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Mit dem Kind durch den Feuersturm

Rudolf Harbig geht freiwillig wieder an die Front und stirbt. Seine Frau und seine Tochter überleben die Dresdner Hölle - Teil 2 der großen Harbig-Serie.

Von Jochen Mayer
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Zerstörung durch die Luftangriffe auf Dresden am 13. Februar 1945: Das Originalfoto stammt von Hans-Joachim Dietze, der als damals 15-Jähriger und vermutlich Einziger Aufnahmen vom Feuersturm im Zentrum der Stadt gemacht hat.
Zerstörung durch die Luftangriffe auf Dresden am 13. Februar 1945: Das Originalfoto stammt von Hans-Joachim Dietze, der als damals 15-Jähriger und vermutlich Einziger Aufnahmen vom Feuersturm im Zentrum der Stadt gemacht hat. © Repro: Ronald Bonß

Den Wohnzimmer-Tisch bedecken Trophäen, Schriftstücke, Dokumente. Ulrike Harbig hat alles für einen Besuch der Sächsischen Zeitung in ihrem Gröditzer Wohnhaus ausgelegt, was ihr von ihrem Vater Rudolf Harbig geblieben ist. Der Wunderläufer rannte seine besten Zeiten im Hitler-Deutschland. Das ist den Harbig-Zeitzeugnissen anzusehen. „Wie gehen wir damit um? Die Fotos und Plaketten so zeigen, wie sie sind, oder die dominanten Symbole der damaligen Zeit abdecken?“, fragt Ulrike Harbig und gibt selbst die Antwort: „Mein Vater wurde in diese Zeit hineingeboren, so wie ich in das Heute hineingeboren worden bin.“

Ulrike Harbig lebt mit dem prominenten Namen, hat aber keine eigenen Erinnerungen an ihren Vater. Sie zeigt ein Schwarz-Weiß-Foto, auf der Rückseite steht: September/Oktober 1943. „Da hat er mich auf dem Arm, ich war erst etwa ein halbes Jahr alt“, sagt sie nachdenklich und lächelt. „Ich soll ihm vor Freude den Spinat ins Gesicht gespuckt haben, den ich gerade gegessen hatte. Diese Geschichte wurde oft in der Familie erzählt. Ich weiß aus eigenem Erleben nichts von meinem Vater. Das ist ein sehr eigenartiges Gefühl, ich kenne ihn überhaupt nicht. Nur durch die Erzählungen meiner Mutter, der Großeltern und vor allem von einigen seiner Sportfreunde, die den Krieg überlebten, habe ich ein Bild von ihm bekommen.“

Ulrike Harbig entdeckte Briefe, in denen ihr Vater geschrieben hatte, wie sehr er sich einen Jungen wünscht. Aber er fand auch positive Aspekte an seiner Tochter. Sie wäre sicher ein gutes Kindermädchen für den Jungen, der noch kommen soll. „Als ich das gelesen habe, war ich schon ziemlich enttäuscht“, beschreibt sie ihre Gefühle. „Aber so war der Zeitgeist wohl damals. Versöhnt hat mich die Tatsache, dass er darauf geachtet hatte, dass ich meine erste Pockenimpfung nicht am Oberarm bekommen habe, sondern am Bein. Die Narben sollten nicht als Makel zu sehen sein.“

Was der Vater für seine Tochter noch alles hätte tun können, bleibt ungewiss. Solche Gedanken sind für Ulrike Harbig bis heute schmerzvoll. An einem Frühlingsabend 1944 überbrachte Heinz Lorenz, ihr Taufpate und Trainingskamerad ihres Vaters, der Mutter die Todesnachricht. Am 5. März 1944 starb der vierfache Weltrekordläufer bei Nowo-Archangelsk/Olchowez in der ukrainischen Region Kirowgrad. Der Oberfeldwebel war als Zugführer eines Fallschirmjäger-Regiments an den Frontkämpfen beteiligt. Er gilt als vermisst, ein Grab wurde bis heute nicht gefunden. „Seine Seele soll ruhen, wo sie will“, sagt Ulrike Harbig. „Das muss nicht dort sein, wo ein Kreuz steht. Ich würde sicher nicht hinfahren, wenn es eins gäbe. Für mich ist sein Geist da, man redet über ihn, sein Name ist präsent. Das ist doch nach so vielen Jahren erstaunlich und für mich schön.“

Ulrike Harbig hat in ihrer Wohnung in Gröditz die verbliebenen Erinnerungsstücke an ihren berühmten Vater aufbewahrt.
Ulrike Harbig hat in ihrer Wohnung in Gröditz die verbliebenen Erinnerungsstücke an ihren berühmten Vater aufbewahrt. © Ronald Bonß

Rudolf Harbig war freiwillig wieder an die Ostfront gegangen. Nach einer Verwundung galt er als freigestellt. „Aber er meinte, nichts Besonderes zu sein“, beschreibt Ulrike Harbig die Beweggründe ihres Vaters und versucht sie nachzuvollziehen. „Er glaubte offensichtlich: Wenn seine Kameraden den Kopf hinhalten, dann muss er das auch. Diese Kameradschaft adelt ihn über den Tod hinaus. Heute herrscht ein anderes Kameradschaftsgefühl. Es gibt auch in unserer heutigen Zeit ein Bedürfnis nach Zusammenhalt und eine Sehnsucht nach einem Zusammengehörigkeitsgefühl, was aber nicht mehr vergleichbar ist mit dem der damaligen Kriegszeiten.“

Rudolf Harbigs inzwischen verstorbene Schwester Ilse Büchner hatte 1990 bei einem Familienbesuch in Dresden erzählt, dass ihr Bruder nicht wieder an die Front gemusst hätte. „Aber seine Kameraden schrieben“, berichtete die Westberlinerin, „er solle sie nicht im Stich lassen. Rudi war in einer Zwickmühle. Er wollte nicht als Feigling dastehen und seine Pflicht tun, wie er dachte. Auch seine Gewissenhaftigkeit trieb ihn wieder zurück in den Krieg. Oft haben wir überlegt, was geworden wäre, wenn er damals nicht wieder losgezogen wäre. Rudi hatte einen guten Charakter.“

Als Harbigs Läuferkarriere gestoppt wurde, er die Einberufung erhalten hatte, muss ihn das hart getroffen haben. „Krieg? Wieso das?“, wird er in der Autobiografie „Unvergessener Rudolf Harbig“ zitiert. „Gestern noch bin ich gegen die Belgier gelaufen, am vorigen Sonntag war ich mit den Engländern zusammen, und nun auf einmal… Warum das alles?“ Das klingt nicht nach Kriegseuphorie.

"Er wurde benutzt wie jeder Sportler"

Doch es existiert auch ein Mitgliedsbuch der NSDAP von ihm. Mitgliedsnummer: 5878331. Aufnahmedatum: 1. Mai 1937. Das Original seiner NSDAP-Mitgliedskarte befindet sich im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, in dem die Bestände des ehemaligen Berlin Document Center lagern, das nach dem Zweiten Weltkrieg von den US-Amerikanern angelegt worden war. „Wenn das der Wahrheit entspricht, muss ich das wohl akzeptieren. Nachforschen möchte ich nicht. Aus meiner Oberschulzeit in den 1950er-Jahren in Ostberlin habe ich schon damals erfahren, dass ein Parteibuch nicht immer mit der dazugehörigen Gesinnung zu tun hat“, erzählt Ulrike Harbig und berichtet vom DDR-Alltag: „Meine Mutter kam immer heulend nach Hause, wenn wieder mal gesagt wurde, dass mein Vater ein Nazi gewesen sei.“

Und sie erinnert sich an Begegnungen mit Zeitzeugen: „Ich kann nur sagen, was andere über meinen Vater berichteten. Die alten Herren erzählten mir mehrmals, Rudi sei immer abgehauen, wenn er merkte, wenn er irgendwo etwas Politisches mitmachen sollte.“ Aber entziehen konnte er sich der Politik seiner Zeit nicht. „Er ist für Deutschland gelaufen“, sagt Ulrike Harbig und listet die Konsequenzen auf: „Er wurde im Endeffekt benutzt, wie jeder Sportler, der für sein Land antritt. Alle Regierungen der Welt schmücken sich dann gerne mit den Athleten und deren Erfolgen.“

Rudolf Harbig beim Training mit seiner Frau Gerda. Sie erhielt im Frühjahr 1944 die Nachricht vom Front-Tod ihres Mannes.
Rudolf Harbig beim Training mit seiner Frau Gerda. Sie erhielt im Frühjahr 1944 die Nachricht vom Front-Tod ihres Mannes. © Repro: Ronald Bonß

In alten Dokumenten oder Archiven wollte Ulrike Harbig nicht nach Antworten suchen. Sie möchte auch nicht wissen, ob die DDR-Staatssicherheit Akten über die Harbigs angelegt hatte. Ihre Begründung: „Ich bin nicht bereit, immer wieder alte Sachen auszugraben. Ich lebe jetzt und versuche mit meinem Wissen und mit meinen Erfahrungen ein friedvolles Miteinander-Sein zu leben und auch weiterzugeben.“

Aus dem Keller hatte Ulrike Harbig noch einen großen versilberten Bowle-Topf geholt. „Das ist ein Ehrenpreis der Stadt Dortmund vom 7. August 1938. Der hat den Krieg überlebt, aber nicht alle Trophäen, wie die bronzene Olympiamedaille von 1936“, erklärt Ulrike Harbig und meint, dass diese Medaille wohl zu den wertvollsten Dingen der Familie gehört hatte und leider im Dresdner Februar-Inferno von 1945 verbrannte. Alles, was den Krieg überdauert hatte, war 1941 und 1942 ins Erzgebirge nach Holzhau gebracht worden. Da gab es eine befreundete Großfamilie, wo der Vater in der Holzwirtschaft arbeitete, die Mutter nebenbei einen kleinen Bauernbetrieb führte. Geld gab es wenig, aber Platz für Wintergäste genug.

„Mein Vater durfte doch eigentlich keinen Wintersport machen“, schildert Ulrike Harbig die besonderen Umstände. „Sein Trainer Woldemar Gerschler hielt die Verletzungsgefahr beim Skifahren für zu groß. Doch mein Vater fuhr mit meiner Mutter mehrmals heimlich nach Holzhau zu der bekannten Familie, wo sie immer herzlich aufgenommen wurden. Oft saßen sie zum Abendessen in der großen Bauernküche um einen riesigen Tisch, wo in der Mitte eine Quarkschüssel und ein Topf dampfender Kartoffeln standen. Jeder bediente sich daraus. Das gefiel meinen Eltern. Eines der Kinder soll mal beim Essen zu meinem Vater gesagt haben: ,Du siehst aus wie der Rudi Harbig.‘ Die Wahrheit sorgte für große Heiterkeit und Stolz, musste aber ein Geheimnis bleiben, was den Kindern sehr schwerfiel.“

"Sie werden alles plattmachen"

Nicht alle Erinnerungsstücke waren in Holzhau gelandet. „Meine Mutter hatte in unserer Dresdner Wohnung noch vor dem Inferno eine große Kiste mit vielen Trophäen meines Vaters im Keller in der Fürstenstraße 40, der heutigen Fetscherstraße, gelagert“, erzählt Ulrike Harbig. „Sie glaubte, dass die Gegend in der Nähe des Großen Gartens sicher vor Luftangriffen sei. Schließlich gab es da keine Fabriken oder Bahntrassen, sondern nur Wohnhäuser. Das Wertvollste aus seinem Sportleben sollte dort vor der Zerstörung gerettet werden.“ Aber dieses Haus wurde bei den Bombardements am 13. Februar total zerstört, die Fürstenstraße zu einem Trümmerfeld.

Dabei wollte Gerda Harbig dieses Haus eigentlich nicht verlassen. Doch ein Wehrmachtsoffizier, Ulrike Harbigs Patenonkel, machte Druck. „Er hatte wohl die Warnung bekommen, dass Bomberverbände im Anflug sind“, erzählt die Harbig-Tochter von den dramatischsten Tagen ihres Lebens. „Er soll gesagt haben: ,Gerda, du musst hier raus. Die bombardieren Dresden. Sie werden alles plattmachen.‘ Aber meine Mutter wollte nicht gehen, ihr war alles egal. 

War sie doch inzwischen Witwe geworden und hatte als Erinnerung an ihren Mann noch ihr kleines Paradies, ihre Wohnung in der Fürstenstraße. Doch meine Mutter wurde von meinem Onkel Heinz wie aus einer Trance geholt. Er schüttelte sie und machte ihr deutlich, dass es jetzt um ihr und ihrer Tochter Leben geht. Wenn er nicht so hartnäckig gewesen wäre, würde ich heute nicht mehr leben.“

Ernst erzählt Ulrike Harbig, was sie immer wieder von ihrer Mutter gehört hatte: „Sie wollte während des Angriffs zu ihrer Mutter, von Striesen und Johannstadt auf die andere Elbseite in die Neustadt. Kurze Zeit hatte sie mich im Kinderwagen, dann auf dem Arm. Zu der körperlichen Anstrengung kam eine enorme Angst. Sie erzählte, dass sie gesehen hat, wie sich Menschen in die Elbe retten wollten, weil sie den Phosphor der Bomben abbekommen hatten. Es waren brennende Fackeln. Sie erlebte den Feuersturm, das Inferno, das Geschrei, durchlebte immer wieder Todesängste. Es muss furchtbar gewesen sein.“

Nach drei Tagen hatten sie es geschafft. „Wir waren bei meinen Großeltern angekommen in der Großenhainer Straße 65, das Eckhaus am Bahndamm steht heute noch schräg gegenüber der Pestalozzi-Schule, wo vier Jahre später die kleine Ulrike eingeschult wurde“, erzählt die Harbig-Tochter. „Meine Mutter konnte nach der Flucht vor dieser Hölle 1945 tagelang nichts mehr sehen, so geblendet war sie vom vielen Feuer und Rauch. Die ganze Familie fürchtete noch um ihr Augenlicht.“ Eigene Bilder der Erinnerungen an die Bombardierung hat sie nicht. Doch bei tief fliegenden Flugzeugen oder wenn mittwochs Sirenen angehen, dann spürt die Rentnerin heute noch eine spontane Gänsehaut.

Nach dem Krieg lebte Gerda Harbig mit ihrer Tochter zwei Jahre bei der befreundeten Familie in Holzhau. „Alles, was wir noch hatten, hat dort den Krieg überdauert“, sagt Ulrike Harbig voller Dankbarkeit. Die letzte Angehörige dieser Familie ist im vergangenen Jahr in der Nähe von Rosenheim gestorben.