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Zu viel Hygiene könnte Allergien bei Kindern fördern

Kuhmilch, Weizen, Ei, Nüsse – darauf reagieren immer mehr Kinder. Was tun? Weglassen? Ein Dresdner Allergologe sagt, was Betroffenen helfen kann.

Von Stephanie Wesely
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Aua! Kinder mit Laktoseintoleranz reagieren bei Milch häufig mit Bauchschmerzen.
Aua! Kinder mit Laktoseintoleranz reagieren bei Milch häufig mit Bauchschmerzen. © 123rf

Einmal war es ein halbes haselnussgefülltes Kaubonbon, ein anderes Mal der Biss in einen Lebkuchen. Danach ging es Benjamin plötzlich richtig schlecht. „Er ist kreidebleich geworden, war total schlapp und hatte rote Flecken am Körper“, erzählt seine Mutter.

Als es das dritte Mal passierte, ging sie mit dem Dreijährigen zum Arzt. Eine Blutuntersuchung brachte Gewissheit: Benjamin hat eine Haselnuss-Allergie.

Allergien sind eine Frage der Gene

Allergien gegen Lebensmittel werden häufiger, sagt Professor Christian Vogelberg, Kinderpneumologe und Allergologe an der Uni-Kinderklinik Dresden. „Dazu kommt, dass immer jüngere Kinder überempfindlich reagieren.“

Die Anfälligkeit dafür werde vererbt. Heutige Elterngenerationen waren früher oft selbst allergiekrank und geben die Veranlagung weiter. „Deshalb ist diese Entwicklung auch nicht komplett aufzuhalten“, sagt er. Hinzu komme, dass Betroffene nicht mehr nur auf ein oder zwei Allergene reagieren, sondern auf viele Stoffe zugleich. Nicht immer sind die Beschwerden dabei so eindeutig wie bei Benjamin.

Allergie-Tests nicht immer zuverlässig

Die Ernährungsmedizinerin Yurdagül Zopf behandelt am Erlanger Universitätsklinikum regelmäßig Patienten, bei denen die herkömmlichen Allergietests unauffällig sind. Das liege zum einen daran, dass die Tests nicht zu 100 Prozent zuverlässig seien. Zum anderen gebe es Nahrungsmittel-Allergien, die nicht immer durch serologische Tests – also den Nachweis von Antikörpern im Blut – oder auf der Haut feststellbar seien.

„Die diagnostischen Möglichkeiten sind häufig noch nicht ausreichend, um alle Nahrungsmittelallergien nachzuweisen.“ Das bestätigt auch der Dresdner Allergologe: „Die Tests sagen nichts über eine wirkliche Allergie, sondern nur etwas über die Allergiebereitschaft aus.“

Bakterien im Darm spielen wichtige Rolle

Ein Beispiel ist der Darm. „Der Darm ist ein riesiges Immunorgan“, so die Ernährungsmedizinerin. „Da müssen wir noch verstehen, welche Bedeutung er bei der Entstehung von Allergien und den allergischen Reaktionen hat.“ Auch über die Rolle der Darmbakterien sei noch vieles unbekannt. Dass sie eine wichtige Rolle spielen, sei erst in den letzten Jahren in den Fokus gerückt.

Die Uniklinik Erlangen nutzt ein noch wenig verbreitetes Verfahren, um dies genauer zu untersuchen. Bei einer speziellen Darmspiegelung können die Mediziner die Essenz von Nüssen, Soja oder anderen Allergenen auf die Darmschleimhaut sprühen und beobachten, wie diese darauf reagiert.

Feinstaub und Zusatzstoffe schaden

Die Zunahme der Allergien bei Kindern ist für viele nicht recht nachvollziehbar. Schließlich werden Kinder heute länger gestillt als früher, auch die Umwelt ist sauberer geworden.

„Stillen ist mit Sicherheit eine gute Möglichkeit der Prävention, ebenso der Verzicht aufs Rauchen. Fakt ist aber auch, dass unsere Umwelt nicht in jeder Beziehung sauberer als früher ist. Es gibt jetzt zwar weniger Luftverschmutzung durch Schwefeldioxid, doch die Feinstaubbelastung ist gestiegen“ sagt Vogelberg. Auch die Vielfalt an Fertiggerichten und Zusatzstoffen habe stark zugenommen.

Land-Kinder sind häufig gesünder

„Ein weiterer Ansatz ist die sogenannte Hygiene-Hypothese“, sagt Sanja Lämmel vom Deutschen Allergie- und Asthmabund. Es werde vermutet, dass sich das Immunsystem aufgrund des stärkeren Hygienebewusstseins langweilt, weil es keine Abwehrfunktionen übernehmen muss und sich deshalb anders orientiert. Kinder müssten dafür aber nicht unbedingt im Dreck spielen.

Lämmel: „Kinder, die auf dem Land aufwachsen, entwickeln weniger Allergien als Stadtkinder. Eltern sollten sich deshalb fragen, wie viel Hygiene wirklich sein muss.“

Doch wie entstehen Allergien auf Lebensmittel wie Nüsse, Getreide, Kuhmilch, Hühnerei oder Fisch überhaupt? Vollständig erforscht ist das noch nicht. „Was bestimmt eine Rolle spielt, ist die Art und Weise, wie wir uns ernähren“, sagt die Ernährungsmedizinerin.

Medikamente können Allergien begünstigen

So stünden stark industriell verarbeitete Lebensmittel im Verdacht, Allergien auszulösen. „Das ist aber sicherlich nicht der einzige Faktor. Es ist ein Zusammenspiel von Ursachen“, so Sanja Lämmel.

Auch Medikamente können ihrer Meinung nach die Entstehung von allergischen Reaktionen begünstigen. Säurehemmende Magenmedikamente führten zum Beispiel dazu, dass Proteine nicht vollständig verdaut werden und größere Eiweißfragmente in den Darm gelangen. „Das kann bei familiärer Neigung zu Unverträglichkeitsreaktionen führen“, sagt Zopf.

Fest steht: Niemand kommt mit einer Allergie auf die Welt, höchstens mit einer Allergieneigung. Bei einer Allergie identifiziert das Immunsystem die Proteine von beispielsweise Lebensmitteln als Feind und reagiert heftig auf diese. Dafür reichen auch schon kleinste Mengen.

Immunsystem lernt schon im Babyalter

Dass manche Eltern ihren Babys ganz bewusst keine Lebensmittel wie Nüsse, Ei oder Milch geben, die Allergene enthalten, sei keine gute Idee. „Das hat leider den gegenteiligen Effekt. Das Immunsystem muss gerade im Babyalter Toleranz erlernen.“

Deshalb rät Professor Vogelberg auch von Screenings auf Lebensmittelallergien ab, wenn keine Beschwerden vorliegen. Werden zum Beispiel Antikörper gegen ein bestimmtes Lebensmittel gefunden, das man bisher problemlos vertragen hat, sollte man es nach dem Test nicht einfach weglassen.

„Nur so wird die Toleranz des Körpers weiter aufrechterhalten. Große Pausen lassen sie schwinden und können bei erneutem Verzehr sogar zu einem lebensgefährlichen Schock führen“, sagt er.

Viele Allergien verwachsen sich

Bei vielen Kindern geht die Lebensmittel-Allergie mit der Zeit zurück. „Das verwächst sich, weil das Immunsystem ausgereift ist und gelernt hat, damit umzugehen“, sagt Ernährungsmedizinerin Zopf. Eine Kuhmilch-Allergie gehe bei fast allen Kindern zurück. Bei Hühnereiweiß reagiere die überwiegende Mehrheit nicht mehr allergisch, bei Erdnüssen sei es immerhin jedes fünfte Kind.

Doch Vogelberg warnt: „Allergien wachsen sich bei Kindern nicht immer komplett aus. Sie können sich in anderer Form zeigen – zum Beispiel als Hautleiden oder Asthma.“ Erwachsene haben dagegen schlechte Karten: Bei ihnen ist es eher unwahrscheinlich, dass eine Lebensmittel-Allergie wieder weggeht.

Cortison als erste Hilfe

Auch die Eltern von Benjamin hoffen, dass er Haselnüsse in Zukunft wieder verträgt. „Er macht es eigentlich ganz toll“, sagt seine Mutter. „Er ist sehr vorsichtig. Wenn jemand ihm etwas zu essen anbietet, fragt er mich immer erst, ob er das darf.“

Vor ein paar Monaten ist es im Kindergarten dann doch passiert: Benjamin hatte sich bei einer Feier einen Keks vom Plätzchenteller geangelt. Danach übergab er sich und bekam Ausschlag. Es ging ihm erst besser, nachdem er Cortison bekommen hatte.

Neue Immuntherapie mit Erdnuss

Die Lebensmittel meiden, auf die man allergisch reagiert und im Notfall die Symptome mit Medikamenten behandeln – mehr können Betroffene zurzeit nicht tun. Eine Immuntherapie, also eine Hyposensibilisierung wie bei Heuschnupfen, gibt es für Lebensmittel-Allergien in Deutschland bisher nicht.

Seit Jahresbeginn ist eine neue orale Immuntherapie für Erdnussallergiker zugelassen, die in Studien sehr erfolgreich war, erklärt Professor Vogelberg. Betroffene, insbesondere Kinder, bekommen dazu täglich eine Kapsel mit Erdnusspulver.

„Begonnen wird mit einer Menge, die etwa einem Hundertstel einer Erdnuss entspricht. Die Menge steigert sich auf etwa eine Erdnuss am Tag. Damit sind die Kinder ihre Allergie nicht komplett los, es wird aber verhindert, dass selbst geringste Spuren lebensgefährliche Schockreaktionen auslösen.“, sagt Christian Vogelberg.

In den nächsten Monaten werde voraussichtlich auch ein Pflaster getestet, das kleinste Mengen Erdnussprotein an die Haut abgibt und die Gewöhnung fördert. (mit dpa)