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Was ist aus dem vereinigten Land geworden?

„30 Jahre Mauerfall – 30 Jahre Wir“: Heute startet die große Serie zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution.

Von Oliver Reinhard
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© Jürgen Lottenburger (Symbolbild)

Hätten Sie’s gedacht? Hätten Sie sich vor fünf Jahren vorstellen können, dass wir 2019 dem 30-jährigen Jubiläum von Friedlicher Revolution und Mauerfall noch einmal so große Aufmerksamkeit schenken würden? Und es derart viele Artikel, Sendungen, Bücher, Debatten dazu geben würde wie dieser Tage?

Zugegeben: ich nicht. Vielmehr hatte ich wie so viele den Eindruck, dass über den Wendeherbst 1989 längst alles Wesentliche gesagt, geschrieben und gesendet worden sei. Dass die offiziellen Feierlichkeiten und Verlautbarungen endgültig zu einer pflichtschuldigen

Erinnerungsroutine geronnen wären. Dass wir des Mauerfalldatums vor allem deshalb gedenken, weil es nun mal für ein bedeutendes historisches Ereignis steht, sogar das bedeutendste positive Ereignis der deutschen Geschichte überhaupt, und sich das mit dem Gedenken gefälligst so gehört.

Doch ich fürchte, viele Deutsche erinnern sich an jenen Tag nicht deshalb, weil sie dieses immense Glück, das der Mauerfall für uns bedeutet hat und immer bedeuten wird, auch heute noch im Herzen als Glück empfinden.

Ost und West haben sich schon mal verbundener gefühlt

Aber Pusteblume: So viel 9. November wie in diesen Wochen, eine derartige mediale Aufmerksamkeit und intensive Diskussion, war lange nicht. Statt erstarrten Ritualen und öffentlichem Desinteresse sehe und höre ich überall leidenschaftliches Reden, Debattieren, Streiten. Nicht, weil sich der 9. November verändert hätte. Sondern weil sich die Gesellschaft verändert hat. Weil wir uns verändert haben. Ja: in manchen Dingen zum weniger Guten.

Unser Umgangston ist oft rauer und aggressiver geworden. Viele Menschen lassen sich von den real existierenden Problemen in die Radikalität treiben, in den Extremismus. Und spätestens seit der Bundestagswahl 2017 teilen wir uns wieder häufiger ein in „wir im Osten“ und „die im Westen“. Und umgekehrt. Obwohl allen klar ist, dass wir die gesellschaftlichen Herausforderungen nur gemeinsam schultern können, belegen es alle Umfragen: Wir haben uns einander schon deutlich näher gefühlt.

Das kann man als Unglück betrachten. Oder als Unglück und Chance zugleich. Als Chance, weil der 9. November 1989 nicht länger ein von der westdeutschen Perspektive dominierter Gedenktag mit ostdeutscher Nebenbeteiligung ist, auch durch die benannten Veränderungen. Weil sich Ostdeutsche inzwischen stärker zu Wort melden, ihre Geschichten erzählen, ihren Versionen der Geschichte zunehmend Raum erkämpfen. Weil sie ihr Mitbestimmungsrecht an der Deutungshoheit lautstarker einfordern. Weil eine allmählich wachsende Zahl von „Wessis“ den „Ossis“ auch zuhört. Und umgekehrt.

Wie geht es uns heute miteinander?

Sogar in der Politik, nein: besonders dort und in den überregionalen Medien mehren sich die Köpfe und Stimmen gerade jüngerer Ostdeutscher und damit auch ihr Einfluss. Seit fast 30 Jahren wurde nicht mehr so viel – und mittlerweile auch so vielfältig – über die Regionen von Zingst bis Zwickau berichtet wie heute. Da ist so einiges in Bewegung geraten. Endlich.

Ehrlich gesagt: Auch wir bei der Sächsischen Zeitung und sächsische.de hätten noch 2014 nicht gedacht, dass wir zur 30-jährigen Wiederkehr des Mauerfalltages unser bislang umfassendstes kombiniertes Zeitungs- und Online-Projekt stemmen würden. Schon heute startet es. Unter der Rubrik „30 Jahre Wiedervereinigung, 30 Jahre Wir“ veröffentlichen wir bis zum 9. November über 100 Artikel, Porträts, Essays, Reportagen, Dutzende Videos und führen Veranstaltungen durch.

Die übliche Rückschau auf Schabowskis Zettelchaos & Co. soll dabei nicht im Zentrum stehen. Wir fragen lieber: Wie geht es uns heute miteinander? Wie leben wir, was beschäftigt uns? Was ist besser geworden, was nicht? Welche Hoffnungen hegen wir? Und in unseren täglichen Video-Interviews: Fühlen Sie sich eher als Ostdeutscher oder als Deutscher? Warum?

Auf manches bin ich besonders gespannt. Etwa auf die Porträts von West-Rückkehrern. Auf Texte über Macher, die ihre Betriebe durch die Nachwendewirren gebracht haben. Den Bericht des Ex-Stasi-Offiziers, der heute Stasi-Opfern hilft. Und natürlich auf die Reaktionen unserer Leser und User. Ich wünsche uns aufregende Wochen miteinander.


30 Jahre Wir

Mehr Beiträge und Videos zum Thema finden Sie in unserer Themenwelt „30 Jahre Wiedervereinigung – 30 Jahre Wir“ 

Wie haben Sie die letzten 30 Jahre erlebt? Erzählen Sie es: Wir laden ein, am 30.10. um 20 Uhr ins Haus der Presse. Interessierte mailen bitte mit dem Betreff „Erzählsalon“ an [email protected]

Am 9.11. feiern wir eine Ost-West-Party im Dresdner Parkhotel mit Musik, Mode, Kulinarik aus den 80ern samt Mauerfall. Weitere Informationen finden Sie hier.