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„Jeder Tag ist ein Grenzgang“: Görlitzer MS-Patientin erfüllt sich ihre Lebensträume

Fanni Schmidt-Biernoth aus Bernstadt ist unheilbar krank. Dank der Behandlung im dafür ausgezeichneten Klinikum Görlitz kann sie trotzdem ihren Alltag meistern.

Von Marc Hörcher
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Multiple Sklerose-Patientin Fanni Schmidt-Biernoth (rechts) und Schwester Annett Kirf (links) in der Aufnahme der Neurologischen Spezialambulanz des Görlitzer Klinikums
Multiple Sklerose-Patientin Fanni Schmidt-Biernoth (rechts) und Schwester Annett Kirf (links) in der Aufnahme der Neurologischen Spezialambulanz des Görlitzer Klinikums © Martin Schneider

Fanni Schmidt-Biernoth kämpft jeden Tag aufs Neue. Mit der Gesundheit, die seit Jahren an ihren Kräften zerrt. Die 46-Jährige aus Bernstadt leidet an Multipler Sklerose (MS), einer schweren und entzündlichen Erkrankung des Zentralen Nervensystems, die Gehirn und Rückenmarkt betrifft. MS ist unheilbar, aber die Symptome lassen sich mit Medikamenten eindämmen. Sie wird deswegen seit Jahren in der MS-Ambulanz des Städtischen Klinikums Görlitz betreut.

Kraftlosigkeit, Sehstörungen, starke Muskelverspannungen – die Symptome von MS sind unterschiedlich. Es gilt deswegen als „Krankheit der 1.000 Gesichter“, sagt Schmidt-Biernoth - aber dabei werde oft vergessen: "Wir Patienten haben auch noch die Gesichter, die wir verbergen". Viele kennen Frau Schmidt-Biernoth aus dem Alltag als fröhlichen, strahlenden Menschen. Im Gespräch mit der Redaktion redet sie offen über ihr Leben und ihre Beschwerden, schildert manches mit Humor - aber immer lachen, das kann sie nicht, auch wenn Freunde es ihr oft nachsagen, in Anspielung an einen bekannten Schlagertext. Doch das ist auch gar nicht ihr Anspruch: "Ich will zu mir selber stehen und nicht so sein wie mich die anderen gerne haben wollen", sagt sie. Dazu gehört für sie auch, Momente der Schwäche zuzulassen.

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Das erste Mal festgestellt hat sie die Symptome mit 18 Jahren. Während sie in der Schichtarbeit in einer Spinnerei tätig war, erlitt sie einen Zusammenbruch. Auf einmal spürte sie ihren rechten Arm nicht mehr, durch die ganze rechte Seite zog sich ein Taubheitsgefühl, auch das Sehen mit dem rechten Auge fiel ihr schwer. "Ich wusste keinen Rat mehr", beschreibt Frau Schmidt-Biernoth ihre damalige Lage. Ein Neurologe am Uni-Klinikum Dresden stellte damals die MS-Diagnose. "In vier Jahren kommen Sie hier reingerollt", sagte der. Die Patientin kann sich noch genau an diese Worte erinnern, wusste kaum, wie sie das zu Hause ihrer Familie beibringen sollte.

Der Arzt behielt unrecht. Bis heute sitzt sie nicht im Rollstuhl. Das gängige Klischee, das alle MS-Patienten über kurz oder lang dort landen, stimmt so nicht, viele schaffen es mittlerweile dank Medizin auch über einen langen Krankheitsverlauf hinweg ohne dieses Hilfsmittel. Frau Schmidt-Biernoth hat das der Behandlung in der Görlitzer MS-Ambulanz zu verdanken, begleitet von Krankenschwester Annett Kirf. Die erklärt, wie die Krankheit sich ausbreitet: Bei MS-Patienten greifen krankhafte Zellen die Myelinschicht an. Myelin bildet für gewöhnlich den Schutz für bestimmte Nerven, ähnlich wie die Umhüllung eines Stromkabels. Ist die Myelinschicht beschädigt, werden die Signale nicht mehr gleichmäßig über die Nervenbahnen weitergeleitet, erklärt Schwester Kirf. Halbjährlich bekommt Fanni Schmidt-Biernoth in der MS-Ambulanz ein Antikörper-Medikament als Infusion über eine Vene verabreicht. Das Medikament reduziert die krankhaften Zellen. So kann sich das Myelin wieder zurückbilden. Zudem wird halbjährlich ein Blutbild gemacht und ihre Organe routinemäßig untersucht.

Zwei weitere Autoimmunerkrankungen

Rund 400 MS-Patienten betreut das Görlitzer Klinikum. Seit knapp zwei Monaten ist es als MS-Schwerpunktzentrum durch die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG) zertifiziert. Diese Auszeichnung bestätigt, dass Patienten mit dieser Erkrankung hier sehr gut behandelt werden. Das Görlitzer Krankenhaus ist damit eines von drei zertifizierten MS-Schwerpunktzentren in Sachsen.

Das Team der MS-Spezialambulanz besteht nicht nur aus Neurologen, sondern auch aus Spezialisten anderer Fachgebiete wie Urologie, Kardiologie, Augenheilkunde und Radiologie. Die Pflegekräfte in der Ambulanz unter der Leitung von Annett Kirf stehen den Patienten bei Fragen im Umgang mit ihrer Erkrankung zur Seite.

Zu dieser Klinik kam Schmidt-Biernoth durch einen glücklichen Zufall, wie sie heute sagt. Eigentlich hatte sie das Görlitzer Krankenhaus aufgesucht, weil sie in der Endokrinologie ihren kreisrunden Haarausfall behandeln lassen wollte – und wurde dann weitervermittelt. Der Haarausfall ist kein Symptom ihrer MS, sondern eine weitere Autoimmunerkrankung, die die Patientin hat – und sie muss noch mit einer dritten zurechtkommen, einer Art Neurodermitis. „Eine Autoimmunerkrankung kommt selten allein“ hatte ihr ein behandelnder Arzt mal gesagt. 2017 erlitt sie einen Rückschlag, lag lange im Klinikum aufgrund eines Lungenversagens. Das damals neue Medikament, das sie bekam, musste aufgrund medizinischer Bedenken deutschlandweit vom Markt genommen werden. Doch sie stand wieder auf, vertraute stets in die Medizin.

Vieles, was für andere Alltag ist, wird durch ihre Erkrankung zur Herausforderung. „Jeder Tag ist ein Grenzgang“, schildert sie, jeder Bummel durch die Einkaufsmeile kann zur Herausforderung werden. Es gibt gute Tage, an denen sie mehr Energie hat. Und schlechte Tage, an denen sie den Haushalt erledigt und danach erschöpft aufs Sofa fällt. Sie ließ sich davon nicht unterkriegen, habe versucht, nach der Diagnose in diesem „Teich aus Trauer und Wut“ das zu akzeptieren, was ist und die positiven Dinge zu sehen, sich Ziele zu setzen. Sie gründete eine Familie, hat einen Mann (49) an ihrer Seite und bekam zwei gesunde Kinder. Die Tochter ist heute 22, der Sohn 17. Auch auf ihren Enkelsohn, den die Tochter vor 13 Monaten zur Welt brachte, kann sie mit Freude blicken. Sie eignete sich selbst das Restaurieren alter Möbel an und absolvierte gemeinsam mit ihrem Mann eine Tanzprüfung – erfolgreich, drei Tanznadeln haben sie geholt.

Und noch einen Traum hat sie für sich und ihre Familie erfüllt: Einen Wohnwagen und ein kleines Paddelboot. Beides steht am Olbasee bei Bautzen und ist ihr persönlicher Rückzugsort – mal für den Wochenend-Trip mit der Familie, mal für sie alleine, nutzt die Momente, in denen sie abschalten kann. „Dann sitze ich da am See und atme durch“, schildert sie. Das Rezept für Lebensenergie scheint aufzugehen. Viele Leute, so vermutet Fanni Schmidt-Biernoth, sehen in ihr anscheinend ein gewisses Strahlen, auch wenn sie selbst das nicht immer in sich sieht.