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Mit dem Bäckerauto in Richtung Freiheit

Viele politische Häftlinge der DDR wurden von der BRD freigekauft. Darunter auch ein Thüringer, der in Zeithain einsaß.

Von Antje Steglich
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Ansicht auf das Gefängniss Chemnitz-Kaßberg. auch das gab es schon zu DDR-Zeiten. Während in Zeithain viele  Männer wegen versuchter Republikflucht einsaßen, war Kaßberg das Abschiebegefängnis der DDR sowie die Untersuchungshaftanstalt der Stasi.
Ansicht auf das Gefängniss Chemnitz-Kaßberg. auch das gab es schon zu DDR-Zeiten. Während in Zeithain viele Männer wegen versuchter Republikflucht einsaßen, war Kaßberg das Abschiebegefängnis der DDR sowie die Untersuchungshaftanstalt der Stasi. © Hendrik Schmidt / dpa

Zeithain. Vor seinem Versuch, aus der Deutschen Demokratischen Republik zu flüchten, sichert sich Gerrit Kröning ab. Es ist kein Geheimnis, dass der Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel Unterhändler der DDR beim sogenannten Häftlingsfreikauf ist. Und so fährt Gerrit Kröning am Morgen des 4. Februar 1988 zunächst zum Rat des Kreises in seiner Heimatstadt Saalfeld und steckt dort einen Brief an den Anwalt ein. Am Abend ist er mit zwei Freunden verabredet – gemeinsam wollen sie über die Grenze nach Bayern flüchten.

Die Flucht war überstürzt, sagt der 53-Jährige heute. Doch er ist unzufrieden mit der Mangelwirtschaft in der DDR, der Überwachung des Staates, der fehlenden Reisefreiheit. Und dem System unterordnen will er sich gleich gar nicht – für den Saalfelder ist ein berufliches Weiterkommen nahezu ausgeschlossen. Sechs Stunden irrt er deshalb mit seinen Freunden durch den verschneiten Wald Richtung Probstzella, Bayern.

 Doch noch am ersten Zaun übersehen die drei einen versteckten Draht. Signalraketen steigen in die Luft und verraten den Grenzsoldaten den Standort der Republik-Flüchtlinge. Gerrit Kröning kommt in Untersuchungshaft, wird in den kommenden Wochen beinahe täglich verhört.

 Am 5. April 1988 wird er schließlich vom Landgericht Saalfeld zu 16 Monaten Haft verurteilt und wird mit einem Zug der Deutschen Reichsbahn – dem Grotewohl-Express, benannt nach dem ersten Ministerpräsidenten der DDR Otto Grotewohl – in die Strafvollzugseinrichtung Zeithain gebracht. Sechs Monate wird er dort tatsächlich absitzen.

„Am 21. September 1988 hatte ich eigentlich Spätschicht im Stahlwerk. Doch nach der Zählung am Mittag im Knast hieß es von einem Polizist: ,SG Kröning bleibt im Objekt’. Da habe ich gewusst, was los ist.“ Über Nacht kommt der damals 23-Jährige in Extrahaft. Am nächsten Morgen wartet vor dem Gefängnis ein Bäckerwagen auf ihn. 

„Fünf Mann kamen jede Woche raus“, erzählt Gerrit Kröning, „jeden Donnerstag kam das Bäckerauto. ,Frische Backwaren aus Chemnitz’ stand da drauf. Drinnen waren Zellen eingebaut.“ Mit dem Bäckerauto geht es ins Gefängnis nach Chemnitz-Kaßberg. Die Haftanstalt ist die zentrale Durchgangsstation für freigekaufte DDR-Häftlinge. Zwischen 1962 und 1989 sind es mehr als 30 000, die dort ein paar Tage, manchmal auch ein paar Wochen lang mit Vitaminen und gutem Essen aufgepäppelt werden, bevor sie in Sammeltransporten nach Erfurt gebracht werden. 

„Dort stand ein Extra-Waggon für Häftlinge bereit“, erinnert sich Gerrit Kröning. Im öffentlichen Interzonenzug, so werden die Reiszüge zwischen beiden deutschen Staaten genannt, ist ein Waggon mit Stasibeamten in Zivilkleidung gesichert. „In dem sind wir zusammen mit Frauen aus dem Zuchthaus Hoheneck nach Gießen gefahren. Die MfS-Leute mit ihren weißen Hemden stiegen in Herleshausen aus, was uns sehr freute.“ Der erste Stopp in Freiheit wird in Bad Hersfeld eingelegt, „dort wurden wir mit Essen begrüßt.“ – 

Blick auf das Gefängnis Zeithain.
Blick auf das Gefängnis Zeithain. © Sebastian Schultz

Bei der Ankunft im Notaufnahmelager in Gießen hat Gerrit Kröning aber nicht viel mehr als zwei Reisetaschen dabei. Die sind bis oben hin voll mit John-Player-Zigarettendosen. „Bei Entlassung hätte ich 600 Mark ausgezahlt bekommen müssen, so hieß es in einer Vereinbarung zwischen Ost und West. Stattdessen bekam ich zwei Reisetasche voll mit Schmuggelzigaretten aus dem Westen im Wert von 600 Mark.“

In der Sammelunterkunft in Hessen – ähnlich einer Flüchtlingsunterkunft – bekommt er zur Begrüßung ein paar weiße Lederturnschuhe, einen Jogginganzug und 200 DM. Nach nur zwei Tagen beginnt er auch dank der Verwandtschaft sein neues Leben im Westen Deutschlands. – Jahre später kehrt er noch einmal nach Zeithain zurück, schaut sich die JVA von außen an.

Die Gefängnisakte sei verschwunden, heißt es. In seiner Stasi-Akte erfährt er von seiner „schlechten Arbeitseinstellung“ während der Haft. Die sechs Monate haben bei ihm Spuren hinterlassen, nicht nur körperlich. Noch heute steht er dem DDR-System kritisch gegenüber. Und dem Freikauf: „Das war ein richtiger Verkauf, Menschenhandel – anders kann man es nicht nennen.“

Tatsächlich werden in den 1980er-Jahren knapp die Hälfte aller politischen Häftlinge der DDR durch den Westen freigekauft, heißt es in der Veröffentlichung von Jan Philipp Wölbern „Der Häftlingsfreikauf aus der DDR 1962763-1989“.

Mehr als 15 600 Freikäufe werden allein in den 1980ern dokumentiert, zwischen 1964 und der Wende sind es insgesamt etwa 34 000. Der Preis pro Häftling beträgt laut einer Mitteilung der Bundesregierung anfangs durchschnittlich etwa 40 000 DM, später knapp 96 000 DM. Insgesamt stellt die DDR fast 3,5 Milliarden D-Mark in Rechnung. Die BRD zahlt mit Devisen, vor allem aber mit Waren: Kupfer, Erdöl oder Fahrzeuge.

>>> Weitere Teile der Serie: „Es gab nur Kohlsuppe und Tee“ / Von der Baracke zum modernsten Knast der DDR / Stumme Zeugen eines Haftlagers / Nachbarn in Riesa unter besonderer Beobachtung / „Überbelegung war typisch für den DDR-Strafvollzug“ / Das Haftlager mitten im Stahlwerk / Stahlwerk baut modernsten Knast der DDR / Häftlinge bekamen hundert Mark im Monat