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An wen die neuen Görlitzer Stolpersteine erinnern

Für 15 jüdische Einwohner werden die Steine am Freitag verlegt, darunter erstmals drei in Zgorzelec. Über ihr Leben informiert eine Ausstellung in der Synagoge.

Von Ines Eifler
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Diese 15 Stolpersteine für Mitglieder von vier Familien werden am 5. November in Görlitz und Zgorzelec verlegt.
Diese 15 Stolpersteine für Mitglieder von vier Familien werden am 5. November in Görlitz und Zgorzelec verlegt. © Daniel Breutmann

Es ist nur ein kleines Foto auf der vergilbten Seite eines Poesiealbums, aber das Mädchen ist unverkennbar – und weltberühmt. Ihr Spruch für die zehnjährige Eva Goldberg aus Görlitz im Januar 1939: "Mit vielen teile deine Freuden, mit allen Munterkeit und Scherz, mit wenigen nur deine Leiden, mit Auserwählten nur dein Herz. Zur Erinnerung an deine Freundin Anne Frank."

Über dieses Mädchen, Eva Goldberg, hat die Amerikanerin Lauren Leiderman, die seit zwei Jahren in Görlitz lebt und vom 4. bis 9. November die Jüdische Gedenkwoche organisiert, ein Buch veröffentlicht, das sie am Sonntag um 17 Uhr vorstellt.

Lauren Leiderman, die Organisatorin der Jüdischen Gedenkwoche, hat ein Buch "Das Poesiealbum von Eva Goldberg" veröffentlicht, das sie am Sonntag vorstellt. Die Görlitzerin Eva Goldberg war mit Anne Frank befreundet.
Lauren Leiderman, die Organisatorin der Jüdischen Gedenkwoche, hat ein Buch "Das Poesiealbum von Eva Goldberg" veröffentlicht, das sie am Sonntag vorstellt. Die Görlitzerin Eva Goldberg war mit Anne Frank befreundet. © Matthias Wehnert
Anne Frank schrieb dem Görlitzer Mädchen Eva Goldberg etwas ins Poesiealbum ein. Die beiden waren gleichaltrig und freundeten sich in Amsterdam an, wo Eva zwei Tanten hatte.
Anne Frank schrieb dem Görlitzer Mädchen Eva Goldberg etwas ins Poesiealbum ein. Die beiden waren gleichaltrig und freundeten sich in Amsterdam an, wo Eva zwei Tanten hatte. © Martin Schneider

Eva Goldberg, die sich mit Anne Frank anfreundete, als sie ihre Tanten in Amsterdam besuchte, gehört auch zu den 15 Jüdinnen und Juden, für die am Freitag Stolpersteine verlegt werden.

Drei erste Stolpersteine in Zgorzelec

In der heutigen Ulica Kościuszki in Zgorzelec – das ist die Verlängerung der Straße, die von der Stadtbrücke hinauf ins Zentrum führt – lebte Eva Goldberg mit ihren Eltern Max und Helene, bis die Familie im Januar 1939 über Berlin und Amsterdam nach Großbritannien und schließlich im Herbst in die USA floh.

Evas Vater Max Goldberg war Einkaufsleiter im jüdischen Kaufhaus Totschek in der Steinstraße, seine Frau Helene war Näherin und Hausfrau. Die drei Stolpersteine für die Goldbergs sind die ersten, mit denen in Zgorzelec der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung von Görlitzer Juden gedacht wird.

Bisher hat der Künstler Gunter Demnig 21 seiner in Europa insgesamt rund 75.000 Stolpersteine in Görlitz verlegt, am Freitag kommen neben den dreien für die Goldbergs noch zwölf weitere hinzu – in der Stein-, der Nonnen-, der Augusta- und der Kunnerwitzer Straße.

Kleine Ausstellung im Kulturforum Synagoge

Alle 15 Stolpersteine sind im Moment im Kulturforum Görlitzer Synagoge in Vitrinen ausgestellt, zusammen mit Informationen zu den Lebenswegen der Juden, deren sie gedenken, einigen Dokumenten, Erinnerungsstücken, Fotos, Rechnungen von Görlitzer jüdischen Geschäften und Fabriken, Kleiderbügeln aus verschiedenen Kaufhäusern und auch einer Kopie des Poesiealbumeintrags von Anne Frank.

Ausstellung Stolpersteine in der Görlitzer Synagoge, Familie Slotowski.
Ausstellung Stolpersteine in der Görlitzer Synagoge, Familie Slotowski. © Martin Schneider
Ausstellung Stolpersteine in der Görlitzer Synagoge. Amanda Hannes.
Ausstellung Stolpersteine in der Görlitzer Synagoge. Amanda Hannes. © Martin Schneider
Ausstellung Stolpersteine in der Görlitzer Synagoge, Erinnerungen an Görlitzer jüdische Geschäfte und Fabriken.
Ausstellung Stolpersteine in der Görlitzer Synagoge, Erinnerungen an Görlitzer jüdische Geschäfte und Fabriken. © Martin Schneider
Ausstellung Stolpersteine in der Görlitzer Synagoge, Erinnerungen an Görlitzer jüdische Kaufhäuser.
Ausstellung Stolpersteine in der Görlitzer Synagoge, Erinnerungen an Görlitzer jüdische Kaufhäuser. © Martin Schneider
In der Stolperstein-Ausstellung im Kulturforum Görlitzer Synagoge ist auch ein Poesiealbumeintrag von Anne Frank zu sehen.
In der Stolperstein-Ausstellung im Kulturforum Görlitzer Synagoge ist auch ein Poesiealbumeintrag von Anne Frank zu sehen. © Martin Schneider

Einen besonders erschreckenden Einblick in die Görlitzer Geschichte gibt eine Anzeige aus der Nazizeit, die behauptet, nach der "Gleichschaltung" würden sich Juden versuchen zu "tarnen". Die Annonce alarmiert: "Nicht beim Juden kaufen! Seien Sie vorsichtig!", um schließlich zu empfehlen, Schuhe nur bei "Schuh-Maske" in der Mittelstraße 4, gegenüber dem Horst-Wessel-Haus, zu kaufen.

An vier Familien wird erinnert

Vier Stolpersteine werden in der Steinstraße für Walter und Bianca Totschek sowie ihre Töchter Ursula und Gerti verlegt. Die Familie des Kaufhausbesitzers zog nach Berlin, nachdem die zehnjährige Ursula 1936 eines Tages blutüberströmt aus der Schule nach Hause kam. Walter Totschek übergab die Geschäfte seinem Buchhalter, dem er schließlich sein Kaufhaus verkaufte. Das sei unter Zwang geschehen, ist im Text über die Biografie der Totscheks in der Ausstellung zu lesen.

Ursula kam per Kindertransport nach England, ihre Schwester und ihre Eltern schafften es unter katastrophalen Umständen und ohne ihr Vermögen nach New York, wo Walter Totschek als Zeitungsverkäufer arbeiten musste und 1944 starb. Die drei Frauen hatten später in den USA ein erfülltes Leben, Ursula geb. Totschek ist heute 95 Jahre alt. Lauren Leiderman bezeichnet sie als eine "der lautesten Stimmen für die Einführung einer Jüdischen Gedenkwoche in Görlitz".

Daniel Breutmann vom Görlitzer Kulturbüro und Lauren Leiderman haben die neuen Stolpersteine für die Jüdischen Familien Totschek, Hannes, Slotowski und Goldberg in Auftrag gegeben.
Daniel Breutmann vom Görlitzer Kulturbüro und Lauren Leiderman haben die neuen Stolpersteine für die Jüdischen Familien Totschek, Hannes, Slotowski und Goldberg in Auftrag gegeben. © Matthias Wehnert

In der Nonnenstraße lebte die ostpreußisch-ungarisch-jüdische Familie Slotowski, die seit 1924 in Görlitz lebte und 1939 nach Shanghai floh. Walter arbeitete in einer Silberwarenfabrik, Ibolyka war eine diplomierte Musikerin aus Budapest, die vermutlich bei Ernst von Dohnányi Unterricht genommen hatte. In Shanghai überlebten nur die beiden jüngeren Kinder eine Typhusepidemie. Sie wurden getrennt, erfuhren erst später von ihrer Herkunft und gingen dann in die USA. Der älteste Sohn der Familie war mit einem Kindertransport nach England gekommen, wo er zeitlebens blieb.

Die letzten 54 Görlitzer Juden kamen ins KZ Tormersdorf

In der Kunnerwitzer- und der Augustastraße werden Stolpersteine für Angehörige der Familie Hannes verlegt. Amanda Hannes betrieb zusammen mit ihrem Mann Max einen Lederwaren- und Spielzeuggroßhandel in der Hospitalstraße 5. Einen Sohn verlor sie im Ersten Weltkrieg, der zweite und ihr Ehemann fielen der Spanischen Grippe zum Opfer. Ihr blieben ihre Schwiegertochter und zwei Enkel, die alle drei in den USA überlebt haben.

Amanda Hannes, die als konservativ, charakterstark, selbstbewusst und als sehr wichtige Persönlichkeit in der Görlitzer jüdischen Gemeinde galt, engagierte sich mit ihrem Vermögen und ihrem Einfluss im jüdischen Frauenhilfsverein für jüdische Frauen in Görlitz und ganz Niederschlesien.

Amanda Hannes galt als bedeutende Persönlichkeit in der Görlitzer jüdischen Gemeinde. Sie setzte sich für Frauenrechte ein und ist die einzige unter denen, für die jetzt Stolpersteine verlegt werden, die nicht aus Deutschland floh, sondern im KZ umkam.
Amanda Hannes galt als bedeutende Persönlichkeit in der Görlitzer jüdischen Gemeinde. Sie setzte sich für Frauenrechte ein und ist die einzige unter denen, für die jetzt Stolpersteine verlegt werden, die nicht aus Deutschland floh, sondern im KZ umkam. © Martin Schneider

Unter den 15 Juden, für die jetzt Stolpersteine verlegt werden, ist sie die einzige, die nicht aus Nazideutschland floh. Sie meinte, "einen alten Baum verpflanzt man nicht". So gehörte sie 1941 zu den 54 in Görlitz verbliebenen Juden, die ihre Wohnungen verlassen mussten, in ein "Judenhaus" in der Jakobstraße kamen und dann ins Konzentrationslager Tormersdorf bei Rothenburg deportiert worden. Dort starb Amanda Hannes im Alter von 81 Jahren unter unmenschlichen Bedingungen.

80 Nachfahren von Görlitzer Juden gefunden

All diese Biografien von Görlitzer Juden und noch zahlreiche mehr hat Lauren Leiderman zusammengetragen, indem sie auf der ganzen Welt nach Nachfahren gesucht hat. Als sie Ende 2019 nach Görlitz kam und sich für die Verlegung von Stolpersteinen engagieren wollte, lernte sie bald Daniel Breutmann vom Kulturbüro Görlitz kennen, der bereits einen Stolperstein für Amanda Hannes beantragt hatte, und recherchierte zu den jüdischen Familien aus Görlitz.

80 Nachfahren fand sie, 20 von ihnen kommen diese Woche nach Görlitz und werden am Donnerstag ab 19 Uhr im Kulturforum Görlitzer Synagoge über ihre Familiengeschichten berichten. Zur Stolpersteinverlegung am Freitag sind Zuschauer herzlich willkommen, sie beginnt am 5. November um 12.30 Uhr in der Steinstraße, dann geht es über die Nonnen-, die Augusta- und die Kunnerwitzer Straße bis zur Kościuszki in Zgorzelec, wo die Aktion 18.30 Uhr endet.

Programm

Donnerstag, 4. November, 19 Uhr: Unsere Geschichte erzählen. Görlitzer jüdisches Erbe, mit Nachfahren von Görlitzer jüdischen Familien, Kulturforum Synagoge Görlitz

Freitag, 5. November, Stolpersteinverlegung:

  • 12.30 Steinstraße
  • 13.30 Nonnenstraße
  • 14.30 Augustastraße
  • 15.45 Kunnerwitzer Straße
  • 17.30 ul. Kościuszki (Zgorzelec, Polen)

Sonnabend, 6. November, 16 und 19.30 Uhr: Filmvorführung „Winterreise“, Camillo, Handwerk 13

Sonntag, 7. November, 17 Uhr: "Das Poesiealbum von Eva Goldberg". Buchpremiere und Lesung mit Lauren Leiderman, Kulturforum Görlitzer Synagoge

Montag, 8. November, 19 Uhr: Erinnerungen an der Grenze: Der Kindertransport und Niederschlesien, IBZ – Internationales Begegnungszentrum St. Marienthal, Ostritz

Dienstag, 9. November:

  • 16 Uhr: "GehDenken" an den Verlegeorten der Stolpersteine;
  • 19.30 Uhr: Konzert und Lesung: Der Weg durch die Nacht, Literaturhaus Alte Synagoge, Langenstraße 24;
  • 20 Uhr: "... spielt süßer den Tod – Musik aus Theresienstadt", Kulturforum Görlitzer Synagoge

Programm siehe auch: www.goerlitz.de/news/detail/1561-Juedische-Gedenkwoche-in-Goerlitz