92-Jähriger erinnert sich: Als sich der Industriekran in der Hafencity Dresden noch drehte

Dresden. "Sein Kran" sei das, sagt er immer wieder. Dabei ist das viel weniger als Besitzanspruch gemeint, sondern vielmehr ist es ein liebevoller Titel. Der Industriekran am Neustädter Hafen hat sich ins Gedächtnis von Rudolf Dreßler gebrannt. Dass dieser Kran nun saniert wird, berührt den 92-Jährigen.
Bei Sächsische.de las der Dresdner, dass die beiden Inhaber von "Die Hafenmeister", Kai Roscher und Tino Fleischer, den alten Industriekran sanieren wollen. Für einen symbolischen Euro haben sie das Industriedenkmal, einen Verladekran als letztes erhaltenes Relikt des ehemaligen Hafens, gekauft und wollen diesen umfassend sanieren. Rudolf Dreßler meldete sich bei den Männern, um ihnen seine Geschichte zu erzählen.
Der 92-Jährige sitzt gut gelaunt in seiner Löbtauer Wohnung, in der er sich allein versorgt. Nur die Hitze, die mache ihm ein bisschen zu schaffen, sagt er. Er ist nicht mehr gut zu Fuß, ein Rollator hilft beim Gehen. "Die rechte Seite macht nicht mehr gut mit, aber der Kopf ist geblieben", sagt er und blickt schelmisch drein. Den Industriekran, "seinen Kran", hat er schon viele Jahre nicht mehr besucht. Doch die Erinnerungen, die sind geblieben.
Bomben auf Dresden: Arbeitslos nach dem Zweiten Weltkrieg
Bevor Rudolf Dreßler seine Arbeit am Kran begann, erlebte er die Zerstörung seiner Heimatstadt. Am 13. Februar 1945 wird Dresden erstmals bombardiert. Die Bomben vernichten das eng bebaute Zentrum und verwüsten die umliegenden Stadtteile, bis zu 25.000 Menschen verlieren ihr Leben. Am 17. April fallen die letzten Bomben auf Dresden. Wenig später, am 8. Mai, endet der Zweite Weltkrieg in Europa nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht.
Der damals 14-Jährige hat vor den Angriffen eine Ausbildung als Rundfunkbauer bei Mende Radio begonnen. Doch nach den Bombenangriffen ist davon nicht mehr viel übrig. Auch der Vater verliert seine Arbeit, die acht Jahre ältere Schwester ebenso. Aber alle leben.
Sein Nachbar arbeitet im Hafen, sagt, dort gebe es Arbeit. Also läuft der 14-Jährige im Juli 1945 morgens los. Von Löbtau geht er eine Stunde zu Fuß an den Neustädter Hafen. "Das war man eben gewöhnt. Heute würde das keiner mehr machen", sagt er. Zu diesem Zeitpunkt ist der kleine Hafen, der offiziell zum Friedrichstädter Hafen auf der anderen Elbseite gehört, ein Umschlagplatz für Güter aller Art. Mithilfe des Krans werden diese auf die Schiffe gehoben.
Harte körperliche Arbeit am Neustädter Hafen in Dresden
Der Industriekran wird mit Dampf betrieben. Dafür muss der damals 14-Jährige Kohlebriketts schippen und in einen Kasten befördern, der höher ist, als er selbst. "Das habe ich nur einen Tag gemacht, es war einfach zu schwer", erinnert sich Rudolf Dreßler. Auch schwere Zementsäcke schleppt er mit seinen bloßen Händen, schleppt Schienen-Teile. Das Areal ist rund um die Uhr in Betrieb, die Schichten sind immer zwölf Stunden lang - von 6 bis 18 Uhr, von 18 bis 6 Uhr.
Ein kleines Heftchen mit vergilbtem Umschlag bescheinigt, dass Rudolf Dreßler mehrere Monate am Neustädter Hafen gearbeitet hat. "Beitragsquittungsbuch" steht auf der ersten Seite, die Schrift ist krakelig, die Stempel sind fast vergilbt. Vor Kurzem erst musste der 92-Jährige dieses Heftchen herauskramen und für die Rente vorlegen. Es beweist seine Arbeit, schwarz auf weiß. Diese Bürokratie der Deutschen, berühmt-berüchtigt und belächelt, zeigt sich hier in einem besonderen Ausmaß. Und tatsächlich, das Büchlein von 1945 bringt Rudolf Dreßler "ein bisschen mehr" Rente.

Auf Geld warten die Hafenarbeiter damals mitunter vergebens. 10,80 Reichsmark stehen ihnen pro Monat zu, wie das Büchlein quittiert. Doch es gibt keine festen Zahltage, nicht immer gedrucktes Geld. Mitunter gewährt man den Arbeitern ein sogenanntes Deputat, sodass der Lohn gegen Nahrung getauscht werden kann. "Meine Mutter ging dann mit meinem Ausweis in die Zille in Friedrichstadt und holte Proviant", erzählt Rudolf Dreßler.
In den Tagen und Monaten nach den Bombenangriffen sind Nahrung und Waren des täglichen Bedarfs Mangelware. Rudolf Dreßler erinnert sich, wie die Hafenarbeiter einige Stücke Butter in Munitionskisten vor den sowjetischen Besatzern verstecken - mit Erfolg.
"Das sind Erlebnisse, die man nicht vergisst"
Doch es gibt auch helle Momente. Einmal, da erinnert sich Rudolf Dreßler genau, rutscht eine Ladung vom Kran. Der Diensthabende bekommt den Haken, der vorn am Kranarm befestigt ist, gegen den Kopf. "Da haben wir so gelacht", sagt er und lacht noch heute, 78 Jahre später, herzlich darüber. "Das sind Erlebnisse, die man nicht vergisst." Sie hatte eben auch etwas Gutes, diese kurze, aber prägende Zeit, sagt er. Nach nur sechs Wochen wird der 14-Jährige vom Neustädter Hafen an den Friedrichstädter Hafen versetzt.
Wie viel ihm diese Zeit nach so vielen Jahren noch bedeutet, zeigt sich, als "Die Hafenmeister" ihn einladen, mit seiner Enkeltochter das neu entstandene Areal Hafencity mit Gastronomie, Bootssteg, Event-Bereich und natürlich dem Industriekran zu besuchen. Allein beim Gedanken daran kommen Rudolf Dreßler die Tränen. "Schön, dass ich das noch erlebe", sagt er.
Für die beiden "Hafenmeister" in der Leipziger Vorstadt ist die Sanierung Herzensprojekt und zugleich eine Mammutaufgabe, für die sie bereits nach Fördermitteln und Spenden grasen. Über 100.000 Euro wird die Sanierung insgesamt kosten. Ihnen wurde bereits eine Förderung Sachsens zugesagt, auch private Sponsoren setzen sich ein. Auch Rudolf Dreßler will etwas dazugeben. Ist alles fertig, soll der Kran nachts angestrahlt werden und ein Baumstriezel-Stand einziehen. Der Steg könnte für kleine Konzerte und Lesungen genutzt werden.
"Die Historie soll für die Dresdner greifbar bleiben", findet Kai Roscher, einer der "Hafenmeister". Eigentlich sei die ganze Idee "wahnsinnig", aber an Geschichten wie der von Rudolf Dreßler zeige sich, welche Bedeutung der Industriehafen einst hatte - nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht, sondern auch in emotionaler. Und die "Hafenmeister" haben sich noch eine weitere Idee einfallen lassen: Eine kleine Plakette am Kran mit Dreßlers Namen soll für die Ewigkeit bleiben. Es ist und bleibt eben "sein Kran".