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Corona-Krise: Wo darf ich jetzt noch hin?

Bewegung im Umfeld der Wohnung ist laut der Corona-Verordnung erlaubt. Juristen kritisieren den schwammigen Begriff.

Von Karin Schlottmann & Jörg Stock & Domokos Szabó
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Sport und Spiel sind derzeit nur eingeschränkt möglich. Die Polizei wirft ein wachsames Auge auf größere Gruppen.
Sport und Spiel sind derzeit nur eingeschränkt möglich. Die Polizei wirft ein wachsames Auge auf größere Gruppen. © Jürgen Lösel

In Corona-Zeiten gilt: Das Verlassen der eigenen Wohnung ohne triftigen Grund ist untersagt. Jeder Kontakt zu anderen Menschen soll auf ein Minimum reduziert werden. Das sächsische Sozialministerium hat in seiner Rechtsverordnung insgesamt 15 Ausnahmen von dem Ausgangsverbot aufgezählt. Es ist die Nummer 14, die vor allem mit Blick auf das Wochenende und die bevorstehenden Osterfeiertage für viel Diskussionsstoff sorgt. Sie erlaubt „Sport und Bewegung im Freien vorrangig im Umfeld des Wohnbereichs“. Was aber bedeutet „Umfeld“ in der Praxis? Die SZ erläutert die Details:

Wie weit dürfen sich Spaziergänger vom Wohnhaus entfernen?

Innenminister Roland Wöller (CDU) will sich nicht auf eine präzise Angabe festlegen. Er setze auf den „gesunden Menschenverstand“, erklärt er immer wieder während der Krisen-Pressekonferenzen. Die Behörden gingen mit Augenmaß vor. Die übergroße Mehrheit der Bürger halte sich an das Ausgangsverbot. Im Übrigen stehe es im Ermessen der Polizei, darüber zu entscheiden, ob sich Menschen zu weit von zu Hause entfernt haben oder nicht. Meistens seien die Betroffenen einsichtig, wenn sie von Beamten angesprochen werden.

Wie setzt die Polizei diese vage Vorschrift in der Praxis um?

Auch die Landespolizei lehnt eine genaue Definition ab. Die Polizeidirektionen führen in ihrem Zuständigkeitsbereich stichprobenartige Kontrollen durch, teilte Pascal Ziehm, Sprecher der sächsischen Polizei, auf SZ-Anfrage mit. „Im Fokus der polizeilichen Maßnahmen stehen in erster Linie verbotene Menschenansammlungen, die unbestritten ein besonders hohes Infektionsrisiko in sich bergen. Den weiteren Regeln tragen wir anlassbezogen Rechnung“. Die Polizei orientiere sich nicht an einer festen Kilometerbegrenzung, betont er. Jeder Fall werde einzeln beurteilt.

Wie kann der Einzelne sich in dieser unklaren Lage rechtstreu verhalten?

Die sächsische Rechtsverordnung ist in diesem Punkt tatsächlich schwammig formuliert. Wer Ärger vermeiden will, beschränkt sich auf einen kurzen Spaziergang im eigenen Wohnviertel oder geht in den nächstgelegenen fußläufig erreichbaren Park - falls es so etwas in der Nähe gibt. Mit dem Zug von Dresden aus zu einer Wanderung in das Erzgebirge zu fahren, ist derzeit nicht drin. Die beiden Männer, die vor wenigen Tagen bei einer solchen Tour erwischt wurden, mussten umgehend die Heimreise antreten, obwohl die Ansteckungsgefahr dort eher gering ist. Fahrradfahren ist erlaubt. Es dürfte aber der Ausnahmeregelung widersprechen, sich in Bautzen Räder auf das Auto zu schnallen und in die Sächsische Schweiz zu fahren.

Dürfen sich die Sachsen nur in ihrer Gemeinde aufhalten?

Der Pirnaer Landrat Michael Geisler (CDU) sagt, jeder dürfe sich in den Grenzen seiner Wohnsitzgemeinde bewegen, um mal an die frische Luft zu gehen. „Die Pirnaer können in Pirna unterwegs sein, die Freitaler in Freital, die Struppener in Struppen, aber nicht in der jeweils anderen Gemeinde“. Diese Auffassung ist in ihrer Absolutheit wohl nicht korrekt. Der Wortlaut der Verordnung spricht von dem „Umfeld“, kommunale Grenzen spielen in der Verordnung keine Rolle.  (zum Artikel)

Der Sprecher der Polizeiabteilung im Innenministerium sagt ebenfalls, dass die Bestimmungen nicht auf Landkreis- oder Stadtgrenzen bezogen sind. Das Sozialministerium teilt mit: „Wander- und Kletterausflüge im eigenen Landkreis sind als Sport und Bewegung im Freien durch die Sächsische Corona-Schutz-Verordnung nicht verboten.“ Im Falle „infektionsschutzrechtlicher Besonderheiten“ könne die örtlich zuständige Polizeibehörde strengere Regelungen erlassen, dies jedoch nicht generell, sondern im Einzelfall. Vonseiten der Regierung gebe es keine Regelung betreffend die Gemeindegrenzen, so wie sie der Landrat praktiziert.

Was ist der Grund für die schwammigen Formulierungen?

Die Regelung soll vermutlich vor allem die Menschen abschrecken, die üblichen Ausflugsziele in Massen zu bevölkern. Der große Ermessensspielraum gibt der Polizei Handlungsfreiheit, dies zu unterbinden. Die Landesregierung stehe bei diesem Thema vor einem Zielkonflikt, erläutert der Dresdner Rechtsanwalt Jürgen Rühmann. Je präziser sie sich auf einen Radius festlege, desto eher entstehe die Gefahr, neue Ungerechtigkeiten herbeizuführen. Von einer pauschalen Kilometerbegrenzung von beispielsweise fünf Kilometern profitieren nicht alle gleichermaßen. Für die einen ergäben sich viele Möglichkeiten für Ausflüge. Anderen wäre damit je nach Wohnlage gar nicht geholfen.

Außerdem ließe sich das größte Problem der Ordnungsbehörden, Menschenansammlungen zu verhindern, nicht lösen. Im Gegenteil: Touristische Hotspots wären an sonnigen Wochenenden voller Ausflügler. Rühmann, einst Präsident des Sächsischen Finanzgerichts sowie Vize-Präsident des Verfassungsgerichts, kritisiert bei allem Verständnis für die Nöte des Gesetzgebers die mangelnde Bestimmtheit der Verordnung. Der Bürger müsse angesichts der Bußgeldandrohung genau wissen, was erlaubt sei und was nicht. Die Behörden dürften seiner Auffassung nach deshalb nur extreme Verstöße gegen die Ausgangsbeschränkungen mit Bußgeld oder Strafanzeige ahnden.

Wie bewerten die Gerichte die ungenaue Wortwahl?

Juristen wie der Berliner Rechtsanwalt Niko Härting halten die sächsische Regelung wegen der mangelnden Bestimmtheit für rechtswidrig. Die sächsischen Verwaltungsgerichte Dresden, Chemnitz und Leipzig haben Eilanträge aber bisher abgelehnt. Allerdings hatten sich die Kläger in diesen Fällen gegen die Schließung von Gaststätten und Läden gewandt. Die Ausnahmen von der Ausgangssperre waren in Sachsen bisher noch nicht Gegenstand gerichtlicher Verfahren.

Bisher gibt es wohl auch noch keine Bußgeldbescheide. Die Justiz will zurückhaltend vorgehen, heißt es. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat die Ausgangsbeschränkungen bestätigt. Die Prüfung im Eilverfahren habe ergeben, dass die Einschränkungen angesichts der Bedrohungslage durch das Coronavirus gerechtfertigt seien. Eine endgültige Klärung wird es wohl erst geben, wenn sich das Bundesverfassungsgericht eines Tages der Sache angenommen haben wird.

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