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Antisemitische Straftaten in Dresden haben drastisch zugenommen

Die Zahl der antisemitischen Straftaten in Dresden ist in diesem Jahr drastisch angestiegen. Woran das liegt – und wie Jüdinnen und Juden die Lage erleben.

Von Theresa Hellwig
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Immer mehr antisemitische Straftaten gibt es in Dresden. Wie erleben Jüdinnen und Juden die Lage?
Immer mehr antisemitische Straftaten gibt es in Dresden. Wie erleben Jüdinnen und Juden die Lage? © Symbolfoto: dpa/Sebastian Kahnert

Dresden. Nahezu nebenbei erwähnt Avery Gosfield die Sprüche, die sie immer wieder zu hören bekommt. Oftmals sogar von Freunden. Sie müsse doch gut mit Geld umgehen können, sie dürfe kein Schweinefleisch essen – bissige Bemerkungen nebenbei, die auf ihre Herkunft abzielen, erlebe sie ständig, sagt die in Dresden lebende Amerikanerin und Jüdin. "Mikro-Aggressionen" nennt die Ex-Direktorin der Jüdischen Woche Dresden diese Aussagen, die sie im Gespräch erst spät erwähnt, weil sie ihr bereits belanglos erscheinen.

"Einmal, als ich noch bei der Jüdischen Woche war, wurde in einem Veranstaltungskalender für Dresden ein Konzert angekündigt, aber ohne Preisangabe, weil der noch nicht entschieden war", erinnert sie sich. "Als der Eintrittspreis von 18 Euro veröffentlicht wurde, rief mich der Redakteur des Guides an und sagte, wir sollten vorsichtiger sein; vor allem, weil es sich um ein jüdisches Festival handelte".

Sicher: Mikro-Aggressionen wie diese zählen in die Statistik nicht mit hinein. Und auch kaum die "Sieg Heil"-Rufe, die Avery Gosfield nach einer Pegida-Demonstration neulich vor ihrem Wohnhaus hörte. Das Singen der Zeilen "Deutschland über alles", zu denen einst die Nazi-Truppen in vielen Ländern Europas einmarschierten. Dabei sind das zusammengenommen die Situationen, die Avery Gosfield dazu bringen, zu sagen: "Da habe ich als Jüdin Angst".

Avery Gosfield, Ex-Direktorin der Jüdischen Woche in Dresden, erlebt Antsemitismus höchstens von rechts.
Avery Gosfield, Ex-Direktorin der Jüdischen Woche in Dresden, erlebt Antsemitismus höchstens von rechts. © Nikolay Borudin

Nein, in die Statistik zu antisemitischen Straftaten zählen weder die Aggressionen noch die rechtsextremen Parolen, die die Jüdin Avery Gosfield an die Nazi-Zeit erinnern. Und trotzdem zeigt ebenjene Statistik des Landeskriminalamts, dass in Dresden die Zahlen der antisemitischen Straftaten in diesem Jahr drastisch angestiegen sind.

So gab es 2018 insgesamt 25 Fälle, 2019 waren es 29, 2020 ging es um 23 Fälle. 2021 verzeichnete das LKA 29 antisemitische Straftaten in Dresden, 2022 waren es 24. In diesem Jahr lag die Zahl nur bis einschließlich November gezählt bereits bei 55 Fällen.

Einen sprunghaften Anstieg gab es dabei in diesem Jahr im Oktober; zeitgleich gesehen als zum Beginn des Nahostkrieges. Allein 22 der Taten passierten in dem Monat, weitere 14 kamen im November hinzu. Zusammengenommen macht das mehr als die Hälfte aller antisemitischen Straftaten in Dresden im Jahr 2023 aus. Auch das LKA sieht einen Zusammenhang zwischen dem Nahostkrieg und dem Anstieg der Zahlen.

Mehr antisemitische Straftaten seit Nahostkrieg

Nicht nur der zeitliche Zusammenhang sei auffällig. Auch die Kategorien, in die das LKA die jeweiligen Taten einordnen, zeigen einen Zusammenhang. So ordnete das LKA im Jahr 2023 bisher zehn Taten dem Spektrum "ausländische Ideologie" zu. Sieben fielen in die Kategorie "religiöse Ideologie". Mehr als sonst.

Das erste Spektrum meint, dass religiöse Ideologie entscheidend für die Tat war – das zweite, dass eine aus dem Ausland stammende Einstellung des Täters, die nichts mit Religion zu tun hat, ausschlaggebend für die Tat ist. In beiden Kategorien fallen auch Taten, die im Zusammenhang mit dem Nahostkrieg stehen, erklärt das LKA. So geht es beispielsweise um territoriale Fragen, aber auch um religiöse Parolen.

Das ist aber nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Zusammengenommen machen diese beiden Spektren im gesamten Jahr 2023 nämlich nur 17 der 55 antisemitischen Straftaten in Dresden aus.

"Wenn wir Antisemitismus erleben, dann in der Regel von Rechtsextremen – nicht von Muslimen", sagt Avery Gosfield - und das zeigen auch die Zahlen des LKA. 36 der insgesamt 55 Fälle kommen laut dem LKA im Jahr 2023 aus dem rechten Spektrum.

"Wenn wir Antisemitismus erleben, dann in der Regel von Rechtsextremen"

Was also sind das für Taten, die das LKA meint? Oftmals, so erklärt es LKA-Sprecher Kay Anders, geht es um Postings in den sozialen Medien. So habe beispielsweise eine Person ein Bild einer Gaskammer gepostet und dazu geschrieben: "Atemlos durch die Nacht". Aber auch Rufe auf Demonstrationen gehen in die Statistik ein. So rief ein Versammlungsteilnehmer die Parole "Tot Tot Israel", berichtet Kay Anders.

Weitere Beispiele, die er nennt, sind die Formulierung: "Dreht das Gas in den Konzentrationslagern wieder auf, die Frage der Juden muss geklärt werden." Oder ein Bild Adolf Hitlers, dazu der Spruch: "Der Holokauz kommt dich holen." In einem anderen Fall sei eine Person als "Judensau" beleidigt worden.

Und auch ein Blick in den Polizeibericht in den letzten Wochen birgt Beispiele. So habe ein Mann sich am 11. November in Dresden in einer Straßenbahn antisemitisch geäußert und von "Judenviechern" gesprochen. Auf Spielgeräte in Dresden-Weißig sprühten Unbekannte "Juden raus". Aber auch: Plakate von israelischen Hamas-Geiseln sind mit dem Schriftzug "BDS" beschmiert worden - laut dem LKA das Kürzel einer politischen Kampagne, die den Staat Israel wirtschaftlich, kulturell und politisch isolieren will. Die Liste der Taten lässt sich fortsetzen.

Herbert Lappe ist Mitglied der Dresdner Jüdischen Gemeinde und engagiert sich an Schulen und in der Stadt. Er selber ist auf der Straße noch nicht antisemitisch angegangen worden.
Herbert Lappe ist Mitglied der Dresdner Jüdischen Gemeinde und engagiert sich an Schulen und in der Stadt. Er selber ist auf der Straße noch nicht antisemitisch angegangen worden. © Archivfoto: Rene Meinig

Mit Beginn des Nahostkriegs ist die Islamophobie angewachsen

"Ich fühle mich da etwas missbraucht", sagt Avery Gosfield. "Die Situation wird ausgenutzt, um alle Araber als verdächtig zu betrachten, mehr noch als früher."

Natürlich sei sie entsetzt über die Anschläge der Hamas. Und ja, die Statistiken zeigten, dass das Antisemitismus-Problem wachse. Gleichzeitig habe sie das Gefühl, dass es den Menschen in Deutschland nicht erlaubt sei, die israelische Regierung zu kritisieren. "Viele Juden wollen nicht, dass die deutsche Regierung darüber entscheidet, wie Antisemitismus definiert wird - und fühlen sich angesichts der Zahl der Toten in Gaza unwohl", sagt sie. Und trotzdem: "Ich bin Zionistin und glaube, dass insbesondere die Europäer nie vergessen sollten, warum ein jüdischer Staat entstehen musste”.

Und dann ist da noch Herbert Lappe, ein seit Jahren in der Öffentlichkeit aktiver Dresdner Jude. Er besteht darauf, zu betonen: Er habe keine Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht. Er meint, dass die Definition, was alles als antisemitisch gewertet wird, recht weit gefasst sei.

"Wenn ein Corona-Leugner mit Davidstern unterwegs ist, empfinde ich das als unfassbar geschmacklos – aber nicht als antisemitisch", sagt er. Dennoch: "Unabhängig davon, ob ich Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht habe oder nicht: Offensichtlich gibt es ein Problem", sagt er. "Und es ist ebenso offensichtlich, dass - trotz vieler Bemühungen von sehr vielen Menschen, die Erfolge im Kampf gegen Antisemitismus sehr überschaubar sind."