaft aus hunderten Stunden Integrationskurs. Und sie ringt weiter mit der deutschen Sprache. Man muss ihr nicht mit angestaubtem Schulrussisch kommen. "Ich will auf Deutsch sprechen", sagt sie. "Das ist besser für mich."
Yevheniia Parchomovych, 40 Jahre, studierte Bankerin, wohnte einmal in Charkiw in der Ostukraine. Jetzt wohnt sie in Sebnitz, in der dritten Etage einer ehemaligen Kunstblumenfabrik. Sie wohnt hier mit der ganzen Familie. Oleksandra und Kseniia, die siebenjährigen Zwillingsmädchen, sind gerade unterwegs, zum Tanzkurs. Ihr Mann Serhii passt im Wohnzimmer auf Vladyslav auf, den dreijährigen Jüngsten. Yevheniia sitzt in der Küche. Sie hat Freundinnen eingeladen. Zwei Jahre Krieg in der Ukraine, das ist das Thema.
Ein Thema, das zu besprechen es den traurigen Jahrestag des russischen Überfalls am 24. Februar 2022 gar nicht braucht. Auch wenn die Frauen weit weg sind vom Krieg: In ihren Gedanken ist er immer ganz nah. Und auch in ihren Handys. Bilder verwüsteter Landschaften und verbrannter Orte gibt es dort zuhauf, und Bilder des verlorenen Glücks. Auf einem Bild sitzt Nataliia mit Mann und Kindern auf einer Wiese unter einem Baum. Heute ist all das vermintes Niemandsland, sagt sie. "Ich denke, es ist wie eine Wüste."
Neun Monate Angst unter der Besatzung
Nataliia Bukharina, 38, Tochter eines Arztes, gelernte Finanzwirtin, lebte in Nowa Kachowka am Dnipro. Als vorigen Sommer dort der Staudamm in die Luft flog - für sie ist es ausgemacht, dass die Russen den Anschlag verübten - war sie längst geflohen, mit Mann, drei Kindern, Vater, Mutter, Oma und der Katze. Fünf Monate lebte die Familie in Bad Schandau, in einer Datsche neben den Bahngleisen. Seit September 2022 ist Sebnitz die neue Heimat.
Für die Flucht hatte man damals kaum mehr eingepackt als Papiere und Geld. Nataliia dachte, dass die Russen in wenigen Tagen vertrieben sein würden. "Unser Volk ist sehr, sehr tapfer." Auch in Deutschland glaubte sie ein Jahr lang an die baldige Rückkehr in die Ukraine. In ihr sträubte sich etwas, Deutsch zu lernen. "Ich sah mich nicht hier."
Inzwischen denkt sie anders. Ohne Deutsch hat der Alltag zu viele Schranken. Und ihr altes Zuhause in Nowa Kachowka wäre, selbst wenn der Krieg morgen enden würde, kein Ort zum Leben für die Familie. Die Stadt wurde beim Dammbruch überflutet. Straßen, Schulen, die ganze Infrastruktur ist beschädigt. Und ohne den Stausee fehlt auch das Wasser für die Felder. Das Land bietet kein Auskommen mehr für seine Bewohner, sagt Nataliia. "Es wird die nächsten Jahre ein leeres Territorium sein."
Anastasiia Matchyshyn, 29, die auf der anderen Küchentischseite sitzt, wohnte auch am Staudamm, gegenüber von Nowa Kachowka, im Ort Kosazke. Sie ist Vorschulerzieherin. Der Kindergarten, in dem sie jahrelang beschäftigt war, ist heute eine Ruine. Sie selbst hat neun Monate unter russischer Besatzung gelebt. Raketentrümmer regneten immer wieder auf ihr Viertel, Kadyrow-Söldner machten Razzia. Schließlich gelang der Familie die Flucht - via Krim, Russland, Belarus und Polen - 4.000 Kilometer im Bus.
Zerstochene Reifen und kaputte Scheibenwischer
Diesen Monat fängt Anastasiia ihren Deutschkurs an. Vielleicht, das ist ihre Hoffnung, kann sie in zwei, drei Jahren in einem deutschen Kindergarten arbeiten. Yevheniia hat den Grundkurs bereits hinter sich und will nun Aufbaukurse belegen. Ihr Ziel ist ein Job in der Buchhaltung oder in einer Bank. Auch Nataliia will nach der Sprachschule eine Beschäftigung haben, "wo ich meine Talente und Fähigkeiten einbringen kann".
Die Freundinnen haben ein Ziel und den festen Willen, darauf zuzusteuern. Und sie haben Leute, die ihnen helfen. "Ich habe sehr viele gute deutsche Menschen getroffen", sagt Nataliia. Aber es gibt auch andere. Menschen, die die Scheibenwischer an ihrem Auto demolierten und einen Aufkleber darauf pappen: "Bitte flüchten Sie weiter!" Yevheniia erzählt von zerstochenen Reifen an ukrainischen Fahrzeugen.
Schock bei der Anti-Asyl-Demo
Die drei wissen, dass einige hier schlecht von den Ukrainern denken, dass sie gekommen seien, um reich zu werden, ein gutes Leben zu genießen. Nataliia macht das zornig. Sie hatte doch ein gutes Leben, sagt sie, in der Ukraine. Sie hatte sich ein eigenes Business aufgebaut und das neue Haus für die Familie war im Rohbau fertig. Dann kamen die Russen. "Wir sind geflohen, um unser Leben und das unserer Kinder zu retten."
Dann zeigen die Frauen Handybilder von einer Demo. Im August 2023 liefen mehrere Hundert Menschen unterm Banner der Freien Sachsen gegen die "Asylflut" durch Sebnitzer Straßen. Dabei trugen sie auch Schilder in kyrillischer Schrift: "Frieden mit Russland." Aus Angst vor den Marschierern verkrochen sich Anastasiias Kinder hinter dem Sofa. Nataliia, die von ihrem Balkon aus das Geschehen mit ansah, kamen die Tränen.
Frieden schließen mit Russland, verhandeln mit Putin - halten die Frauen das für möglich? Nein. Der Weg zum Frieden, das sei, unglücklicherweise, der Krieg. Putin hat sich entschlossen, ein Imperator zu sein, sagt Nataliia. Würde man ihm ein Stück der Ukraine überlassen, würde er bald noch mehr wollen. "Mit dieser Person zu sprechen, ist sinnlos", sagt sie. "Er versteht nur Gewalt."
Der Groll auf Russlands Herrscher und seine Truppen ist grenzenlos. Weil sie alles kaputt gemacht haben. "Wir hatten so viele Träume", sagt Nataliia. Dreißig Jahre hat sie in der Ukraine gelernt und gearbeitet, damit diese Träume wahr werden. Hier, in Deutschland, ist das alles unbrauchbar. Man ist ein Niemand. "Warum haben die das gemacht mit meinem Leben", fragt sie sich. "Warum muss ich wieder ganz von vorn anfangen?"
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Immerhin: Die Frauen wissen ihre Familien in Sicherheit. Auch ihre Männer, die mit nach Deutschland gekommen sind. Väter kinderreicher Familien durften das Land legal verlassen. Ob die Männer kämpfen gehen sollen, sei trotzdem mehr als einmal Thema gewesen, sagen alle drei. Und alle drei sind dagegen. Dann müssten sie allein für die Kinder sorgen und für die teils mit geflüchteten Eltern und Großeltern. In der Fremde sind die Alten fast genauso hilflos wie die Kleinsten.
Die Sebnitzer Ukrainer helfen der Front auf ihre Art. Sie sammeln Geld, haben 40 Schlafsäcke für die Soldaten gekauft und ein Nachtsichtgerät und all das an die Front geschickt. Ein kleiner Tropfen im riesigen Ozean dessen, was die Truppe braucht, sagt Nataliia. Vor allem braucht sie mehr Waffen, sagt Yevheniia. Auch deutsche Waffen. "Wir müssen Putin stoppen", sagt sie. "Alle zusammen."