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Wandern zwischen heiligen Bäumen

In Sachsen gibt es 347 geschützte Natura-2000-Gebiete – viele kaum bekannt. Hier geht es um den Eibenwald von Schlottwitz, wo die Natur sich selbst überlassen ist.

Von Christina Wittig-Tausch
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Ein beeindruckendes Wesen ist die tausendjährige Eibe am Müglitzhang bei Schlottwitz. In Wirklichkeit ist sie wohl etwas jünger.
Ein beeindruckendes Wesen ist die tausendjährige Eibe am Müglitzhang bei Schlottwitz. In Wirklichkeit ist sie wohl etwas jünger. © Jürgen Lösel

Es duftet intensiv nach Kiefern. Manchmal erhebt sich ein Wind, treibt die Wolken über den Himmel und lässt die Laubbäume leise rascheln. Ein Kröten-Kind hüpft über den steilen Wanderweg, der sich vom Örtchen Schlottwitz bei Glashütte in die Höhe schraubt. Ein Rotmilan kreist über dem Müglitztal. Ha, ist das etwa ein Steinpilz, und daneben noch einer? Wie gemalt schwebt der eine über einem Bett aus Moos, am anderen labt sich gerade eine Schnecke. Friedemann Klenke, Mitarbeiter im Sächsischen Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie, guckt, lächelt. „Ja, das sind Sommer-Steinpilze“, sagt er. Die ersten Boten der Pilzsaison und essbar wie ihre Kollegen, die Gemeinen Steinpilze. Aber wir erwandern den etwas über 400 Meter hohen Lederberg nicht, um Pilze zu sammeln. Sondern um ganz andere Schätze zu erkunden: Die tausendjährige Eibe und den Eibenwald von Schlottwitz.

Er ist der größte naturbelassene Wald dieser Art in Sachsen. In Liebstadt gibt es noch einen kleineren Bestand, sonst nirgends. „Und auch im Rest der Bundesrepublik sind solche intakten, natürlich gewachsenen Eibenwälder selten“, sagt Klenke, der im Landesamt zuständig ist für Flächennaturschutz und Landschaftsökologie. Es ist ihm wichtig, den Naturschutzgebieten in Sachsen Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu verschaffen, auch den kleineren, weniger bekannten.

Seit 2007 führt er in ganz Sachsen, zumindest außerhalb von Corona-Zeiten, zweimal jährlich Exkursionen unter dem Titel „Tafelsilber der Natur“ durch, zusammen mit Kennern und Kennerinnen des jeweiligen Gebiets. Der Müglitzhang ist für ihn so ein typisches Stückchen Tafelsilber.

Durchstreift nicht nur beruflich Sachsens Naturschutzgebiete: Friedemann Klenke vom Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie.
Durchstreift nicht nur beruflich Sachsens Naturschutzgebiete: Friedemann Klenke vom Landesamt für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie. © Jürgen Lösel

Die tausendjährige Eibe ist von Schlottwitz aus, wenn man gut zu Fuß ist, schnell erreicht. Gerade war der Laubwald am Hang noch recht hell, aber die Eibe erzeugt mit ihren reich verzweigten Geäst und den dunkelgrünen Nadeln ein diffuses, eigentümliches Licht. Die Wurzeln bilden zahllose Ausläufer, kriechen und schlängeln sich über den steinigen Untergrund, um plötzlich in den Klüften und Spalten des Gneis-Gesteins zu verschwinden, auf der Suche nach Wasser. Doch, man spürt: Dies ist ein uraltes Wesen, das mit kargen Verhältnissen ringt. Die extrem schattenverträglichen Eiben treiben immer wieder aus und können sehr alt werden, angeblich bis zu 2000 Jahren. Kein Wunder, dass die Eiben bei den Kelten als heilig galten, obwohl bis auf die roten, beerenartigen Hüllen der Samen alles an der Eibe giftig für Menschen und manche Tiere ist. Reiter und Kutscher rissen häufig die Eiben entlang ihrer Reiserouten aus, um zu verhindern, dass ihre Pferde von den Eiben fressen.

In die Lebenszeit der Schlottwitzer Eibe fallen viele große und kleine Ereignisse und Katastrophen. Ein Gedenkstein und Infotafeln beim Wanderparkplatz am Fuße des Lederbergs erinnern an die auch für Schlottwitz verheerende Flut des Jahres 2002. Traurige, zweifelnde Menschen hat die Eibe wohl vorübergehen sehen, aber immer auch hoffnungsfrohe, lachende Menschen. Allerdings nicht im Laufe von tausend Jahren. „Die Eibe ist vermutlich 500 bis 600 Jahre alt“, sagt Klenke.

Verschiedene Wege führen von Schlottwitz aus über den Müglitzhang, aber oft sind sie steil und steinig. Kinderwagen haben es hier eher schwer.
Verschiedene Wege führen von Schlottwitz aus über den Müglitzhang, aber oft sind sie steil und steinig. Kinderwagen haben es hier eher schwer. © Jürgen Lösel

Das Alter ist geschätzt, denn ältere Eiben haben in der Mitte des Stammes oft keine Jahresringe mehr und lassen sich schwer bestimmen. Ihr Holz ist frei von Harz und sehr hart. Der äußere Bereich des Holzes ist hell gefärbt, das Kernholz rötlich. Der Übergang zwischen dem roten und dem weißen Holz sorgt für eine Biegsamkeit und ist der Grund, warum Eiben Geschichte schrieben. Gletschermumie Ötzi hatte einen Bogen aus Eibenholz bei sich. Römer und Germanen produzierten Waffen daraus, ebenso im Mittelalter die Engländer. Für ihre Langbögen und ihre vielen Kriege brauchten sie Eibenholz und kauften es in ganz Europa. Unaufhaltsam schrumpften die Bestände der nicht sehr schnell wachsenden Nadelbäume. Ab dem 16. Jahrhundert kamen die ersten Schusswaffen zum Einsatz. „Dabei waren sie zu Beginn nicht besonders treffsicher. Aber das Eibenholz als Rohstoff war einfach nicht mehr ausreichend vorhanden“, sagt Friedemann Klenke.

Er sitzt jetzt auf einer Bank und blickt über das Müglitztal. Solche Aussichts- und Ruhepunkte gibt es dank des Schlottwitzer Heimatvereins viele auf dem Lederberg. Je höher man kommt auf dem gut gepflegten, aber oft steinigen und nicht unbedingt Kinderwagen- oder Rollatorfreundlichen Weg, desto leiser werden die Geräusche der Autos und Rasenmäher aus dem Tal. Immer weiter schweift der Blick über das Osterzgebirge, bis hin zum Geisingberg.

Vorboten der Pilzsaison: Zwischen Moos und zierlichen Gräsern ragen entlang der Wege am Müglitzhang Sommer-Steinpilze empor.
Vorboten der Pilzsaison: Zwischen Moos und zierlichen Gräsern ragen entlang der Wege am Müglitzhang Sommer-Steinpilze empor. © Jürgen Lösel

Der Müglitzhang bei Schlottwitz ist ein Kleinod, das gleich mehrfach geschützt ist: Seit 1974 ist er Naturschutzgebiet und seit einigen Jahren zudem Bestandteil des europäischen Naturschutz-Netzwerks „Natura 2000“. Dieses gerade mal rund 20 Jahre alte Netz umfasst in Sachsen 77 Vogelschutzgebiete und 270 sogenannte Flora-Fauna-Habitat-Gebiete. Dort stehen bestimmte Pflanzen- und Tierarten unter Schutz, außerdem Lebensräume wie Heiden, Dünen oder Mähwiesen.

Das Netz ist vielfältig. Kleine Moore oder Teiche gehören ebenso dazu wie die Freiberger Schwermetallhalden, die Hochlagen des Zittauer Gebirges, der Barockgarten Großsedlitz bis hin zu Bergbaufolgelandschaften oder Truppenübungsplätzen. Aber nur in wenigen Fällen hat dieses Netz eine öffentliche Strahlkraft erreicht wie etwa der Nationalpark Sächsische Schweiz oder das Biosphärenreservat in der Oberlausitz. Das soll sich ändern, befand die Europäische Union, und dringt auf bessere Öffentlichkeitsarbeit für möglichst viele Natura 2000-Gebiete.

Der Müglitzhang bei Schlottwitz ist kein großes Naturschutzgebiet, bietet aber viele Rastplätze und weite Blicke ins Osterzgebirge.
Der Müglitzhang bei Schlottwitz ist kein großes Naturschutzgebiet, bietet aber viele Rastplätze und weite Blicke ins Osterzgebirge. © Jürgen Lösel

Keine einfache Aufgabe. Natura 2000 ist weit verzweigt, was die Fläche betrifft, nicht aber das Personal. Es arbeitet mit Begriffen und Abkürzungen, die für Laien oft sperrig sind. Die Vogelschutzgebiete heißen beispielsweise „SPA“, die Flora-Fauna-Habitate „FFH“. Manche sind deckungsgleich mit den schon wesentlich länger bestehenden Landschaftsschutz- oder Naturschutzgebieten, den Naturparks oder Nationalparks. Andere sind neu entstanden. Der Naturschutz in Deutschland ist also ein nicht ganz unkompliziertes Geflecht, das auf verschiedene Weise schützt und verwaltet. Bei Natura 2000 geschieht dies europaweit mit Hilfe von Managementplänen und regelmäßiger Begutachtung der Artenentwicklung. Verpflichtende Schutzmaßnahmen gibt es kaum, eher setzt man auf Freiwilligkeit. Vielfach helfen ehrenamtliche Naturschützer bei der Betreuung, für die in Sachsen das Landesamt und die Landratsämter zuständig sind.

Weiter geht es auf dem steilen Weg am Lederberg, der möglicherweise so heißt, weil die Schlottwitzer einst Stoffe aus der Rinde der vielen Eichen nutzten, um Leder zu gerben. Ständig verändert sich der Charakter des Bewuchses: In den Einkerbungen des felsigen Hanges sammelt sich mehr Feuchtigkeit als an anderen Stellen, und so gedeihen Linden, Ahorn und Maiglöckchen. Auf den trockenen Stellen des nachmittags stark besonnten Hangs dominieren Kiefern, Birken und Heidesträucher, flankiert von klippenartigen Felsen. Dazwischen taucht man ein in den schattigen, etwa 300 Bäume unterschiedlichen Alters umfassenden Eibenwald.

Und plötzlich erstreckt sich am Hang ein Feld aus Geröll. Vereinzelt stehen ein paar kleine Eichen. Alpin wirkt die Szenerie, fast mediterran. Sind das Überreste eines alten Steinbruchs? „Nein, das ist eine weitere Besonderheit des Gebiets“, sagt Friedemann Klenke. Bei den offenen und sehr spärlich bewachsenen Flächen handelt es sich um Blockhalden. Sie entstehen durch die Zersetzung der Felsen auf natürliche Weise. Eigentlich sind sie typisch für Hochgebirge. In Sachsen findet man sie gelegentlich im Erzgebirge und im Oberlausitzer Bergland, aber eben auch in den Tälern der Mittelgebirge. Blockhalden sind, je nach Gesteinsart, ein Eldorado für Moose und Flechten. Im Müglitztal gedeiht die seltene Mehlige Felsschlüsselflechte. Friedemann Klenke mag die Nabelflechten, die an kleine Ohren erinnern.

Zwischen den Steinen und Flechtenteppichen ragt ganz zart ein Acker-Hohlzahn mit seinen tief eingekerbten Blättchen und den rosa Blüten empor, die kleine Zähne ausstülpen. Zierlich sind etliche der Gewächse des Schlottwitzer Müglitzhangs. Auch die Bäume sind nicht allzu mächtig wegen der kargen Bodenverhältnisse, aber dennoch über 100 Jahre alt und voller Leben: In abblätternden Rinden nisten Käfer, in den Baumlöchern wohnen Spechte oder Fledermäuse. Der Müglitzhang beherbergt eines der größten Vorkommen der Kleinen Hufeisennase in Sachsen.

Der Panoramablick über die Sächsische Schweiz.
Der Panoramablick über die Sächsische Schweiz. © Jürgen Lösel

Manche der Bäume haben kahle Äste oder sind bereits abgestorben. Vermutlich eine Folge des Klimawandels und der anhaltenden Trockenheit in den vergangenen Jahren. Weggeräumt werden sie nur, wenn sie die Sicherheit der Wanderwege beeinträchtigen. Der Steilhang ist nichts für moderne Erntemaschinen. Seit Jahren wird der Wald nicht mehr bewirtschaftet und nicht aufgeforstet. So verwandelt er sich allmählich in einen Naturwald.

Im Jahr 2007 beschloss der Bund im Rahmen der Nationalen Diversitätsstrategie, dass fünf Prozent des Waldes und zehn Prozent im Staatswald in solche „dauerhaft nutzungsfreien Naturwälder“ umgewandelt werden müssen. Auch am Müglitzhang bei Schlottwitz findet dieses Experiment statt. Spannend sei das, meint Friedemann Klenke, „weil die Natur eine eigene, faszinierende Dynamik hat, bei der man nicht genau weiß, wohin sie führt. Den Urwald des frühen Mittelalters werden wir an diesen Stellen nicht mehr zurückbekommen. Aber möglicherweise einen Wald, den wir uns wünschen. Einen gesunden, gemischten Wald, der mit dem Klimawandel zurechtkommt.“ Ungefähr so, wie man ihn heute im Bayerischen Wald erleben kann. Dort breitete sich der Borkenkäfer schon vor rund vierzig Jahren aus, und nach vielen Diskussionen hatte man sich entschieden, den Wald sich weitgehend selbst zu überlassen.

Ein wenig wie in den Alpen: Am Lederberg finden sich viele natürliche Halden. Dort leben Eidechsen und zarte Pflänzchen wie der Acker-Hohlzahn.
Ein wenig wie in den Alpen: Am Lederberg finden sich viele natürliche Halden. Dort leben Eidechsen und zarte Pflänzchen wie der Acker-Hohlzahn. © Jürgen Lösel

Bange vor dem Klimawandel ist Friedemann Klenke nicht. „Die Natur findet den rechten Weg“, ist er überzeugt. Am Müglitzhang wachsen hier und da kleine Exemplare der Eberesche, die trockene Böden tolerieren. „Vielleicht ist das die Zukunft“, meint er. Und auch für den Eibenwald ist er optimistisch: „Je älter die Eiben, desto besser kommen sie mit Trockenheit zurecht.“

Inzwischen sind wir auf der Spitze des Lederbergs angekommen. Auch hier warten Bänke und schöne Aussichtspunkte, die den Blick eröffnen in alle Richtungen. Aus dem Dunst schälen sich die Umrisse der Sächsischen Schweiz. Lilienstein, Königstein, Pfaffenstein. Fast völlig still ist es hier oben. Nur der kreisende Rotmilan sendet seine pfeifenden, langgezogenen Rufe über das hügelige Land.