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Dresdnerin berichtet: „Long Covid hat mich mittellos gemacht“

Annette Graf aus Dresden ist durch Corona arbeitsunfähig. Seit das Krankengeld entfallen ist, bekommt sie keinen Cent mehr zum Leben – aus bürokratischen Gründen.

Von Stephanie Wesely
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Annette Graf musste umziehen, weil sie sich ihre Wohnung nicht mehr leisten konnte.
Annette Graf musste umziehen, weil sie sich ihre Wohnung nicht mehr leisten konnte. © Jürgen Lösel

Die neue Wohnung von Annette Graf im Süden von Dresden will nicht so recht Gestalt annehmen. Überall Umzugskisten und Chaos. „Ich bin vor vier Wochen in eine kleinere Wohnung gezogen, weil ich mir meine große nicht mehr leisten konnte“, sagt die 60-Jährige. Ihre Ersparnisse sind aufgebraucht. „Ohne die Unterstützung meiner Familie und meiner Freunde wäre ich in die Verschuldung geraten.“

Annette Graf leidet an einem chronischen Erschöpfungssyndrom infolge ihrer Long-Covid-Erkrankung. Seit November 2021 ist sie arbeitsunfähig. „In den Vormittagsstunden bin ich noch in der Lage, einige Dinge zu erledigen oder auch mal eine Umzugskiste auszuräumen“, sagt sie. Wenn sie sich am Nachmittag nicht wenigstens fünf Stunden Ruhe gönne, verschlechtere sich ihr Gesundheitszustand rapide. Dann verstärkten sich die Muskelschmerzen am ganzen Körper und das Herzrasen so, dass sie es kaum noch aushalten kann. „Das zieht mich seelisch so herunter, ich weine dann sehr viel und bin verzweifelt.“

Eine Million Schicksale

In Deutschland wird mit mindestens einer Million Long-Covid-Erkrankten gerechnet. Viele leiden am Erschöpfungssyndrom, auch Fatigue oder ME/CFS genannt. Neben Müdigkeit, Kraftlosigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisproblemen haben die Patienten oft auch eine Muskelschwäche und Herz-Kreislauf-Probleme – wie Annette Graf. Laut Fatigue-Zentrum der Berliner Charité wird ein großer Teil der Patienten nach Wochen oder Monaten gesund. Der andere nicht. Diese Menschen bleiben dauerhaft arbeitsunfähig.

Auf sie ist das Sozialsystem aber offensichtlich nicht eingestellt, wie auch Annette Graf erfahren hat. Sie bekam sechs Wochen Lohnfortzahlung und 72 Wochen Krankengeld. Seitdem wurde jeder Antrag auf finanzielle Unterstützung abgelehnt. Sie müsste jetzt eigentlich um ihr Recht kämpfen, hat aber keine Kraft dafür.

Nach Reha alles schlimmer

Annette Graf hatte dreimal Corona – trotz Impfung. Ende letzten Jahres bekam sie eine Long-Covid-Reha in Bad Salzelmen – Sachsen-Anhalt. Sie hoffte, nach den vier Wochen Behandlung wieder in den Schuldienst zurückkehren zu können. Denn sie war mit Leib und Seele Lehrerin – seit 35 Jahren. Sie liebt die Kinder und ihren Beruf. „Doch der Reha-Arzt sagte mir, dass es mindestens noch ein Jahr dauert, wahrscheinlich sogar länger, bis ich wieder arbeiten kann. Das hat mir die Beine weggezogen.“ Und vor allem wurde ihr in dem Moment bewusst, dass in Kürze ihr Anspruch auf Krankengeld endet. Wie soll es danach weitergehen? Diese Frage ließ ihr keine Ruhe mehr. Zumal sie auch ihren Sohn im Studium finanziell unterstützt. Den musste sie nun anrufen und ihn bitten, in der Uni ein Härtefall-Darlehen zu beantragen. Dazu brauchte es Nachweise und Verdienstbescheinigungen. Das alles herauszusuchen, habe sie sehr gefordert. „Zudem war mein Sohn mitten in den Prüfungen, hatte also gar keine Zeit für Anträge. Dass er meinetwegen solche Schwierigkeiten hat, tat mir unendlich leid“, sagt Annette Graf. Die Sorgen und die Angst vor der Zukunft machten den kleinen Heilerfolg der Reha sofort wieder zunichte. Ihre Beschwerden waren so stark wie nie zuvor.

Zwei Behörden – zwei verschiedene Aussagen

Der Sozialdienst der Reha-Klinik riet ihr, zu Hause umgehend Erwerbsminderungsrente zu beantragen, um bis zu einer möglichen Wiederaufnahme ihrer Arbeit finanziell abgesichert zu sein. Das tat sie dann auch, trug dafür Befunde und ärztliche Gutachten zusammen. „Gleichzeitig habe ich tage- und nächtelang gerechnet, nach einer kleinen günstigeren Wohnung gesucht, Verträge gekündigt und umgestellt, um nicht ins finanzielle Fiasko zu stürzen“, sagt sie. Doch das kam dann trotzdem, denn ihr Rentenantrag wurde abgelehnt. Eine Erwerbsunfähigkeit liege nicht vor, denn sie könne noch sechs Stunden am Tag arbeiten, hieß es in dem Schreiben. „Das war ein Schlag ins Gesicht, ich war völlig geschockt.“ Denn Annette Graf konnte kaum eine Stunde arbeiten, so gern sie es auch täte, geschweige denn sechs. „Hat die Behörde die Befunde überhaupt angeschaut? Wie ist dann solch eine Aussage möglich?“, fragt Annette Graf. Sie legte Widerspruch ein. Gleichzeitig ging sie zur Arbeitsagentur, um Überbrückungsgeld für die Zeit bis zu ihrem Rentenanspruch zu beantragen. Auch dieser Antrag wurde abgelehnt. Begründung: Sie könne keine 15 Stunden pro Woche arbeiten. Somit könne sie nicht als arbeitssuchend geführt werden. Zwei Behörden und zwei grundverschiedene Aussagen. Alle hatten die gleichen Unterlagen vorgelegt bekommen.

Selbst bei einem gesunden Menschen löst solch ein Durcheinander Wut und Resignation aus. Chronisch Erschöpfte droht es aber, in den Abgrund zu reißen – Annette Graf erlitt einen Nervenzusammenbruch. „Ich habe immer gut verdient und in alle Sozialkassen eingezahlt. Jetzt bekomme ich von keiner etwas.“ Sie lässt sich nun von einer Sozialanwältin in Chemnitz vertreten. „Ich kann nicht mehr, ich muss das alles abgeben, um die Chance zu haben, irgendwann wieder zu Kräften zu kommen“, sagt sie.

Teurer Verfahrensfehler

Doch warum bekommt Annette Graf kein Geld? In der Theorie klingt alles vielversprechend. Denn für Fälle wie ihren hat der Gesetzgeber die Nahtlosigkeitsregelung geschaffen. Danach bekommt eine Person, die allein deshalb arbeitslos ist, weil sie durch eine Krankheit oder andere Umstände in ihrer Leistungsfähigkeit gemindert ist, Arbeitslosengeld I. „Diese Leistung wird gezahlt, bis über die Erwerbsminderungsrente oder eine andere finanzielle Leistung entschieden ist“, sagt Olga Schwalbe, Referentin der Bundesagentur für Arbeit. Die Ablehnung des ALG I sei ihr zufolge damit zu begründen, dass Annette Graf die Erwerbsminderungsrente vor dem ALG I beantragte. Sie hätte umgedreht vorgehen müssen: erst den ALG I-Antrag, dann den Antrag auf Erwerbsminderungsrente. „Aber woher soll ich das denn wissen? Ich bin Laie und habe doch nur den Rat des Sozialdienstes befolgt“, sagt die Long-Covid-Patientin. Sie ist inzwischen mittellos, hält sich nur mit der Unterstützung durch ihre Familie und Freunde über Wasser. Laut der Sprecherin der Bundesarbeitsagentur müsste ihr eigentlich Erwerbsminderungsrente zustehen – eigentlich! Über ihren Widerspruch wurde bis jetzt noch nicht entschieden. Sie hat Sozialhilfe beantragt, hofft aber, damit nicht wieder irgendeinen Formfehler begangen zu haben, der ihr eine Rente verwehrt. „Ich muss doch von irgendetwas leben“, sagt sie verzweifelt.

Aufstieg mit Freunden zum Kilimandscharo. Doch das war vor Corona.
Aufstieg mit Freunden zum Kilimandscharo. Doch das war vor Corona. © Annette Graf

Zu viele Anlaufpunkte – zu wenig Hilfe

„Wir kennen solche Berichte und wissen, wie zermürbend das ist, wenn Ämter Kranke von A nach B schieben“, sagt Anni Conrad von der Patienteninitiative Long Covid Deutschland. Sie kennt auch andere Beispiele, wo der Ausfall von Lohnersatz- und Sozialleistungen horrende Auswirkungen auf die Betroffenen hat. Doch die gesetzlichen Vorgaben dazu seien da, der Behördendschungel jedoch extrem unübersichtlich. „Es gibt zu viele Anlaufpunkte, die alle nur punktuell beraten. Es fehlen unabhängige Beratungsstellen, die die Patienten umfassend beraten und begleiten“, so Anni Conrad.

Annette Graf hofft jeden Tag auf eine gute Nachricht ihrer Anwältin. Denn lange hält sie ohne Geld nicht mehr durch.

Das kommt nach dem Krankengeld

  • Nahtlosigkeitsregelung: Wenn eine Arbeitslosigkeit allein aufgrund einer dauerhaften Leistungsminderung besteht, kann die Nahtlosigkeitsregelung greifen, auch Aussteuerung aus dem Krankengeld genannt. Dabei wird Arbeitslosengeld (ALG) gezahlt.
  • Voraussetzungen für den ALG-Bezug sind die Arbeitslosmeldung sowie der ausgefüllte Antrag auf ALG (auch online) bei der zuständigen Agentur für Arbeit.
  • Der Antrag auf ALG sollte frühzeitig vor dem Auslaufen des Krankengeldes gestellt werden.
  • Im Kontakt mit der Agentur sollte auf die langanhaltende gesundheitliche Einschränkung hingewiesen werden. Ein Indiz hierfür ist die Aussteuerung aus dem Krankengeldbezug. Kommt die Nahtlosigkeitsregelung in Betracht, bekommt der Antragsteller entsprechende Unterlagen zum Ausfüllen, dazu gehören zum Beispiel ein Gesundheitsfragebogen und eine Schweigepflichtsentbindung für die behandelnden Ärzte.
  • Die Unterlagen sind wichtig, damit der Ärztliche Dienst der Bundesagentur für Arbeit eine Prognose über die Dauer und Schwere der Leistungsminderung treffen kann.
  • Ist die Nahtlosigkeitsregelung nach einem ärztlichen Gutachten anwendbar, wird die Agentur für Arbeit darum bitten, innerhalb einer Frist einen Antrag zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben zu stellen.
  • Wurde vom Rentenversicherer bereits eine verminderte Erwerbsfähigkeit festgestellt, ist die Nahtlosigkeitsregelung ausgeschlossen. Es besteht kein Anspruch auf ALG, möglicherweise aber auf Erwerbsminderungsrente. Erwerbsminderungsrente: Der Rentenantrag kann online bei der Deutschen Rentenversicherung gestellt werden. Telefonisch ist es unter Rufnummer 0800 100048090 möglich, einen Termin zur Antragsaufnahme zu vereinbaren.
  • Erforderliche Dokumente: Das sind zum Beispiel: Befundberichte von Haus- und Fachärzten, von Krankenhausaufenthalten oder nach Operationen sowie Entlassungsberichte von Rehabilitationsmaßnahmen.
  • Die Erwerbsminderungsrente wird befristet für maximal drei Jahre gezahlt, wenn die Aussicht besteht, dass sich der Gesundheitszustand wieder bessert. Dauert die Erwerbsminderung danach weiter an, muss rechtzeitig – mindestens vier Monate – vor Ablauf der Befristung ein Weiterzahlungsantrag gestellt werden.

Quellen: Bundesagentur für Arbeit, Deutsche Rentenversicherung