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Kommentar zum Umfragehoch der AfD: Wähler wissen, was sie tun

Ob Ampel-Frust oder bröckelnde Brandmauern: Der Streit darüber, wer für den Erfolg der AfD verantwortlich ist, führt oft in die Irre. Ein Kommentar.

Von Marcus Thielking
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Die AfD ist kein aufgeblasener Luftballon, sondern ihre Wähler meinen es ernst, meint Sächsische.de-Redakteur Marcus Thielking.
Die AfD ist kein aufgeblasener Luftballon, sondern ihre Wähler meinen es ernst, meint Sächsische.de-Redakteur Marcus Thielking. © dpa-Zentralbild

Gegenseitige Schuldzuweisungen gehören zur Demokratie wie die Trainerdiskussion zum Fußball. Doch die Liste der Schuldigen in der AfD-Frage erreicht nach den jüngsten Umfragehochs mittlerweile ein wirklich beeindruckendes Ausmaß. Es stellt sich die Frage, ob es in diesem Land überhaupt noch Unschuldige gibt. Fassen wir mal kurz zusammen, wer alles dafür verantwortlich ist, dass die AfD in Umfragen derzeit bei 20 Prozent liegt, in Sachsen zuletzt sogar bei 35 Prozent.

Zunächst ist die Ampel schuld, wegen ihrer verkorksten Flüchtlings- und Energiepolitik. Schuld sind namentlich die Grünen, weil diese Leute alles verbieten wollen, was Spaß macht. Das Gendern ist schuld, denn „mit jeder gegenderten Nachrichtensendung gehen ein paar Hundert Stimmen mehr zur AfD“ (Friedrich Merz).

Friedrich Merz ist schuld, weil die Brandmauer bröckelt. Angela Merkel ist schuld, weil sie die Flüchtlinge reingeholt hat. Gerhard Schröder ist schuld, wegen Hartz IV. Helmut Kohl ist schuld, weil die „blühenden Landschaften“ nicht kamen. Der Westen ist schuld, weil er den Osten nicht ernst nimmt. Der Osten ist schuld, weil die Menschen hier Demokratie nicht kapieren. Olaf Scholz ist schuld, weil er Olaf Scholz ist.

Michael Kretschmer ist schuld, weil er ständig den anderen die Schuld gibt. Die Medien sind schuld, weil sie zu viel über die AfD berichten. Oder zu wenig. Oder zu kritisch. Oder zu unkritisch. Oder alles zugleich.

AfD-Wähler als Opfer von Populisten?

Wenn man das zusammenzählt, darf man sich schon wundern, warum die AfD nicht längst die absolute Mehrheit hat. Wer übrigens überhaupt nicht schuld ist am derzeitigen Höhenflug der AfD, sind all die Leute, die bei Wahlen oder Umfragen ihr Kreuz bei dieser Partei machen.

Diese Menschen können nichts dafür. Sie handeln „aus Verzweiflung“, wie die Noch-Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht kürzlich in einem Interview erklärte. Auch andere Parteien hüten sich davor, Wähler zu kritisieren. Man will sie schließlich „zurückholen“. Millionen Deutsche wären demnach willfährige Opfer von Populisten-Propaganda, zu dumm und naiv, um zu erkennen, wem sie da ihre Stimme geben.

Diese Sicht auf AfD-Wähler ist ziemlich arrogant. Unsere parlamentarische Demokratie basiert auf der Annahme, dass erwachsene und mündige Bürger bei jeder Wahl eine bewusste Entscheidung treffen. Warum soll das für AfD-Wähler nicht gelten? „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“, und zwar durch Wahlen und Abstimmungen, so steht es im Grundgesetz. Jeder Bürger und jede Bürgerin hat das Recht zu wählen – und damit zugleich eine Verantwortung.

„Schuld“ an Wahlergebnissen ist deshalb zuallererst der Souverän: das Wahlvolk. Wenn wir unterstellen, dieses Wahlvolk sei von vornherein manipuliert, geblendet, getäuscht und unzurechnungsfähig, dann wäre die AfD noch das geringste Problem für die Demokratie.

Jeder kann wissen, wie die AfD tickt

Nehmen wir AfD-Wähler also ausnahmsweise mal ernst, als urteilsfähige Menschen, die bei klarem Verstand sind und ganz genau wissen, was sie tun. Dann wissen sie selbstverständlich auch, dass sie für eine Partei votieren, die Hetze gegen Flüchtlinge und Ausländer schürt, dem Kriegstreiber und Autokraten Putin ganz unverhohlen huldigt, die Verbrechen des Nationalsozialismus verharmlost und die Europäische Union „sterben“ lassen will, also jene Ordnung, die Deutschland über Jahrzehnte Frieden und Wohlstand gebracht hat.

Um zu wissen, wie diese Partei tickt, braucht man noch nicht mal den Verfassungsschutz zu fragen. Es reicht ein Blick auf die Facebook-Seite der AfD, wo es vor allem zwei beliebte Foto-Motive gibt: bedrohlich wirkende Menschengruppen mit dunkler Hautfarbe – und immer wieder ganz viele Jumbojets. Zur Abschiebung.

Wenn 20 oder 30 oder mehr Prozent der Menschen diese Partei wählen, dann bedeutet das bis zum Beweis des Gegenteils, dass sie deren radikal rechte, völkische und nationalistische Position akzeptieren. Diese Annahme deckt sich mit verschiedenen Erhebungen, die in den letzten Jahren gezeigt haben: Autoritäres, fremdenfeindliches Gedankengut ist in der Mitte unserer Gesellschaft weit verbreitet.

In der Leipziger Autoritarismus-Studie 2022 pflichteten viele Befragte folgenden Aussagen bei: „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ (14,5 Prozent Zustimmung). „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet“ (26 Prozent Zustimmung). Diese Werte gelten bundesweit. Ein Blick ins Ausland bestätigt, dass Rechtspopulisten in westlichen Demokratien ein hohes Wählerpotenzial haben.

Zu einer ehrlichen Debatte gehört die Einsicht, dass die AfD kein aufgeblasener Luftballon ist. Diese Partei meint es ernst, und ihre Wähler meinen es ernst. Wer es ernst meint mit der Demokratie, sollte sich dieser bitteren Wahrheit stellen. Ein allzu verständnisvoller und kritikloser Umgang mit vermeintlich verirrten „Protestwählern“ mag gut gemeint sein, führt aber in die Irre. Was ist die Alternative? Ein Anfang wäre es, weniger auf Umfragen zu starren und nicht ständig mit dem Finger auf andere zu zeigen, sondern mehr für die eigenen Überzeugungen einzutreten und sich für diese zu engagieren. Da wäre jeder Nationaltrainer froh.

E-Mail an Marcus Thielking