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"Wir sollten Trauer nicht wegdrücken"

Vor zehn Jahren verlor Anja Plechinger ihren Mann an den Krebs. Heute macht sie anderen Mut zum Trauern und will das Thema Sterben ins Leben holen.

Von Henry Berndt
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Mit 31 Jahren wurde Anja Plechinger Witwe. Heute hilft sie anderen, ihre Trauer zuzulassen.
Mit 31 Jahren wurde Anja Plechinger Witwe. Heute hilft sie anderen, ihre Trauer zuzulassen. © Sven Ellger

Dresden. Sie ist mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Steuerberater, als es sie plötzlich erwischt. Dieses beklemmende Gefühl, das ihr sagt: Ich bin noch hier, ganz tief in deinem Herzen. Nimm dir Zeit für mich. "In diesem Moment war ich selbst ganz erstaunt über mich", sagt Anja Plechinger. "Ich habe nur einen flüchtigen Blick auf das Diskonissenkrankenhaus geworfen und plötzlich waren all diese Bilder wieder in meinem Kopf."

Es ist das Krankenhaus, in dem vor elf Jahren ihr Sohn Trevis zur Welt kam. Dieses kleine rosige Baby, ihr erstes, war gesund. Doch während sein Leben begann, sollte ein anderes schon bald enden. Das seines Papas. Neun Monate nach der Geburt seines Sohnes starb Stefan mit 32 Jahren an Krebs.

Ihr erster Mann Stefan starb neun Monate nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes.
Ihr erster Mann Stefan starb neun Monate nach der Geburt ihres gemeinsamen Sohnes. © privat

Auf dem Rückweg vom Steuerberater macht Anja Halt und setzt sich für einige Minuten auf eine Bank vor dem Krankenhaus, auf der sie damals kurz vor der Entbindung gemeinsam mit ihrer Mutter saß. Obwohl sie der Gedanke schmerzt und ihr schon auf dem Hinweg ganz flau geworden ist, lässt sie ihren Gefühlen bewusst den Raum und die Zeit.

"Trauer hat kein Ende", sagt die 42-Jährige jetzt. "Wir sollten sie nicht wegdrücken, sondern bewusst wahrnehmen." Nach Stefans Tod 2010 hatte sie sich zunächst nicht viel Zeit gegönnt, war schnell wieder arbeiten gegangen in einer Marketingabteilung. Doch das fühlte sich nicht mehr richtig an. Nicht mehr wichtig. Stattdessen merkte sie, wie viel Kraft und Zuversicht ihr jede Zeile gab, die sie in jenen Wochen zu Papier brachte. Das Schreiben wurde zu ihrem wichtigsten Ventil.

Bald schon reifte in Anja der Gedanke: Womöglich könnte sie auch anderen Trauernden helfen, die richtigen Worte in einer Situation zu finden, die so viele sprachlos macht. Sie gelangte zu der Überzeugung, dass auch Worte heilen können. Und damit sind nicht die Worthülsen gemeint, hinter denen man sich verstecken möchte, wenn man jemandem sein Beileid ausspricht. "Wenn du nicht weißt, was du einem Trauernden sagen sollst, dann sag ihm genau das", rät Anja. Auch eine gemeinsame Erinnerung an schöne Zeiten könne viel helfen. "Das ist viel wertvoller als irgendwelche Floskeln."

Für ihren verstorbenen Mann gestaltete Anja ein Buch, das sie "Im Herzen Vieler" nannte und in dem Stefans Wegbegleiter ihre Erinnerungen an ihn aufschreiben konnten. Auch ihr Sohn bekam sein eigenes Exemplar. "Er hat seinen Papa nicht kennengelernt", sagt Anja. "Für ihn lebt er nur durch die aufgeschriebenen Erinnerungen."

Trevis ist heute elf Jahre alt und hat einen neuen Papa. Seinen leiblichen Vater vermisst er nicht bewusst. "Am Anfang hat mich das schon betroffen gemacht, aber inzwischen weiß ich, dass das völlig normal ist. Er hat einfach keine emotionale Verbindung zu Stefan."

Umso mehr interessiert sich Trevis dafür, wenn Mama ihm von ihrer Arbeit erzählt. Drei Jahre nach Stefans Tod hat sich Anja als "Trostkünstlerin" selbständig gemacht. Aber was ist das eigentlich? Ein Ausbildungsberuf? Nein. Auch als Trauerbegleiterin sieht sie sich nicht. Stattdessen will sie anderen helfen, ihren Trauermut zu finden. "Ich hatte keinen Businessplan, sondern habe einfach angefangen, weil es sich gut angefühlt hat."

Anja Plechinger gibt Kurse, schreibt Lebensgeschichten auf und bietet "Trauer-Coachings" an. Aber kann man beim Trauern denn Fehler machen? Anja spricht lieber von Hürden, die es zu überwinden gilt. Zum Beispiel die, die Trauer überhaupt zuzulassen. "Manche verdrängen dieses Gefühl über Jahre und haben womöglich schon als Kind gelernt, dass Trauer etwas ist, das stört." Heute wisse sie, dass Trauer nicht nur Schmerz ist, sondern auch sehr heilsam sein kann. "Wenn wir uns Zeit nehmen für den Tod, nehmen wir uns Zeit fürs Leben."

Tränen sind erlaubt

Ihre eigene Geschichte sei immer wieder ein geeigneter Eisbrecher. Taugt diese Frau mit dem offenen Lächeln doch zweifellos als Vorbild dafür, dass man es wieder auf die Beine schaffen kann, auch wenn einen das Schicksal umgeworfen hat.

Als der Tod in ihr Leben kam, traf er sie völlig unvorbereitet. Sie war gerade 31 und hatte bis dahin nur ihren Opa verloren, als sie noch ein Kind war. "Ich durfte damals nicht mit zur Beerdigung", erinnert sie sich. Heute ist sie der Meinung, dass Kindern in solchen Momenten viel mehr zugetraut werden sollte, damit sie sich später selbst besser mit dem Thema Tod auseinandersetzen können.

Sie habe "Trostkunst" nicht gegründet, um sich damit selbst zu therapieren, betont Anja. Klar erkenne sie sich manchmal in Situationen wieder. Das sei aber nicht schlimm. Auch Tränen verbietet sie sich nicht.

Gemeinsam mit Thomas hat Anja eine neue Familie gegründet. Ihre Tochter Marla ist heute vier Jahre alt.
Gemeinsam mit Thomas hat Anja eine neue Familie gegründet. Ihre Tochter Marla ist heute vier Jahre alt. © privat

Ihre erste Beziehung nach Stefans Tod hat sich komisch angefühlt. "Darf ich das schon wieder?", fragte sie sich selbst. Seit fünf Jahren liebt Anja nun ihren Thomas und fühlt sich unbeschwert. Mit ihm hat sie ein zweites Kind bekommen. Marla ist vier Jahre alt.

Ihre alte Wohnung hat Anja verlassen und in jeder Hinsicht eine neue Etappe in ihrem Leben begonnen. "Das heißt nicht, dass ich Stefan jemals vergessen werde. Ich trage die Erinnerungen ganz fest in mir drin."

Auf dem Friedhof ist sie nur selten. Mit diesem Ort habe sie noch nie viel verbunden. An Stefans Geburtstag besucht sie aber zusammen mit Trevis das Grab. Sie bestellen Stefans Lieblingspizza und kaufen seine Lieblingsschokolade. Kleine Rituale, um die Seele zu streicheln. "Meine Trauer hat einen festen Platz im meinem Herzen gefunden", sagt sie, aber jeder müsse für sich selbst nach dem richtigen Ort suchen.

Gern hilft Anja Plechinger auf diesem Weg. Vor drei Jahren hat sie ihren eigenen Shop gegründet. In der Edition Trostkunst gibt es Trauerkarten mit selbstgeschriebenen Gedichten sowie das Buch "Im Herzen Vieler" zum Selbstausfüllen.

"Trauer in die Mitte der Gesellschaft holen"

Seit Beginn der Corona-Krise hat Anja neue Wege gefunden, mit den Trauernden in Kontakt zu treten. Dafür entwickelte sie Seminare und Workshops im Internet. Aber geht das denn online überhaupt? "Das habe ich mich am Anfang auch gefragt", sagt sie, "aber die ersten Erfahrungen zeigen, dass es ein gleichwertiger Ersatz ist." Zum Teil sogar mit Vorteilen. Wer zu Hause vor dem Computer sitzt, könne sich manchmal einfacher öffnen.

Doch egal, wo: Die Menschen sollen sehen, dass auch andere den Schmerz fühlen. Sie sollen erkennen, dass sie jetzt nicht stark sein müssen. "Ich möchte Mut zum Trauern geben und die Trauer dadurch auch in die Mitte der Gesellschaft holen, wo sie hingehört", bringt Anja ihre Motivation auf den Punkt.

Angst vor dem Tod hat sie keine mehr. "Das kann jedem jederzeit passieren. Sicherheit ist eine Illusion." Wenn sie ein schönes Foto von jemandem macht, dann kommt ihr manchmal der Gedanke: Das könnte ein Bild sein, an dem ich mich erfreuen kann, wenn derjenige mal nicht mehr da ist und ich traurig bin. Aber darf sie das denn denken? Sie darf. Und sie will.

In der neuen SZ-Serie "Mein Leben mit dem Tod" stellen wir Menschen vor, die in ihrem Beruf oder Ehrenamt jeden Tag hautnah mit dem Sterben konfrontiert werden - und doch weder ihr Mitgefühl noch ihr Lachen verloren haben. Haben Sie eine andere Einstellung zum Leben? Können Sie nach der Arbeit abschalten? Erzählen Sie ihren Kindern von Ihren Erlebnissen? In der nächsten Folge lesen Sie von einer Hospiz-Pflegerin, die Menschen bis zu ihrem letzten Atemzug zur Seite steht.

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